Das Getöse des einstürzenden Gerüsts war bis zum Weinberg hinauf zu hören. Mandred kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen das helle Morgenlicht. Die fremden Krieger hängten etwas an die Eiche vor dem Tempelplatz. Die Entfernung war zu groß, um genauer zu sehen, was dort vor sich ging.
»Wir müssen in die Stadt«, sagte Mandred mit Nachdruck.
»Nein!«, wiederholte Ollowain zum dritten Mal. »Wissen wir, was dort vor sich geht? Wahrscheinlich haben sich Nuramon und Farodin irgendwo versteckt und warten, bis diese Mordbrenner verschwinden.«
»_Wahrscheinlich_ ist mir nicht genug!« Mandred schwang sich in den Sattel. »Anscheinend hat das Wort _Freund_ in der Sprache der Elfen eine andere Bedeutung als bei uns Menschen«, fügte er hinzu. »Ich jedenfalls werde nicht länger tatenlos hier herumsitzen. Was ist mit euch?« Er blickte zu Oleif und den beiden Kämpferinnen. Von den Elfenfrauen erwartete er nicht viel. Sie waren ganz auf Ollowain eingeschworen. Aber sein Sohn … Drei Jahre waren sie nun miteinander geritten. Hatte er ihm in all der Zeit nicht wenigstens ein Gefühl für Ehre beibringen können? Natürlich wusste Mandred, dass er allein nichts ausrichten konnte, ja, dass sie selbst zu fünft kaum gegen die Übermacht bestehen würden. Doch einfach hier zu warten und zu hoffen, dass ihre Freunde noch mal davonkamen, das war nicht die Art, wie sich ein Mann verhalten sollte.
Oleif blickte fragend zu Ollowain. Sein Sohn schien überrascht vom Verhalten des Schwertmeisters.
»Ihr habt alle gesehen, dass nahezu hundert Mann im Morgengrauen über die Brücke geritten sind«, sagte Ollowain.
Mandred strich über den Schaft der Axt, die von seinem Sattelhorn hing. »Das verspricht ein spannender Kampf zu werden. So wie ich das sehe, herrschen beinahe ausgeglichene Verhältnisse.« Er zog die Zügel herum und lenkte sein Pferd auf den schmalen Pfad, der den Weinberg hinab zum Tal führte.
Als er die Straße zur Stadt erreichte, hörte er hinter sich Hufschlag. Er drehte sich nicht um, doch Stolz erfüllte sein Herz. Dieses eine Mal hatte Oleif nicht wie ein Elf gehandelt.
Stumm ritten sie nebeneinander. Ihr Schweigen sagte mehr, als Worte es vermocht hätten.
An der Brücke hatten fünf Krieger Posten bezogen. Mandred sah, wie einer der Männer eine Armbrust spannte. Ein bulliger Kerl mit rasiertem Schädel verstellte ihnen den Weg. Er zielte mit der Spitze eines Speers auf Mandreds Brust.
»Im Namen des Königs, kehrt um. Diese Brücke ist gesperrt.«
Mandred lächelte gewinnend und beugte sich vor. Seine Rechte glitt in die Lederschlaufe, mit der die Axt am Sattel aufgehängt war. »Dringende Geschäfte führen mich nach Aniscans. Mach bitte den Weg frei, mein Freund.«
»Verschwinde hier, oder ich schlitz dir den Bauch auf und häng dich an deinen eigenen Gedärmen in den nächsten Baum.« Der Speer des Wächters zuckte vor und war nur noch wenige Fingerbreit von Mandreds Kehle entfernt.
Mandreds Axt schnellte hoch und zersplitterte den Schaft der Waffe. Ein Rückhandhieb zerschmetterte dem Wächter den Schädel.
Der Jarl duckte sich tief über den Nacken des Pferdes, um für den Armbrustschützen ein schlechteres Ziel zu bieten. Oleif war aus dem Sattel gesprungen und wütete unter den überraschten Wächtern. Er unterlief ihre Speere und ließ sein Langschwert in tödlichen Kreisen wirbeln. Weder Schilde noch Kettenhemden vermochten dem Elfenstahl zu widerstehen. Es dauerte nur Augenblicke, und die fünf Krieger lagen am Boden.
Die Brücke war jetzt frei. Anscheinend waren sie vom anderen Ufer nicht beobachtet worden. Mandred schwang sich aus dem Sattel und kniete neben dem Armbrustschützen nieder. Der Mann war nicht mehr bei Bewusstsein. Ein Pferdetritt hatte sein Gesicht in eine blutige Masse verwandelt. Mandred zog ein Messer aus seinem Gürtel und schnitt ihm die Kehle durch. Dann durchsuchte er den Toten. Er fand eine dünne Lederbörse mit ein paar Kupferstücken und einem dunkel angelaufenen Silberring.
»Das ist nicht wahr, Vater!«
Mandred blickte kurz zu seinem Sohn auf und ging dann zu dem Kahlkopf, der damit gedroht hatte, ihn an den Gedärmen aufzuhängen. »Stört dich etwas?«, fragte Mandred und tastete die Kleider des korpulenten Mannes nach versteckten Münzen ab.
