Neue Wege

Farodin strich seinem Hengst beruhigend über den Nacken. Das Tier war genauso unruhig wie er. Misstrauisch blickte der Elf in die Finsternis. Nuramon hatte ihm und Mandred genau geschildert, was sie erwarten würde. Doch Farodin hätte nicht damit gerechnet, dass es so sehr an seinen Nerven zerren würde.

Es war unheimlich still. Unablässig hatte er das Gefühl, dass dort draußen etwas lauerte. Aber was sollte im Nichts schon überleben?

Sorgsam achtete er darauf, den schmalen Pfad aus pulsierendem Licht nicht zu verlassen, der durch die endlose Dunkelheit schnitt. Es war unmöglich zu sagen, was ihn jenseits des Pfades erwartete. War der Weg wie eine schmale Brücke über einen Abgrund?

Nach wenigen Schritten erreichten sie einen Punkt, an dem sich vier Lichtpfade schnitten. Ein Albenstern. Nuramon, der vorausging, verharrte kurz. Dann wechselte er auf eine rötliche Lichtbahn und winkte ihnen, ihm zu folgen.

Farodin und Mandred sahen einander beklommen an. Es gab keine Möglichkeit, sich hier zu orientieren. Man musste das Gespinst der leuchtenden Pfade kennen, oder man war hoffnungslos verloren.

Wieder waren es nur wenige Schritte, die sie taten. In der Welt der Menschen mochten es hunderte Meilen sein. Am nächsten Albenstern überschnitten sich sechs Pfade. Ein siebenter stach senkrecht durch den Wegstern. Plötzlich wirkte Nuramon unruhig.

Farodin sah sich um. Hier wogten dünne Nebelschleier in der Finsternis. War da ein Geräusch? Ein Scharren wie von Krallen? Unsinn!

Plötzlich wölbte sich vor ihnen ein Bogen aus Licht. Nuramon führte sein Pferd hindurch. Farodin nickte Mandred zu, vor ihm zu gehen. Nachdem der Jarl verschwunden war, verließ auch der Elfenkrieger die unheimlichen Pfade zwischen den Welten.

Sie fanden sich in einem weiten Gewölbe wieder. Der Boden war mit einem farbenfrohen Mosaik ausgelegt. Es zeigte eine aufgehende Sonne und sieben Kraniche, die in verschiedene Himmelsrichtungen von der Sonne fortflogen. Auf den Wänden rings herum waren Bilder eines Festmahls von Kentauren, Faunen, Elfen, Zwergen und anderen Albenkindern zu sehen. Aber die Gesichter der Figuren waren zerkratzt oder mit Ruß beschmiert. Auf jede Wand war ein schwarzer Baum gemalt worden. Zauberzeichen in dunkler Farbe waren auf das Bodenmosaik geschmiert. Abgebrannte Kerzen hatten flache Wachspfützen zurückgelassen.

Farodins Hand tastete nach dem Schwert. Er kannte dieses Gewölbe. Es lag unter der Villa Sem-las, jener Elfe, die als Witwe eines Kaufmanns getarnt über den einzigen großen Albenstern wachte, der von Iskendria in die Bibliothek der Albenkinder führte.

»Was ist los?«, fragte Farodin. »Warum hast du uns nicht gleich bis in die Bibliothek gebracht? Wir hätten die Pferde auch im Quartier der Kentauren unterstellen können.«

Nuramon wirkte verstört. »Das Tor. Es hat sich verändert. Es gibt dort eine …« Er zögerte kurz. »… eine Barriere.«

Farodin atmete flach aus. »Eine Barriere? Sag, dass das nicht wahr ist! Das ist nur ein Scherz von dir!«

»Nein. Aber dieser Schutzzauber ist nicht wie bei Noroelles Insel. Er ist …« Er zuckte hilflos mit den Achseln. »Anders.«

Mandred grunzte. »Hier ist einiges anders.« Er deutete auf die Zeichen am Boden. »Sieht wie übler Hexenzauber aus. Was kann hier geschehen sein?«

»Das muss uns nicht kümmern«, entgegnete Farodin harsch. »Kannst du das Tor öffnen, Nuramon?«

»Ich glaube …« Ein klirrendes Geräusch erklang.

Noch bevor Farodin ihn aufhalten konnte, hatte Mandred seine Axt gezogen und war mit drei langen Schritten die Rampe hinaufgelaufen, die aus dem Gewölbe führte.

»Verdammter Hitzkopf!«, fluchte Farodin und wandte sich an Nuramon. »Sieh zu, dass du das Tor öffnest! Ich hole ihn zurück.«

Farodin lief die Rampe hoch. Sein Weg führte ihn durch mehrere kleine Kellerräume, bis er plötzlich einen gellenden Schrei hörte.

Bei den Vorratsräumen fand er Mandred. Er hatte einen ausgemergelten Mann mit dunklem Stoppelbart aus einer Ecke gezogen. Auf dem Boden stand eine flackernde Öllampe. Überall lagen die Scherben von dickwandigen Amphoren. Neben der Öllampe stand eine kleine Schale mit Linsen. Der Mann wimmerte und versuchte sich aus Mandreds Griff zu winden, doch er war hilflos gegen die Kraft des Nordmanns.

»Ein Plünderer«, erklärte Mandred voller Verachtung. »Er war dabei, Sem-la zu bestehlen. Ich habe ihn erwischt, als er gerade eine der Amphoren einschlagen wollte.«

»Bitte, tötet mich nicht«, flehte Mandreds Gefangener auf Valethisch, der Sprache, die man entlang der Küsten von Iskendria bis Terakis sprach. »Meine Kinder sind am Verhungern. Ich will es doch gar nicht für mich.«

»Na, wimmert er um Gnade?«, fragte Mandred, der offenbar kein Wort verstand.

