Aufbruch bei Nacht

Es war tief in der Nacht, und in der Burg war es still geworden. Von draußen drang das leise Rauschen des Windes herein. Nuramon blickte durch das offene Fenster in die helle Nacht hinaus. Es hatte aufgehört zu schneien. Das Licht des Mondes wurde vom Schnee reflektiert und verlieh allem einen silbernen Schein. Bald würde der Morgen kommen, und aus Silber würde Gold werden. Einen geeigneteren Zeitpunkt konnte sich Nuramon für seine Abreise nicht vorstellen.

Seine Sachen waren gepackt, alles war bereit. Noch in dieser Nacht wollte er aufbrechen. Sein Blick fiel auf die Rüstung und den Mantel, die wieder auf dem Ständer hingen. Sie hatten ihm in der Menschenwelt gute Dienste geleistet. Nun aber war Nuramon in jene Kleider gehüllt, in denen Noroelle ihn zuletzt gesehen hatte. Es war schlichte Kleidung aus weichem Leder. Sie bot ihm zwar kaum einen Schutz im Kampf, aber er bezweifelte, dass er dessen bedurfte. Schließlich ging es nicht darum, einer Bestie gegenüberzutreten, sondern darum, einen Mann zu töten, der wahrscheinlich wehrlos war. Es lag nichts Glanzvolles in dieser Aufgabe. Er würde sich auf immer dafür schämen.

Er betrachtete sein Schwert. Die Königin hatte ihm tatsächlich das Schwert der Gaomee geschenkt. Sie wollte offenbar, dass er seinen Auftrag mit dieser Klinge ausführte. Seit er die Waffe zur Hand genommen hatte, schien ein Fluch an ihr zu haften. Aber er würde sie deswegen nicht fortgeben. Wer würde diese Waffe noch tragen wollen, nachdem seine glücklosen Finger sie berührt hatten?

Es klopfte an der Tür.

»Komm herein«, sagte Nuramon und hoffte, dass es jemand im Auftrag der Königin war, vielleicht ein Gefährte, den sie ihm zugewiesen hatte und den er zum Stillschweigen verpflichten konnte. Aber seine Hoffnung sollte sich nicht erfüllen.

Mandred und Farodin traten ein. Sie machten bedrückte Gesichter. »Gut, dass du noch wach bist«, sagte Farodin. Er wirkte aufgewühlt.

Nuramon versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Vor seinen beiden Kameraden galt es den schändlichen Auftrag, den er angenommen hatte, um jeden Preis zu verbergen. »Ich kann nicht schlafen.« Das entsprach sogar der Wahrheit. Er hatte in dieser Nacht kein Auge zugetan.

Farodin deutete auf den Menschensohn. »Mandred hat mir gesagt, dass du allein mit der Königin gesprochen hast. Sie hat dich also empfangen.«

»Das hat sie.«

»Ich habe ebenfalls versucht, von ihr gehört zu werden, aber seitdem du bei ihr warst, lässt sie niemanden mehr vor. Merkwürdige Gerüchte machen die Runde.«

»Welche Gerüchte?«, fragte Nuramon, bemüht, seine Aufregung zu verbergen.

»Manche sagen, die Königin hätte dich besänftigt und du hättest ihren Urteilsspruch akzeptiert. Andere behaupten, du hättest von ihr die Erlaubnis erhalten, nach Noroelle zu suchen.«

»Emerelle hat mir diese Erlaubnis nicht erteilt. Aber ihren Urteilsspruch habe ich angenommen.«

Argwohn legte sich auf Farodins Gesicht. »Das hätte ich nicht von dir erwartet.«

Endlich zeigte Farodin eine Gefühlsregung! Es mochte das Beste sein, seinen Hass auf sich zu ziehen. Dann konnte Farodin am Ende mit reinem Gewissen Noroelle gegenübertreten.

Mandred machte ein misstrauisches Gesicht. Der Menschensohn schien zu merken, dass Farodin Nuramons Worte falsch verstanden hatte.