»Du bestiehlst Tote! Das ist … widerlich! Unmoralisch!«
Mandred drehte den Anführer der Wachen zur Seite. Er hatte große, fleischige Ohren und trug einen einzelnen Ohrring mit einer hübschen Perle. Mit einem Ruck riss der Jarl den Ohrring ab. »Unmoralisch?« Er hielt die Perle gegen das Licht. Sie war so groß wie eine Erbse und schimmerte rosa. »Unmoralisch wäre es vielleicht, Lebende zu bestehlen. Denen hier tut es nicht mehr weh, wenn ich sie um ihre Barschaft erleichtere. Wenn ich es nicht täte, dann würden es ihre eigenen Kameraden tun.«
»Sprich nicht von Kameraden! Im Augenblick scheint es dir ja herzlich egal zu sein, ob deine so genannten Freunde um ihr Leben kämpfen. Ollowain hatte Recht!«
Mandred ging zum nächsten Toten. »Würdest du das andere Ufer im Auge behalten, während du predigst, Sohn? Du würdest dich sicher gut mit Guillaume verstehen. Und womit hatte Ollowain Recht?«
»Er sagte, du wärst wie ein Tier, das allein nach seinen Instinkten handelt. Weder gut noch böse … Einfach primitiv!«
Einer der toten Speerträger trug einen Silberring mit einem großen Türkis. Mandred zog am Ring, doch er saß fest. »Du behältst das andere Ufer im Auge«, war alles, was er sagte. Mandred spuckte auf die Hand des Toten und verrieb Speichel, damit der Ring besser über den Finger gleiten konnte, doch es half nicht. Entnervt zog er seinen Dolch.
»Das tust du jetzt nicht, Vater.«
Mandred setzte die Dolchspitze auf den Ansatz des Fingergelenks und schlug mit dem Handballen auf den Knauf der Waffe. Mit leisem Knirschen durchtrennte der Stahl den dünnen Knochen. Der Jarl nahm den Finger, streifte den Ring ab und steckte ihn zu der übrigen Beute in einen Lederbeutel.
»Du bist schlimmer als ein Tier!«
Der Krieger richtete sich auf. »Was du über mich und Tiere denkst, ist mir gleich. Aber behaupte nie wieder, mir wären meine Freunde egal.«
»Ach so, ich verstehe. Es ist die reine Rücksichtnahme, dass wir hier verharren, während sie kämpfen. Du willst ihnen nicht den Spaß verderben.«
Mandred schwang sich in den Sattel. »Du begreifst wirklich nicht, was wir hier tun, oder?«
»Doch, doch. Das war schon recht offensichtlich. Du füllst dir deinen Geldbeutel … Wahrscheinlich, damit du dich in der nächsten Stadt besaufen und rumhuren kannst. Hat Freya dich vielleicht auch deswegen verflucht?«
Mandred versetzte Oleif eine schallende Ohrfeige. »Nenn deine Mutter und Huren nie wieder in einem Atemzug.«
Der junge Krieger schwankte im Sattel, ganz benommen von der Wucht des überraschenden Schlags. Rote Striemen malten sich auf seiner Wange ab.
»Und jetzt hör mir zu, statt zu schwatzen, und lern etwas.« Mandred sprach leise und überbetont. Er durfte sich nicht vergessen! Am liebsten hätte er diesem Klugscheißer von Sohn eine ordentliche Tracht Prügel verpasst. Was hatten die Elfen nur aus seinem Jungen gemacht! »Die meisten menschlichen Krieger haben Angst vor dem Kampf. Sie reden groß daher, aber wenn es so weit ist, dann sitzt ihnen allen die Angst im Gedärm. Ich selbst habe Angst davor, dass in den Häusern am anderen Ufer Armbrustschützen lauern und uns niederschießen, wenn wir über die Brücke kommen. Wenn sie dort postiert sind, dann warten sie, bis wir auf eine Entfernung herankommen, auf die sie uns nicht mehr verfehlen können. Ich bin abgesessen und habe meine Börse gefüllt, um ihnen ein bisschen Zeit mit ihrer Angst zu lassen. Denn sie fürchten uns genauso. Sie haben Angst, uns zu verfehlen, und davor, dass wir in den Häusern sind, bevor sie nachgeladen haben. Je länger sie uns sehen und warten müssen, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass einer die Nerven verliert und schießt. Dann wissen wir zumindest, was uns erwartet.«
Einige Herzschläge lang herrschte angespanntes Schweigen zwischen Vater und Sohn. Man hörte nur das Schaben des Treibholzes, das sich an den massigen Brückenpfeilern entlangschob.
Oleif blickte zu den Häusern am anderen Ufer. »Du hast Recht. Wenn wir blindlings in eine Falle reiten, sind wir keine Hilfe für Nuramon und Farodin. Nichts regt sich drüben. Glaubst du, wir können die Brücke in Sicherheit überqueren?«
Mandred schüttelte den Kopf. »Krieg und Sicherheit sind zwei Dinge, die nicht zusammengehen. Allerdings bin ich mir jetzt sicher, dass dort drüben keine gewöhnlichen Krieger auf uns lauern. Von denen hätte längst einer geschossen. Aber wenn uns statt Grünschnäbeln ein paar ausgebuffte alte Hurenböcke erwarten, Veteranen, die schon in vielen Schlachten gekämpft haben, dann kennen sie dieses Spiel und warten in aller Seelenruhe ab.«
Mandred beugte sich tief über den Hals seiner Stute und gab ihr die Sporen. »Wir sehen uns am anderen Ufer!«
Sie jagten in gestrecktem Galopp über die lange Brücke.
Misstrauisch beobachtete Mandred die Häuser, doch kein Pfeilhagel empfing sie, als sie die Brücke verließen. Die fünf Krieger schienen die einzigen Wachen auf dieser Seite der Stadt gewesen zu sein.
Mandred und Oleif zügelten ihre Pferde. Vor ihnen lag eine breite, gewundene Straße, die zum Markt und von dort weiter hinauf zum Tempelplatz auf dem Hügel führte. Aniscans war wie ausgestorben. Niemand wagte sich auf die Gassen. Langsam ritten sie weiter. Ängstliche Augen folgten ihnen hinter halb verschlossenen Fensterläden. Vom Hügel herab ertönte Geschrei. Man hörte den hellen Klang von Schwertern.
»Wenn ich hier das Kommando hätte, würde ich uns in die Stadt hineinlassen und dann die Gassen absperren«, erklärte Oleif.
Mandred nickte. »Wie es scheint, haben die Elfen dir ja doch etwas mehr beigebracht, als schlau daherzureden oder ein Liedchen zu trällern. Lass uns absitzen. Zu Fuß sind wir beweglicher.«
Sie verließen die Hauptstraße und schlugen sich in das Labyrinth aus engen Gassen. Die Pferde führten sie an den Zügeln hinter sich her. Beklommen sah Mandred sich um. Die ganze Stadt war eine einzige große Falle. Sie konnten nur hoffen, dass niemand das Gemetzel an der Brücke beobachtet hatte.
Die beiden überquerten einen engen Platz aus gestampftem Lehm. Ein großes Haus mit vermauerten Fenstern beherrschte eine ganze Seite des Platzes. Mit seinem hohen Tor, das auf einen Hinterhof führte, sah es fast wie eine Burg aus.
»Dort stellen wir die Pferde unter«, erklärte Mandred und führte seine Stute durch das Tor. Zum Innenhof zeigten viele Fenster. Misstrauisch sah Mandred sich um. Das Gebäude kam ihm seltsam vor. Kurz konnte er eine junge Frau mit halb geöffnetem Mieder an einem der Fenster sehen. Dann war sie verschwunden. Niemand trat aus der einzigen Tür, die ins Haus führte, oder sprach sie von den Fenstern herab an. Mandred war es nur recht so.
Gegenüber dem Tor lag ein offener Schuppen mit einer langen Werkbank. Holzschuhe stapelten sich auf dem Arbeitstisch. Daneben lag ordentlich aufgereiht ein breites Sortiment Schnitzwerkzeuge: Hobel, Stemmmeißel und Messer mit merkwürdig gekrümmten Klingen. Auch hier war keine Menschenseele zu sehen.
Mandred schlang die Zügel um einen der Eisenringe, die in die Häuserwand eingelassen waren. Dann betrachtete er lange die Fenster, die zum Hof lagen. »Ich weiß, dass ihr uns beobachtet. Wenn die Pferde nicht mehr hier sind, wenn ich wiederkehre, dann komm ich herauf und schneide euch die Hälse durch.« Er griff in den Lederbeutel an seinem Gürtel und zog eine einzelne Münze hervor, die er hochhielt. »Finde ich die Pferde aber getränkt und gefüttert, dann lasse ich dieses Silberstück hier.«
Ohne auf eine Antwort zu warten, schulterte Mandred die Axt und ging zum Tor hinaus.
»Hast du einen Plan?«, fragte Oleif.
»Natürlich. Mach dir keine Sorgen. Ich weiß genau, was zu tun ist. Wir sollten dem Lärm des Kampfes folgen.«
Sein Sohn runzelte die Stirn. »Gibt es noch einen anderen Plan?«
Mandred winkte ärgerlich ab. »Zu viele Pläne machen nur Kopfschmerzen und führen dazu, dass man gar nichts mehr tut. Ein guter Anführer schwatzt nicht herum, sondern handelt.«
Mandred verfiel in einen leichten Trab. Er hielt sich dicht an den Hauswänden, um für Schützen ein schlechteres Ziel zu sein. Das Klingen der Schwerter war nun ganz nah.
Plötzlich taumelte ein Krieger aus einem Hauseingang. Er hatte einen großen Rundschild mit einem weißen Stierkopf als Wappen um den Arm geschnallt. In der Tür erschien Nuramon. Der Elf presste sich die Hand auf die linke Hüfte. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor.
Ein Fausthieb Mandreds schickte den überraschten Krieger zu Boden, noch bevor er seinen Schild zum Schutz heben konnte.
»Gut, euch zu sehen, Menschensöhne«, krächzte Nuramon. Er ließ das Schwert sinken und lehnte sich erschöpft gegen den Türrahmen. »Kommt.«
Die beiden folgten dem Elfen ins Halbdunkel des Hauses. Sie durchquerten eine verwüstete Küche und stiegen über zwei Leichen hinweg, die die Tür zum Speisesaal blockierten. Auch hier waren alle Läden versperrt, und es fielen nur schmale Lichtstreifen in den Saal. Auf dem langen Esstisch, der den Raum beherrschte, lag Farodin. Ein junger Priester mit flammend rotem Haar stand über ihn gebeugt.
»Du darfst dich nicht bewegen, Herr«, redete der Jüngling in flehendem Tonfall auf den Elfen ein. »Die Wunde wird wieder aufbrechen. Und du hast viel Blut verloren.«
Farodin schob den Tjuredpriester zur Seite. »Herumliegen kann ich, wenn wir aus der Stadt heraus und in Sicherheit sind.«
»Aber du wirst …«, begann der Priester aufgebracht.
Nuramon beruhigte ihn. »Ich werde mich später um seine Wunden kümmern.«
Farodin richtete sich auf und wandte sich an den Menschensohn. »Ihr habt lange gebraucht. Wo steckt Ollowain?«
Mandred wich dem Blick des Elfen aus.
Farodin schnaubte verächtlich. »Das habe ich mir gedacht.« In kurzen Worten erzählte er vom Angriff auf den Tempel und von ihrer Flucht.
»Und Guillaume?«, fragte Oleif, nachdem Farodin geendet hatte.
Der Elf deutete zu den versperrten Fensterläden. »Dort auf dem Tempelplatz.«
Mandred und sein Sohn durchquerten den Saal und spähten vorsichtig durch einen Spalt nach draußen. Überall waren die Krieger des Königs zu sehen. Sie hatten Holz vom eingestürzten Baugerüst rings um die heilige Eiche aufgeschichtet. Von einem der Äste des Baums hingen, mit den Köpfen nach unten, zwei nackte, geschändete Leichen. Ein untersetzter, älterer Mann und… Guillaume. Man hatte ihre Körper mit Rutenhieben zerschunden. Armbrustbolzen und zersplitterte Speerschäfte ragten aus ihren Rümpfen.