»Wie kannst du so an Noroelle zweifeln?«, fuhr Farodin enttäuscht fort. »Hast du sie je geliebt?«

Auch wenn die Worte seines Gefährten ungerechtfertigt waren, sie schmerzten doch. »Ich liebe sie mehr denn je. Und deshalb tut es so weh zu wissen, dass wir nichts mehr tun können. Wir können die Königin nicht dazu zwingen, Noroelle freizugeben.« Es fiel Nuramon schwer, die Wahrheit zurückzuhalten.

Nun schien auch Farodins Misstrauen geweckt. Sein Gefährte sah ihn an, als könne er in sein Innerstes blicken.

»Der Junge schwindelt«, stellte Mandred trocken fest.

»Und er ist ein schlechter Schwindler«, setzte Farodin nach.

Mandred blickte zu den Taschen, die auf der Steinbank lagen. »Ich habe fast den Verdacht, er will ohne uns ausziehen, um seine Liebste zu finden.«

»Was hat die Königin gesagt?«, drängte Farodin. »Hast du um deine Verbannung gebeten? Darfst du dahin gehen, wo Noroelle ist?«

Nuramon setzte sich neben seine Taschen auf die Bank. »Nein. Ich habe alles versucht. Aber die Königin wollte sich auf nichts einlassen. Sie wollte mich nicht dorthin verbannen. Selbst wenn wir den Devanthar endgültig zur Strecke brächten, würde das nichts ändern.«

»Du willst demnach allein ausziehen, um Noroelle zu suchen.«

Lange starrte Nuramon Farodin an. Es war ihm nicht möglich, seinen Plan vor ihm zu verheimlichen. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich wünschte, ich könnte meine Sachen nehmen, aufbrechen und nach irgendeinem Weg suchen, Noroelle zu helfen.« Er hielt inne. »Wenn ich dich bitte, mich einfach ziehen zu lassen und keine Fragen zu stellen, würdest du es tun?«

»Ich habe noch eine Schuld zu begleichen. Du hast mich vom Tod zurückgeholt … Aber ich schätze, das Schicksal hat uns aneinander gebunden. Und bedenke, Noroelle hat ihre Wahl noch nicht getroffen. Deshalb ist es unsere Bestimmung, sie gemeinsam zu suchen.«

»Vor wenigen Stunden hätte ich es sein können, der das gesagt hätte.« Das Gespräch mit Emerelle hatte alles verändert.

»Was hat die Königin dir gesagt?«, fragte Farodin erneut. »Ganz gleich, worauf du dich eingelassen hast, ich werde dich dafür nicht verachten. Doch nun rede!«

»Nun gut«, sagte Nuramon und stand auf. »Sie sagte, es gäbe eine Möglichkeit, Noroelle zu retten. Und ich versprach ihr, alles zu tun, was sie verlangt.«

»Das war ein Fehler.« Farodin lächelte mitleidig. »Lernst du es denn nie?«

»Du kennst mich, Farodin. Und du weißt, wie leicht es ist, mich zu Unbesonnenheiten zu verleiten. Emerelle wusste es auch.«

Mandred mischte sich wieder ein. »Und was verlangt sie von dir?« Nuramon wich dem Blick des Menschensohns aus. Er hatte von ihnen allen den höchsten Preis gezahlt.

»Was will sie nun von dir?«, drängte Farodin.

Nuramon zögerte zu antworten, denn sobald sein Gefährte die Wahrheit kannte, würde es auch in seinem Leben kein Glück mehr geben.

»Sag es, Nuramon!«

»Bist du dir sicher, dass du es hören willst, Farodin? Manchmal ist es besser, die Wahrheit nicht zu kennen. Wenn ich rede, wird für dich nichts mehr sein wie zuvor. Wenn ich schweige, könntest du glücklich werden … Ich bitte dich! Lass mich aufbrechen, ohne weiter in mich zu dringen und ohne mir zu folgen! Bitte!«

»Nein, Nuramon. Was immer es für eine Last ist, wir müssen sie gemeinsam tragen.«

Nuramon seufzte. »Du hast es so gewollt.« Tausend Gedanken gingen ihm durch den Sinn. Fehlte ihm die Kraft, die Bluttat allein zu begehen? Hatte er sich vielleicht insgeheim doch gewünscht, die Schuld mit Farodin zu teilen, und gab er deshalb nach? Oder war es anmaßend, allein entscheiden zu wollen? War es Farodins Recht zu erfahren, was die Königin verlangte? »Ich werde ausziehen, Noroelles Sohn zu suchen und ihn zu töten«, sagte Nuramon leise.