Angewidert wandte Mandred sich ab. »Warum tun sie das? Du hast doch gesagt, sie sollten ihn vor ihren König bringen.«
»Nachdem Guillaume vom Dach gestürzt war, war er nicht mehr vorzeigbar«, entgegnete Farodin kalt. Dann presste er die Lippen zusammen, bis sie ein schmaler, farbloser Strich waren.
»Der Armbrustbolzen, der ihn traf, war für Farodin bestimmt gewesen«, sagte Nuramon mit tonloser Stimme. »Ich …«
»Guillaume hat den Tod gesucht«, unterbrach ihn Farodin aufgebracht. »Du weißt das. Er wollte hinaus zu diesen Mördern!«
»Um uns zu retten«, erwiderte Nuramon ruhig. »Ich mache dir doch keine Vorwürfe. Aber zwischen Emerelle und Cabezan sah Guillaume keinen Platz mehr zu leben. Ihm blieb nur die Wahl, auf welche Weise er sterben wollte. Als die Krieger seinen Leichnam vom Pflaster hoben, verfielen sie in blinde Raserei. Sie haben seine Leiche geschändet und aufgeknüpft.«
»Und jetzt werden sie uns holen kommen«, sagte Oleif, der noch immer am Fenster stand.
Mandred blickte hinaus und stieß einen lästerlichen Fluch aus. Der Mann, den er vor der Tür niedergeschlagen hatte, hatte das Bewusstsein wiedererlangt. Er rannte auf den Platz, schrie und deutete auf das Haus, in dem sie sich verbargen. »Verdammtes Gerede über Moral! Früher hätte ich ihm einfach den Hals durchgeschnitten.«
Farodin griff nach dem Schwert, das neben ihm auf dem Tisch lag. »Sie wären uns ohnehin holen gekommen.« Er wandte sich zu dem Priester, der seine Wunden versorgt hatte. »Ich danke dir, Menschensohn. Nun such deinen Ordensbruder und versteck dich. Wir werden euch nicht länger schützen können.« Er versuchte aufzustehen, doch sein verwundetes Bein vermochte ihn nicht zu tragen.
Mandred griff dem Elfen unter die Achseln, um ihn zu stützen.
»Ich brauche keine Hilfe«, murrte Farodin.
Mandred ließ ihn los. Der Elf stand schwankend, aber immerhin … er stand. »Es macht keinen Sinn, hier zu kämpfen. Versuchen wir uns zu den Pferden durchzuschlagen. Wenn die Brücke nicht wieder besetzt ist, können wir vielleicht noch entkommen.« Er winkte Oleif zu sich. »Hilf Nuramon. Er ist weniger widerborstig.«
»Geht nicht durch die Tür hinaus«, sagte der rothaarige Priester plötzlich. »Ich … ich wollte euch auch danken. Mein Ordensbruder Segestus … Ich brauche ihn nicht mehr zu suchen, er hat sich schon davongemacht. Es gibt noch einen anderen Weg. Folgt mir!«
Mandred blickte zu Farodin. »Wir haben nichts mehr zu verlieren«, entschied der Elf. »Verriegelt die Türen. Das wird sie ein wenig aufhalten. Was ist das für ein Weg, den dein Ordensbruder genommen hat?«
Der Priester zündete eine Laterne an und führte sie von der Küche aus in einen Vorratskeller. Der Raum war voll gestopft mit Amphoren in allen erdenklichen Größen und Formen. Von der Decke hingen Schinken und geräucherte Würste.
Der Ordensbruder ging voraus. Mandred blieb ein wenig zurück und schob sich zwei große Räucherwürste unter das Wams. Dies war der Anfang einer wilden Flucht, und allein Luth mochte wissen, wann sie das nächste Mal etwas Vernünftiges zu essen bekamen. Am liebsten hätte er auch eine der Weinamphoren mitgenommen. Der Gott Tjured musste wahrlich bedeutend sein, wenn seine Priester eine so wohl gefüllte Vorratskammer unterhalten konnten. Eigenartig, dachte Mandred, er hatte vor zwei Wochen zum ersten Mal von Tjured gehört. Aber das lag wohl an seiner Unwissenheit…
Der junge Priester brachte sie zu einer niedrigen Pforte, hinter der eine Stiege lag, die weiter in die Tiefe führte. Von dort gelangten sie in einen Raum, in dem riesige Fässer lagerten. Mandred traute seinen Augen kaum. Nie in seinem Leben hätte er gedacht, einmal zu Fässern aufblicken zu müssen. Sie waren zu beiden Seiten an den Wänden aufgereiht. Nach vorn verlor sich der Kellerraum in der Finsternis. Hier war ein ganzer Weinsee eingelagert!
»Bei den Titten Naidas, Priester, was macht ihr mit so viel Wein? Badet ihr darin?«, platzte es aus Mandred heraus.
»Aniscans ist eine Stadt der Winzer. Der Tempel erhält oft Wein als Geschenk. Wir handeln damit.« Er hielt inne, blickte zurück und zählte lautlos mit dem Finger die Fässer ab, an denen sie vorbeigegangen waren. Dann winkte er sie noch ein Stück weiter und führte sie schließlich zwischen zwei hohen Fässern hindurch. In der Dunkelheit verborgen öffnete sich hier ein Durchgang zu einem niedrigen Tunnel.
»Manche Leute sagen, es gäbe unter Aniscans noch eine zweite, verborgene Stadt. Es sind die großen Lagergewölbe der Winzer. Viele der Kammern sind durch Tunnel wie diesen hier miteinander verbunden. Wer sich hier unten auskennt, der kann an einem regnerischen Tag trockenen Fußes von einem Ende der Stadt zum anderen gelangen. Aber man kann sich auch hoffnungslos verlaufen …«
»Na ja, zumindest wird man hier unten nicht verdursten.«
Der Priester sah Mandred peinlich berührt an. Dann bückte er sich und verschwand im Tunnel.