Farodin und Mandred starrten ihn an, als warteten sie immer noch auf seine Worte.

»Lasst mich allein gehen! Hörst du, Farodin! Warte hier, bis Noroelle zurückkehrt.« Er wusste, was nun geschehen würde. Es gab kein Zurück mehr.

Wie betäubt schüttelte Farodin den Kopf. »Nein, das kann ich nicht tun. Du erwartest von mir, dass ich hier sitze und auf Noroelle warte? Was soll ich ihr sagen, wenn sie zurückkehrt? Dass ich dich habe ziehen lassen in dem Wissen, du würdest ihren Sohn töten? Nun, da ich es weiß, habe ich nur zwei Möglichkeiten: Entweder ich halte dich auf, oder ich begleite dich … Wenn ich dich hindere, ist Noroelle nicht geholfen. Also muss ich dein Schicksal teilen, um sie zu retten.«

Mandred schüttelte fassungslos den Kopf. »O Luth, was für ein Netz hast du diesen Elfen gesponnen!«

»Es sieht so aus, als meinten es deine Götter nicht gut mit uns«, bestätigte Nuramon. »Aber im Grunde tragen wir die Schuld. Die Königin hat mich an unser Versagen in der Höhle erinnert.« Er erzählte seinen Gefährten, was Emerelle ihm vorgehalten hatte.

»Soll es etwa unsere Schuld sein, dass wir keine Alben sind?«, empörte sich Mandred.

»Wenn es so ist, dann sind wir mit dieser Schuld geboren. Dann steht unser ganzes Sein unter diesem Makel.« Farodin machte eine lange Pause. »Es scheint, als würden nur noch finstere Pfade vor uns liegen. Lass uns ausreiten!«

Nuramon wandte sich an den Menschensohn. »Unsere Wege trennen sich hier, Mandred. Du hast deinen Sohn gefunden. Nimm dir Zeit für ihn und sei ihm wenigstens jetzt der Vater, den das Schicksal ihm gestohlen hat. Du bist nicht wie wir verdammt. Gehe deiner Wege und lass uns unserem düsteren Schicksal folgen.«

Der Menschensohn machte ein verdrossenes Gesicht. »Törichtes Elfengeschwätz! Wenn die Königin sagt, dass wir den Dämon hätten besiegen müssen, dann habe auch ich versagt. Unsere Wege sind ab jetzt miteinander verbunden.«

»Aber dein Sohn!«, wandte Farodin ein.

»Der wird uns begleiten. Ich muss doch sehen, ob er etwas taugt. Nehmt es mir nicht übel – aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es gut ist für einen Jungen, wenn er an einem Elfenhof aufwächst. Die Düfte hier verkleben einem ja die Lungen. Und dann die weichen Betten, das feine Essen … Wahrscheinlich hat er nie gelernt, wie man einen Hirsch ausweidet und dass man das Fleisch ein paar Tage hängen lässt, damit es schön mürbe wird. Also, versucht erst gar nicht, mich davon abzuhalten, ihn mitzunehmen. Ab nun gilt: Wo ihr hingeht, da geht auch Mandred hin!«

Nuramon tauschte einen Blick mit Farodin. Sie kannten den Dickkopf inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie ihn kaum von seinem Entschluss abbringen konnten. Farodin nickte unmerklich.

»Mandred Aikhjarto!«, hob Nuramon an. »Du hast die Standhaftigkeit des alten Atta. Wenn es dein Wunsch ist… Uns ist es eine Ehre, dich an unserer Seite zu haben.«

»Wann brechen wir auf?«, fragte Mandred tatendurstig.

Bevor Nuramon antworten konnte, sagte Farodin: »Sofort. Noch ehe irgendjemand etwas merkt.«

Mandred lachte zufrieden. »Dann wollen wir mal! Ich packe meine Sachen.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer.

»Der Menschensohn ist so laut, dass wir wohl kaum unbemerkt davonkommen«, sagte Farodin.