Mandred zog den Kopf tief zwischen die Schultern. Dennoch stieß er auf dem Weg durch die Dunkelheit immer wieder gegen die Decke. Das schwache Licht der Laterne wurde durch die anderen, die vor ihm gingen, fast völlig verdeckt. So tastete er sich durch die Finsternis. Hier unten war es stickig, ein säuerlicher Geruch hing in der Luft. Bald hatte Mandred das Gefühl, dass sie schon eine Ewigkeit unterwegs waren. Er zählte die Schritte, um sich abzulenken. Bei dreiunddreißig erreichten sie einen zweiten Lagerraum voller Fässer.
Der Priester brachte sie zu einer Treppe, und sie verließen das Gewölbe durch eine Klapptür, die sie auf einen sonnigen Hof führte. »Wohin wollt ihr jetzt?«
Mandred blinzelte in das Licht und atmete tief durch.
»Unsere Pferde stehen auf einem Hinterhof. Es ist ein größeres Haus an einem kleinen Platz, die Fenster zum Platz sind vermauert«, erklärte Oleif. »Kannst du uns sagen, wie wir dorthin kommen?«
Der Priester errötete. »Ein Haus mit vermauerten Fenstern?« Er räusperte sich verlegen.
»Stimmt etwas damit nicht?«, fragte Mandred. »Ich habe mich auch schon gefragt, warum sie aus dem Haus eine Festung gemacht haben.«
Wieder räusperte sich der Priester. »Das ist … wegen der Schänke auf der anderen Seite des Platzes. Der Wirt hatte einen besonderen Schankraum im zweiten Stock eingerichtet. Wer dort trinken wollte, musste ein Kupferstück mehr für den Krug Wein zahlen.«
»Und?«
Der Priester wand sich vor Verlegenheit. »Von dem Schankraum aus konnte man gut in die Fenster auf der anderen Seite des Platzes sehen.«
Mandred verlor langsam die Geduld. »Und was gab es dort zu sehen?«
»Es ist ein … ein Haus, in das einsame Männer gehen. Von der Schänke aus konnte man beobachten, was sich in den Zimmern tat. Deshalb hat der Besitzer die Fenster vermauern lassen.«
Nuramon lachte laut auf und presste im nächsten Moment die Hand auf die Wunde über seiner Hüfte. »Ein Hurenhaus! Du hast die Pferde in einem Hurenhaus untergestellt, Mandred?«
»Auf dem _Hof_ eines Hurenhauses«, wandte Oleif ein, der ebenfalls rot geworden war. »Auf dem Hof.«
»Ich wette, das ist das einzige Hurenhaus in der Stadt«, setzte Farodin nach. »Und du hast es zielsicher gefunden.«
Mandred konnte nicht begreifen, was daran so komisch sein sollte. »Ich weiß davon nichts. Im Hof steht die Werkstatt eines ehrbaren Handwerkers, das ist alles, was ich gesehen habe.«
»Natürlich«, erwiderte Farodin grinsend. »Natürlich.«
Mandred sah die beiden Elfen verwundert an. Die Kämpfe und der schreckliche Tod Guillaumes, das alles musste für sie zu viel gewesen sein. Anders konnte er sich diesen widersinnigen Ausbruch von Heiterkeit nicht erklären.
»Du kennst dich hier aus, Priester. Bring uns auf dem schnellsten Weg zu diesem … Hurenhaus.«
Der Jüngling führte sie auf verstohlenen Wegen durch schmale Gassen und über Hinterhöfe. Hin und wieder konnten sie ganz in der Nähe die Rufe der Soldaten des Königs hören, doch sie blieben unentdeckt. Mandred hatte das Gefühl, dass sie längst beim Hurenhaus hätten ankommen müssen, als der Priester plötzlich verharrte und ihnen ein Zeichen gab, sich still zu verhalten.
»Was ist los, Betbruder?«, zischte der Jarl und drängte sich nach vorn. Vorsichtig spähte er auf den Platz. Sie hatten ihr Ziel erreicht, doch vor der Schänke gegenüber dem Hurenhaus standen sieben Krieger. Ein hageres Schankmädchen brachte ihnen Humpen mit Bier und hölzerne Platten voll Käse und Brot.
»Luth liebt es, die Fäden des Schicksals zu schwierigen Mustern zu weben«, seufzte Mandred. Er wandte sich zu seinen Gefährten. »Ich werde die Soldaten ablenken. Seht, dass ihr zu den Pferden kommt. Was ist mit dir, Priester? Willst du mit uns fliehen?«
Der junge Mann überlegte kurz, dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe Freunde in der Stadt. Sie werden mich verstecken, bis dieses Gesindel wieder abgezogen ist.«
»Dann solltest du nicht mit uns gesehen werden. Ich danke dir für deine Hilfe. Doch nun mach besser, dass du fortkommst.«
»Was hast du vor, Vater? Du willst doch nicht etwa allein gegen sieben …«
Mandred strich über das runengeschmückte Axtblatt. »Wir sind zu zweit. Sieh zu, dass du mit Nuramon und Farodin so schnell wie möglich zu den Pferden kommst. Wenn ihr es erst einmal bis zum Stadtrand geschafft habt, wird Ollowain euch vielleicht helfen, wenn ihr in Schwierigkeiten kommt.«
»Und du?«, fragte Nuramon. »Wir können dich doch nicht einfach zurücklassen.«
Mandred machte eine wegwerfende Geste. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich komme hier schon irgendwie raus. Du weißt doch, nicht einmal der Manneber hat mich umbringen können.«
»Du solltest nicht …«
Mandred hörte nicht länger auf die Einwände seiner Freunde. Jeden Augenblick mochte hinter ihnen in der Gasse einer der Suchtrupps erscheinen. Die Zeit der Worte war vorbei. Er packte seine Axt fester und schlenderte auf den Platz hinaus.
»He, Männer. Ich bin froh zu sehen, dass es hier noch was anderes als Traubensaft zu trinken gibt.«
Die Soldaten blickten überrascht auf. »Was machst du hier?«, fragte ein Krieger mit strähnigem Haar und Stoppelbart.
»Ich bin ein Pilger auf dem Weg zum Tjuredtempel«, erklärte Mandred. »Es heißt, dort gebe es einen Heiler, der wahre Wunder bewirkt.« Er streckte sich. »Meine Finger werden langsam krumm von der Gicht.«
»Der Priester Guillaume ist heute Morgen bei dem Versuch verstorben, sich selbst zu heilen.« Der Soldat grinste gehässig. »Wir halten gerade seinen Leichenschmaus.«
Mandred hatte die Soldaten fast erreicht. »Dann werde ich auch auf sein Wohl trinken. Der Mann …«
»Da ist Blut an seiner Axt«, schrie plötzlich einer der Krieger.
Mandred stürmte vor und schlug den vordersten der Männer mit der Axt nieder, während er einem anderen die Schulter gegen die Brust rammte und ihn so zu Fall brachte. Eine Schwertklinge schrammte geräuschvoll über sein Kettenhemd, ohne es zu durchdringen. Mandred fuhr herum, blockte einen Angriff mit der Axt und hämmerte einem anderen Krieger seine Faust ins Gesicht. Eine Wurfaxt verfehlte nur knapp seinen Kopf. Der Jarl duckte sich und stürmte vor. Keine Rüstung vermochte der tödlichen Doppelklinge seiner Axt zu widerstehen. Wie ein Schnitter im Korn mähte er die Krieger nieder, als ihn ein Warnschrei herumfahren ließ.
Aus einer der Seitengassen kamen weitere Kämpfer mit Stierschilden auf den Platz gestürmt. Oleif hatte sich ihnen in den Weg gestellt, während Farodin und Nuramon humpelnd zum Hof des Hurenhauses zu fliehen versuchten.
Mandred löste sich von den verbliebenen Kriegern und eilte seinem Sohn zu Hilfe. Oleif bewegte sich mit der Anmut eines Tänzers. Es war ein weibisch wirkender Kampfstil, dachte Mandred, und doch vermochte keiner der Krieger den wirbelnden Kreis des Langschwerts zu durchbrechen.
Seite an Seite kämpfend, wurden Vater und Sohn langsam zum Eingang des Hofes zurückgedrängt. Als sie im Tor standen und nicht mehr von den Seiten oder aus dem Rücken angegriffen werden konnten, zogen sich die Krieger des Königs zurück.
Mandred und Oleif verschlossen das schwere Tor und blockierten es mit einem Querbalken. Nach Atem ringend, ließ sich der Jarl zu Boden sinken. Seine Linke spielte mit einem seiner Zöpfe. »Ich habe vergessen mitzuzählen«, murrte er müde.
Sein Sohn grinste schief. »Ich würde sagen, es waren mindestens drei. Mit den beiden auf der Brücke also insgesamt fünf. Wenn du weiterhin jedes Toten mit einem Zopf gedenken willst, wirst du dir bald neue Haare zulegen müssen.«
Mandred schüttelte unwillig den Kopf. »Dünnere Zöpfe. Das ist die Lösung.« Schnaufend wuchtete er sich hoch.
Nuramon und Farodin waren bei den Pferden. Die Elfen wären keine Hilfe, wenn es darum ging, sich den Weg durch die Stadt freizukämpfen.
Ein glatzköpfiger Kerl mit vernarbtem Gesicht erschien in der Tür zum Hof. Selten war Mandred einem so hässlichen Mann begegnet. Sein Gesicht sah aus, als wäre eine Rinderherde darüber hinweggetrampelt. »Die Pferde sind getränkt und gefüttert, Krieger. Ich wäre dir dankbar, wenn du mein Haus jetzt verlassen würdest!«
»Gibt es einen zweiten Ausgang?«
»Gewiss, aber keinen, den ich dir zeigen würde. Du gehst durch das Tor wieder hinaus, durch das du hineingekommen bist. Flüchtigen vor den Leibwachen des Königs gewähre ich keinen Unterschlupf.«
Oleif machte drohend einen Schritt in Richtung der Tür, doch Mandred packte ihn beim Arm und zog ihn zurück. »Er hat Recht. Ich würde mich an seiner Stelle genauso verhalten.« Der Jarl legte den Kopf in den Nacken und blickte zu den Fenstern hoch. Zwei junge Frauen beobachteten neugierig, was auf dem Hof geschah.
»Ist das hier wirklich ein Hurenhaus?«, fragte Mandred.
»Ja«, erwiderte der Glatzkopf. »Aber ich glaube nicht, dass dir noch genug Zeit bleibt, um mit einem meiner Mädchen anzubandeln, Krieger.«
Mandred löste seinen Geldbeutel vom Gürtel und wog ihn in der Hand. Dann warf er ihn dem Narbengesichtigen zu. »Es könnte sein, dass dein Haus in der nächsten Stunde ein wenig Schaden nimmt. Vielleicht kann es aber auch davor bewahrt werden … Würdest du mir das Tor öffnen, wenn ich dich darum bitte?«
»Du kannst auf meine Unterstützung rechnen, wenn es darum geht, dass ihr hier verschwindet.«
»Dann halte dich beim Tor bereit!« Mandred grinste seinem Sohn zu. »Du hast Recht gehabt. Ich lasse tatsächlich all mein Geld in Hurenhäusern.«
»Es tut mir Leid …«
»Vergiss das. Hilf mir lieber!« Sie gingen zu dem Schuppen hinüber, und Mandred fegte mit dem Arm die Holzschuhe von der Werkbank. Der Arbeitstisch hatte eine drei Zoll dicke Eichenplatte. Mandred strich über das fleckige Holz. »Die Regeln bei Belagerungen sind sehr einfach, Junge. Es gibt die hinter den Mauern. Die sitzen herum, warten, was geschieht, und wehren sich nach Kräften. Und dann gibt es die vor den Mauern. Die sind immer im Vorteil, denn sie entscheiden, wann etwas geschieht. Ich finde, wir sollten diese Regeln ein wenig auf den Kopf stellen.«
Oleif sah ihn verständnislos an.