»Wie viele Jahre hat Mandred? Wie lange lebt ein Mensch?«

»Ich weiß es nicht genau. Vielleicht einhundert Jahre?«

»Er ist bereit, von seiner knapp bemessenen Lebenszeit zu opfern, um uns zu helfen. Ob er ahnt, wie lange unsere Suche nach dem Kind dauern kann?«

Farodin zuckte mit den Schultern. »Das kann ich nicht sagen. Aber ich bin mir sicher, dass er es ernst meint. Vergiss nicht die Macht Atta Aikhjartos. Die alte Eiche hat ihn verändert, als sie ihn gerettet hat. Er ist nicht mehr wie andere Menschen.«

Nuramon nickte.

»Ob es noch schlimmer kommen kann?«, fragte Farodin unvermittelt.

»Wenn wir tun, was die Königin verlangt, werden wir zwar Noroelle befreien, aber dafür für immer mit ihrer Verachtung leben müssen. Was sollte noch schlimmer sein?«

»Ich werde meine Sachen holen«, war alles, was Farodin darauf sagte. Leise verließ er die Kammer.

Nuramon trat ans Fenster und blickte zum Mond hinauf. Noroelles Verachtung, dachte er traurig. Es mochte noch schlimmer kommen. Es mochte sein, dass sie daran verzweifelte, dass ihre Liebsten ihren Sohn getötet hatten. Das Schicksal, oder Luth, wie Mandred es nannte, hatte sie auf einen schmerzvollen Pfad geführt. Irgendwann musste das Glück doch emporsteigen.

Es dauerte nicht lange, bis Farodin zurückkehrte. Schweigend warteten sie auf den Menschensohn. Da erklangen auf dem Flur Stimmen.

»… das ist Blutrache«, sprach Mandred.

»Rache ändert auch nichts mehr. Meine Mutter ist tot. Und was hat Noroelles Sohn damit zu tun?«

»Er ist auch der Sohn des Devanthars. Die Blutschuld seines Vaters hat sich auf ihn übertragen.«

»Das ist doch alles Unsinn!«, entgegnete Alfadas.

»Das also haben dich die Elfen gelehrt! In meiner Welt folgt ein Sohn dem Wort seines Vaters! Und genau das wirst du jetzt auch tun!«

»Sonst geschieht was?«

Nuramon und Farodin sahen einander an. Plötzlich war es totenstill vor der Tür. »Was tun die?«, fragte Nuramon leise.

Farodin zuckte mit den Schultern.

Die Tür flog auf. Mandred hatte einen hochroten Kopf. »Ich habe meinen Sohn mitgebracht. Es ist ihm eine Ehre, uns zu begleiten.«

Farodin und Nuramon griffen nach ihren Bündeln. »Lasst uns gehen!«, sagte Nuramon.

Alfadas wartete vor der Tür. Er wich Nuramons Blick aus, gerade so als schämte er sich für seinen Vater.

Leise machten sie sich auf den Weg hinab zu den Ställen.

Dort brannte trotz der späten Stunde noch Licht. Ein bocksbeiniger Stallknecht öffnete ihnen das Tor, als hätte er auf sie gewartet. Und er war nicht allein. Vier Elfen in langen grauen Umhängen standen bei den Pferden. Sie waren gerüstet, als wollten sie in den Krieg ziehen. Sie alle trugen feingliedrige Kettenhemden und waren gut bewaffnet. Ihr Anführer wandte sich mit einem schmalen Lächeln um und sah zu Mandred.

»Ollowain!«, stöhnte der Menschensohn.

»Willkommen, Mandred!«, entgegnete der Krieger und wandte sich dann an Nuramon. »Wie ich sehe, hast du dir Waffengefährten gesucht. Das wird unsere Kampfkraft stärken.«

Alfadas war überrascht. »Meister!«

Mandred zog eine Miene, als hätte er einen Huftritt ins Gemächt bekommen. Nuramon wusste, was Mandred von Ollowain hielt. Dass ausgerechnet dieser Elfenkrieger seinen Sohn unterwiesen hatte, war ein übler Streich des Schicksals.

Er trat vor. »Hat die Königin euch ausgewählt?«, fragte er Ollowain.

»Ja. Sie sagte, wir sollten uns hier bereithalten. Sie wusste, du würdest keine Zeit verlieren.«

»Sagte sie auch, worin der Auftrag besteht?«

Ollowains Lächeln schwand. »Ja. Wir sollen das Dämonenkind töten. Ich kann nicht nachfühlen, was in euch vorgeht, aber ich kann mir denken, wie bitter euch dieser Weg sein muss. Noroelle war immer gut zu mir. Sehen wir in dem Kind nicht ihren Sohn, sondern den des Devanthars! Nur so werden wir unseren Auftrag meistern.«

»Wir werden es versuchen«, sagte Farodin.

Ollowain stellte ihnen seine Begleiter vor. »Dies ist meine Schildwache, die besten Krieger der Shalyn Falah. Yilvina ist ein wahrer Wirbelwind im Kampf mit zwei Kurzschwertern.« Er deutete auf die zierliche Elfe zu seiner Linken. Sie hatte kurzes, blondes Haar und erwiderte Nuramons Blick mit einem verschmitzten Lächeln.

Als Nächstes stellte Ollowain Nomja vor, eine hoch gewachsene Kriegerin. Sie musste sehr jung sein, ihre feinen Gesichtszüge wirkten fast noch kindlich. Sie stützte sich auf ihren Bogen wie ein erfahrener Kämpe, doch wirkte diese Geste einstudiert.

»Und dies ist Gelvuun.« Der Krieger hatte ein Langschwert über den Rücken geschnallt, dessen Griff unter dem Umhang hervorragte. Ausdruckslos erwiderte er Nuramons Blick. Den Elfen wunderte das nicht, er hatte schon von Gelvuun gehört. Der Krieger galt als mürrischer Raufbold. Manche sagten, es gäbe Trolle, die umgänglicher seien. Aber niemand spottete in seiner Anwesenheit.

Ollowain trat zu seinem Pferd und griff nach einer langstieligen Axt, die vom Sattelbaum hing. In fließender Bewegung drehte er sich um und warf sie Mandred zu.

Nuramons Herzschlag setzte aus, dann sah er erleichtert, dass Mandred die Axt im Flug fing. Der Menschensohn strich fast zärtlich über das Doppelblatt der Waffe und bewunderte die verschlungenen Elfenknoten, die es schmückten. »Schöne Arbeit.« Mandred wandte sich zu seinem Sohn. »So sieht die Waffe eines Mannes aus.« Er wollte sie Ollowain zurückgeben, doch dieser schüttelte nur den Kopf.

»Ein Geschenk, Mandred. In der Welt der Menschen sollte man stets auf Ärger gefasst sein. Ich bin gespannt zu sehen, ob du mit der Axt besser kämpfst als mit dem Schwert.«

Mandred ließ die Axt spielerisch durch die Luft wirbeln. »Eine gut ausgewogene Waffe.« Plötzlich hielt er inne und legte ein Ohr auf das Axtblatt. »Hört ihr das?«, flüsterte er. »Sie ruft nach Blut.«

Nuramon spürte, wie sich ihm der Magen zusammenzog. Hatte Ollowain dem Menschen etwa eine verfluchte Waffe zum Geschenk gemacht? Nuramon kannte manch düstere Geschichte über Schwerter, die jedes Mal, wenn sie gezogen wurden, Blut vergießen mussten. Es waren Waffen des Zorns, geschmiedet in den schlimmsten Tagen des ersten Trollkriegs.

Unbehagliches Schweigen hatte sich über die Gruppe gesenkt. Außer Mandred hörte wohl keiner den Ruf der Axt, aber das mochte nichts heißen.

Schließlich ging Alfadas zu einer der Boxen weiter hinten im Stall und sattelte sein Pferd. Das brach den Bann des Schweigens.

Nuramon wandte sich an den Stallknecht. »Hat die Königin Pferde für uns bereitgestellt?«

Der Bocksbeinige deutete nach rechts. »Dort stehen sie.« Nuramon glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Das war sein Schimmel!

»Felbion!«, rief er und trat zu ihm.