Mandred steckte einige der Schnitzmesser in seinen Gürtel. »Ich glaube, ich habe dir bisher noch nie gesagt, dass du recht ordentlich geraten bist, obwohl dich dieser Ollowain aufgezogen hat.«
»Du glaubst, dass wir hier sterben werden?«
»Ein richtiger Krieger sollte nicht in seinem Bett sterben.« Er zögerte. So vieles hätte er seinem Sohn noch zu sagen.
Doch die Zeit lief ihnen davon. Sein Mund war plötzlich trocken. »Ich … ich wünschte, wir hätten diese verfluchte Stadt nicht betreten. Und ich wünschte, wir beide hätten einen Sommer gemeinsam in Firnstayn verbracht. Es ist nur ein einfaches Dorf … Aber auf seine Art ist es schöner als alles, was ich in Albenmark gesehen habe.« Er schluckte. »Ich wette, bei den Elfen hat man dir niemals Fliegenfischen beigebracht. Im Spätsommer ist der Fjord voller Salme … Genug geschwatzt! Schenken wir denen dort draußen nicht noch mehr Zeit, sich zu sammeln. Jetzt kommen wir vielleicht noch durch. Sie sind ja in der ganzen Stadt verstreut, um nach uns zu suchen.« Er zerrte an der Werkbank. »Verdammt schwer.« Kurz blickte er zu den beiden Elfen. »Die sind uns im Kampf keine Hilfe mehr. Mit zwei Reitern im Sattel sind die Pferde zu langsam.« Er zögerte. »Ich werde hier bleiben … Ich werde meiner Stute auf die Hinterhand schlagen, sobald wir draußen sind. Wenn sie durchgeht, wird Nuramon alle Mühe haben, im Sattel zu bleiben, und kann keinen heldenhaften Unsinn machen. So schafft er es vielleicht aus der Stadt …«
Oleif atmete tief ein. Dann nickte er. »Ich bleibe bei dir. Mögen die Götter den beiden auf ihrer Suche nach Noroelle beistehen. Ihr Leben hat ein Ziel … Ich aber weiß nicht einmal, in welche Welt ich gehöre.«
Mandred schloss seinen Sohn in die Arme. »Ich bin stolz, an deiner Seite geritten zu sein … Alfadas«, sagte er mit halb erstickter Stimme. Es war das erste Mal, dass er ihn bei seinem Elfennamen nannte. Einige Herzschläge lang verharrten sie, von Gefühlen überwältigt, dann gingen sie hinüber zu den Pferden.
Nuramon blickte sie niedergeschlagen an. »Habt ihr eine Vorstellung, wie wir hier herauskommen?«
»Klar!« Mandred hoffte, dass sein Lächeln nicht allzu aufgesetzt wirkte. »Wir überrumpeln sie, schlagen ihnen die Schädel ein und reiten dann in aller Seelenruhe davon. Ich fürchte, es wird allerdings etwas ungemütlich, sich zu zweit einen Sattel zu teilen.«
Farodin lachte leise. »Bestechend schlicht. Ein echter Mandredplan.«
»Nicht wahr?« Der Jarl ging zu Nuramon und half ihm in den Sattel. »Bleibt bloß auf den Pferden, sonst seid ihr nur im Weg.«
Als beide Elfen aufgesessen waren, gingen Mandred und Alfadas in den Schuppen zurück, um die Werkbank anzuheben und wie einen riesigen Schild vor sich her zu tragen. »Ich hätte eine letzte Bitte an dich, mein Sohn.«
Alfadas’ Gesicht war vor Anstrengung verzerrt. »Was?«
»Wenn wir hier lebend herauskommen, dann benutz dieses Duftwasser nicht mehr. Das ist was für Weiber und Elfen. Und es hält Norgrimm von deiner Seite fern. Auf die Gunst des Kriegsgottes solltest du lieber nicht verzichten.« Mandred reckte den Kopf vor. »Mach das Tor auf, Narbengesicht!«
Der Bordellbesitzer riss den Querbalken herunter und stieß die beiden Torflügel auf.
»Für Freya!«, schrie Mandred aus vollem Hals, als sie vorstürmten.
Wie Hagelschlag prasselten Armbrustbolzen auf die Tischplatte. Dicht gegen das Holz gedrückt, rannten die beiden blindlings auf den Platz hinaus, bis sie in eine Gruppe Krieger gerieten. Der schwere Werktisch riss fünf Mann zu Boden.
Mandred blickte sich um und erschrak bis ins Mark. An sämtlichen Fenstern rings herum standen Armbrustschützen, die in aller Eile ihre Waffen nachluden. Die Gassen, die auf den kleinen Platz führten, waren verbarrikadiert und von Soldaten bewacht. Der Trupp Krieger, in den sie hineingerannt waren, zog sich hastig zurück, um nicht in der Schusslinie zu stehen.
Plötzlich erklang Hufschlag. Ein schneeweißer Hengst setzte über eine der Barrikaden hinweg. Eine Reiterin mit wehendem Haar riss das Pferd am Zügel herum und legte ihren Bogen an. In fließender Bewegung ließ sie den Pfeil von der Sehne schnellen und griff nach dem nächsten in ihrem Köcher. Ein Armbrustschütze stürzte schreiend aus einem der Fenster der Schänke gegenüber.
Jetzt erklang aus einer anderen Gasse Hufschlag. Ollowain setzte über eine Barrikade hinweg und schlug dabei einen Speerträger nieder. Er führte Nuramons Pferd am Zügel mit sich. »Los, in den Sattel, Menschensohn. Du magst mir eine Lektion in Sachen Ehre erteilt haben, aber deshalb werde ich noch lange nicht auf deinesgleichen warten.«
Mandred griff nach dem Sattelhorn und zog sich hoch. Er sah, wie Yilvina an einer dritten Barrikade abgesessen war und wie eine Berserkerin mit ihren Kurzschwertern auf die Soldaten eindrosch.