Auch Farodin war überrascht, seinen Braunen wiederzusehen. Selbst Mandred sagte: »Bei allen Göttern, das ist ja mein Pferd!«

Sie führten die Tiere zu Ollowain. »Wie kann das sein?«, fragte Nuramon. »Wir mussten sie in der Anderen Welt zurücklassen.«

»Wir haben sie bei dem Steinkreis am Fjord gefunden. Sie warteten dort auf euch«, erklärte Ollowain. Er schaute zum Stallburschen. »Ejedin hat sich gut um sie gekümmert. Das stimmt doch, oder?«

»Natürlich«, antwortete der Faun. »Sogar die Königin ist manches Mal gekommen, um nach den Pferden zu sehen.«

Nuramon empfand diese Fügung als ein gutes Vorzeichen. Selbst Farodins Stimmung schien sich zu heben. Nuramon war aufgefallen, dass Farodin sich gegenüber Ollowain sehr zurückhaltend gab. Es war keine Abneigung wie in Mandreds Fall. Vielleicht vertraute Farodin der Königin nicht mehr so wie einst, und da Ollowain ein Diener Emerelles war, mochte er auch ihm misstrauen.

Der Morgen nahte auf silbernen Schwingen, als die Gemeinschaft ihre Pferde auf den Hof hinausführte. In der Burg war es noch immer still. Niemand außer den Torwachen würde sie ausreiten sehen. Größer könnte der Unterschied zu ihrer letzten Abreise nicht sein. Damals waren sie im Tageslicht wie Helden aufgebrochen, nun aber schlichen sie sich Häschern gleich davon.

Die Saga von Alfadas Mandredson

Die erste Reise

Noch im selben Winter verließen Mandred und Alfadas Seite an Seite das Reich der Albenkinder. Der Vater wollte sich gewiss sein, dass der Sohn seiner Nachfolge würdig war. So zogen sie mit den Elfenprinzen Faredred und Nuredred aus und suchten das Abenteuer, wo es sich ihnen bot. Keinem Kampf wichen sie je aus, und wer ihnen in den Weg trat, der bereute es, noch ehe der erste Hieb geführt ward. Alfadas folgte seinem Vater an Orte, die kein Fjordländer zuvor gesehen hatte. Doch Torgrids Sohn sorgte sich zu sehr um seinen Spross. Er unterwies ihn im Kampf mit der Axt, ließ es aber nur selten zu, dass Alfadas sein Können erprobte. Und wann immer die Gefahr groß war, musste der Sohn Mandreds die Pferde oder das Lager bewachen.

Ein Jahr verging, da sprach Alfadas zu Mandred: »Vater, wie soll ich lernen, so wie du zu sein, wenn du mich vor jeder Gefahr bewahrst? Wenn du immerzu fürchtest, mir könnte etwas geschehen, dann werde ich nie der Jarl von Firnstayn werden.«

Da erkannte Mandred, dass er sein Fleisch und Blut bislang um jeden Ruhm betrogen hatte. Er fragte die Elfenprinzen um Rat. Die sagten ihm, er solle seinen Sohn vor eine Prüfung stellen. So schlich sich Mandred des Nachts davon, um einen steilen Berg voller Gefahren zu besteigen. Auf dem Gipfel rammte er seine Axt in den Boden und kehrte ohne sie ins Tal zurück.

Am nächsten Morgen sprach er zu Alfadas: »Steig hinauf auf diesen Berg und hole das, was ich dort oben versteckt habe.«

So machte sich Alfadas auf den Weg, den Mandred ihm gewiesen hatte. Kaum war der Sohn gegangen, da geriet Mandred in große Sorge, denn der Aufstieg war voller Gefahren. Alfadas aber mühte sich den Berg hinauf und fand schließlich unterhalb des Gipfels eine Höhle. Da steckte ein Schwert im Eis. Das nahm er und kletterte hinauf zum Gipfel, um die Aussicht zu genießen. Dort steckte die Axt seines Vaters. Alfadas ließ sie, wo sie war, und kehrte zurück ins Tal zu den anderen. Die staunten, als sie die fremde Klinge sahen. Nur Mandred war verärgert: »Sohn! Das ist nicht die Waffe, die ich dort oben versteckt habe.«

Da sprach Alfadas: »Aber Vater, die einzige Waffe, die dort oben versteckt war, war dieses Schwert. Deine Axt ragt offen aus dem Gipfeleis. Hätte ich den Blick eines Adlers, so könnte ich sie gewiss von hier aus sehen, so wenig ist sie versteckt. Du nanntest mir das falsche Ziel, doch hast du mir den rechten Weg gewiesen.«

So musste Mandred den Berg noch einmal besteigen, um seine Axt zu holen. Fluchend kehrte er zurück. Als Faredred und Nuredred dem Sohn des Torgrid aber erklärten, dass sie in Alfadas’ Schwert eine edle Klinge aus Albenmark erkannt hätten, da verflog Mandreds Zorn, und er wurde stolz auf seinen Sohn. Denn dieses Schwert war eines Königs würdig. Alfadas aber beschloss, dass eben das Schwert künftig seine Waffe sein würde, weil Luth es ihm zum Geschenk gemacht hatte. Zu seinem Vater sprach er: »Die Axt ist die Waffe des Vaters, das Schwert die des Sohnes. So werden Vater und Sohn sich nie miteinander messen müssen.«

Sie setzten ihre Reise fort, doch Mandred zweifelte noch immer an seinem Sohn. Bald darauf durchquerten sie ein Gebirge. Es hieß, ein Troll lebe dort in einer Höhle. Des Nachts hörten sie ein Hämmern und glaubten, der Troll wolle sie erschrecken. Da beschlossen Faredred und Nuredred hinabzusteigen, um das Ungeheuer zu erschlagen, aber Mandred hielt sie zurück. Zu seinem Sohn sprach er: »Geh du zum Troll! An deinem Tun werde ich dich messen.«

Alfadas wagte sich hinab in die Höhle des Trolls. Er fand ihn dort an einem Amboss stehen. Der Troll erblickte ihn und hob seinen Hammer. Da drohte Alfadas ihm mit seinem Schwerte und sprach: »Ein Teil von mir sieht einen Feind und sagt: Streck ihn nieder! Ein anderer sieht den Schmied vor Augen. Entscheide, was du sein willst!«

Der Troll wollte lieber der Feind sein und griff ihn an. Doch Alfadas wich den schweren Hammerhieben aus und ließ ihn sein Schwert spüren. Da gab der Troll auf und sagte: »Mein Name ist Glekrel, und wenn du mein Leben schonst, dann will ich dir ein königliches Geschenk machen.«

Alfadas traute dem Troll nicht. Als dieser aber eine Elfenrüstung hervorholte und ihm zum Geschenk machte, da legte Alfadas voller Freude seine Rüstung ab, um die andere anzulegen. Doch ehe er erneut gerüstet war, griff der Troll ihn an. Da geriet der junge Recke so sehr in Zorn, dass er dem Troll ein Bein abschlug. Die Elfenrüstung nahm er an sich und ging seiner Wege. Noch heute ist diese Rüstung im Besitz des Königs und erinnert an jene frühen Tage. Selbst die Trolle wissen um die Begebenheit, denn Glekrel überlebte und erzählte, was Mandreds Sohn ihm angetan habe.

Am nächsten Morgen kehrte Alfadas zu seinen Gefährten zurück. Und als Mandred seinen Sohn gewahrte, da war er abermals stolz, dessen Vater zu sein. Denn Alfadas sah nun wahrhaftig wie ein König aus.

Sodann durchstreiften die Gefährten die Gefilde im Süden und stießen auf ein weites Meer und mächtige Königreiche. Sie vollbrachten große Taten, sodass ihr Name dort noch heute in aller Munde ist. Einmal schlugen sie hundert Krieger aus Angnos zurück, um ein Dorf zu retten, das sie an das junge Firnstayn erinnerte. Auch befreiten sie die Feste von Rileis von ihren Geistern. In zahlreichen Zweikämpfen erwies sich Alfadas als ein gewandter Schwertkämpfer, der neben Faredred und Nuredred bestehen konnte. So waren zwei weitere Jahre vergangen, als Mandred und Alfadas den Elfenprinzen aus Freundschaft in die Stadt Aniscans folgten. Dort wollten die Prinzen nach einem Wechselbalg suchen …

Nach der Erzählung des Skalden Ketil,

Band 2 der Tempelbibliothek zu Firnstayn, s. 42

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