Plötzlich war die Luft erfüllt von Armbrustbolzen. Die Pferde wieherten schrill. Etwas traf Mandred in den Rücken, sodass er vornüber sank.
Nomja schoss noch immer, als ein Bolzen ihren Hengst in den Kopf traf. Eine Fontäne von Blut spritzte über das weiße Fell. Wie von einem Blitzschlag getroffen, brach das große Tier in die Knie. Nomja war mit einem Satz aus dem Sattel und versuchte den stampfenden Hufen der anderen Pferde zu entgehen.
Trotzig riss die Elfe ihren Bogen hoch und schoss zurück.
»Zu Yilvina!«, rief Ollowain. »Sie hat uns den Weg frei gemacht!«
Mandred lenkte sein Pferd an Nomjas Seite und streckte ihr die Hand entgegen. »Komm!«
»Einen noch!« Schon verließ ein Pfeil die Sehne. Sie drehte sich um und zuckte plötzlich zusammen. Mandred packte sie, als sie vornüber zu fallen drohte, und zog sie zu sich aufs Pferd. Trotz ihrer Größe schien sie ihm kaum schwerer zu sein als ein Kind.
Mandred riss sein Pferd herum und gab ihm die Sporen. Mit einem weiten Satz sprangen sie über die Barrikade und preschten in halsbrecherischem Tempo die Gasse entlang. Bald darauf erreichten sie die Brücke. Nirgends versperrten ihnen Soldaten den Weg; sie schienen sich alle nahe dem Platz bei dem Hurenhaus gesammelt zu haben.
Erst auf der Brücke wagte Mandred zurückzublicken. Sein Sohn, Farodin, Nuramon, Ollowain und Yilvina, sie alle hatten es geschafft! Ihre Truppe war übel zusammengeschossen, niemand war unverletzt, aber sie waren entkommen!
Ein unbeschreibliches Glücksgefühl überwältigte Mandred. Er war so sicher gewesen, zu sterben. Triumphierend riss er die Axt hoch und schwang sie über dem Kopf. »Sieg! Bei Norgrimm! Wir sind ihnen entkommen … Sieg!«
Er packte Nomja, die noch immer quer über seinem Sattel lag, um ihr zu helfen, sich aufzusetzen. Ihr Kopf kippte gegen ihre Schulter.
»Nomja?«
Die grünen Augen der Elfe waren weit aufgerissen und starrten blicklos zum Himmel. Jetzt erst sah Mandred das haselnussgroße Loch in ihrer Schläfe.
Buch 7:
Vom Ende des Propheten
Es begab sich an demselben Tage, dass König Cabezan im Traume ein Engel erschien. Er hatte silberne Schwingen und führte ein silbernes Schwert. Nichts an ihm aber strahlte so wie seine Augen, die von einem hellen Blau waren. Und der Engel sprach zu Cabezan: Sende deine Krieger aus, denn Not herrscht in Aniscans. Der Prophet Guillaume bangt um sein Leben, denn die Kinder der Alben trachten danach. Und das nur, weil einer der ihren zu spät unter seine heilenden Hände kam. Da ließ Cabezan seine besten Krieger aufsitzen und sandte sie unter dem Hauptmann Elgiot nach Aniscans.
Zu jener Zeit ragten keine Mauern um Aniscans. Und so gelangten die Albenkinder ungesehen in die Stadt. Es waren sechs Elfen und ein Troll, die suchten Guillaume im Tempel. Dort aber war er nicht, dort waren nur die übrigen Priester des Tjured. Die Priester aber wurden von den Albenkindern zur großen Eiche vor dem Tempel gebracht und getötet.
Nun erst hörte der Prophet, was sich draußen in der Stadt zutrug. Da verließ er sein Haus. Und siehe, er stellte sich den Kindern der Alben! Er trat an sie heran, verbeugte sich vor ihnen und sprach: »Handelt an mir, wie es euch beliebt. An euren Taten wird Tjured euch messen.« Da schlugen die Elfen ihn nieder, und der Troll hing ihn in die große Eiche. Der Prophet aber lebte noch und betete zu Tjured. Da schoss eine Elfe mit ihrem Bogen Pfeile auf Guillaume.
Als das geschah, kamen Elgiot und die Krieger des Königs, und sie kämpften um das Leben des Propheten. Doch die Elfe sandte ihre brennenden Pfeile gegen die Eiche, dass sie ganz und gar Feuer fing. Die Krieger des Cabezan vergalten ihr die Tat und erschlugen sie. Doch die übrigen Elfen und den Troll ließen sie um Guillaumes willen laufen. Denn sie hofften, dass der Prophet noch lebte, so sie ihn von der Eiche und vom Feuer befreiten. Die Eiche war ganz schwarz, als sie den Brand mit Wasser begossen und ihn löschten. Sie holten den Propheten vom Baume. Auch er war ganz schwarz und ohne Leben. Doch siehe! Das Wasser, das vom Baume tropfte, fiel ihm auf sein Gesicht und wusch den Ruß fort. Das helle Antlitz Guillaumes kam zum Vorschein. Da wuschen die Krieger den Körper des Propheten und erkannten, dass ihm nur die eisernen Pfeilspitzen im Leib steckten, die Flammen ihn aber verschont hatten. Und er öffnete die Augen, fasste die Hand Elgiots des Hauptmanns und sprach: »Sie haben ihren Pfad gewählt. Möge Tjured ihnen die Gnade schenken, die sie verdienen.« So starb der Prophet unter dem schwarzen Baume. Die Albenkinder aber hatten durch diese Tat einen Fluch auf sich geladen. So ist es gesagt.