»Sieh ihn dir an!«, entgegnete Farodin zornig. »Die eingefallenen Wangen. Die spindeldürren Beine. Er erzählt mir von seinen verhungernden Kindern.«

Mandred räusperte sich leise und wich dem Blick des Elfen aus. Dann ließ er seinen Gefangenen los.

»Was geschieht in der Stadt?«, fragte Farodin.

Der Mann sah sie überrascht an, wagte aber nicht zu fragen, warum sie so unwissend waren. »Die weißen Priester wollen Balbar erschlagen. Seit mehr als drei Jahren belagern sie die Stadt. Sie sind übers Meer gekommen, um unseren Gott zu töten. Seit vor drei Monden das Westtor gefallen ist, dringen sie Viertel um Viertel weiter vor. Doch die Tempelgarden treiben die Tjuredjünger mit Balbars heiligem Feuer immer wieder zurück.«

»Tjured?«, fragte Farodin verwundert.

»Ein elender Bastard! Seine Priester sagen, dass es nur einen Gott gibt. Sie behaupten auch, wir hätten Handel mit Dämonenkindern getrieben. Sie sind völlig verrückt! So verrückt, dass sie einfach nicht begreifen wollen, dass sie nicht siegen können.«

»Du sagtest doch, sie hätten schon Teile der Stadt erobert«, entgegnete Farodin nüchtern.

»Teile«, der hagere Mann winkte ab. »Niemand kann Iskendria ganz erobern. Zweimal schon hat Balbars Feuer ihre Flotte verbrannt. Sie sterben zu Tausenden.« Unvermittelt begann er zu schluchzen. »Seit sie den Hafen halten, bekommen wir keinen Nachschub mehr. Es gibt hier nicht mal mehr Ratten, die man noch essen könnte. Wenn diese verdammten Priesterritter nur endlich einsehen würden, dass man Iskendria nicht erobern kann. Balbar ist zu stark. Wir opfern ihm jetzt zehnmal am Tag. Er wird unsere Feinde in ihrem eigenen Blut ertränken!«

Farodin dachte an das Mädchen, das damals auf den Handflächen des Götzenbildes verbrannt war. Zehn Kinder jeden Tag! Was war das nur für eine Stadt? Er würde es nicht bedauern, wenn Iskendria unterging.

»Seid ihr Freunde der Herrin Al-beles?« Der Mensch sah in Richtung der Vorratsamphoren. »Ich habe es für meine Kinder getan. Es bleiben immer ein paar Linsen oder Bohnen zurück in den großen Amphoren. Man bekommt sie nie ganz leer.« Er senkte den Blick. »Es sei denn, man zerschlägt sie.«

Farodin hatte davon gehört, dass Sem-la schon früher mehrfach in eine andere Rolle geschlüpft war und sich für ihre eigene Nichte ausgegeben hatte, um das Haus weiterführen zu können. Als Elfe, die niemals alterte, war sie etwa alle zwanzig Jahre zu solchen Maskeraden gezwungen. Farodin hatte keinen Zweifel daran, dass diese Al-beles dieselbe Elfe war, die er als Sem-la kennen gelernt hatte.

»Was ist in dem Gewölbekeller geschehen?«, fragte Farodin.

»Als das Viertel besetzt wurde, sind Mönche hierher gekommen. Ich glaube, sie waren auch im Keller. Es heißt, sie hätten nach Dämonen gesucht.« Der Mann senkte die Stimme. »Sie suchen überall nach Dämonen. Sie sind verrückt!«

»Lass uns gehen, Mandred«, sagte Farodin auf Fjordländisch. »Wir müssen wissen, ob die Gefahr besteht, dass wir gestört werden, oder ob Nuramon in Ruhe seinen Zauber wirken kann.«

»Das mit seinen Kindern tut mir Leid«, entgegnete der Krieger zerknirscht. Er zog einen seiner breiten, silbernen Armreifen ab und schenkte ihn dem Mann. »Ich war zu voreilig.«

Farodin empfand kein Mitleid für den Plünderer. Heute kümmerte er sich selbstlos um seine Kinder. Aber vermutlich würde er sich geehrt fühlen, wenn morgen die Priesterschaft eine seiner Töchter forderte, um sie öffentlich zu verbrennen.

Der Elf eilte die Treppe hinauf und trat auf den weiten Hof der Villa. Über ihm spannte sich ein blutroter Nachthimmel. Die Luft war erfüllt von erstickendem Rauch. Sie durchquerten die Haupthalle und eilten zur Terrasse an der Rückseite des Hauses. Die Villa lag auf einem niedrigen Hügel, sodass sie einen guten Blick über die Stadt hatten.

»Bei allen Göttern!«, rief Mandred. »Was für ein Feuer!«

Der ganze Hafen stand in Flammen. Selbst das Wasser schien zu brennen. Alle Lagerhäuser rings herum waren eingestürzt, die mächtigen Holzkräne verschwunden. Etwas weiter westlich schossen glühend weiße Feuerkugeln vom Himmel herab in eine der Vorstädte. Farodin beobachtete, wie weiß gewandete Krieger, die in dichten Kolonnen durch die engen Straßen drängten, verzweifelt den Brandgeschossen zu entgehen versuchten.

»Fleisch, das faulig geworden ist, muss man ausbrennen«, erklang hinter ihnen die Stimme des Plünderers. Der dürre Mann trat auf die Terrasse. Seine Augen glänzten fiebrig. »Die Tempelwachen verbrennen die Stadtviertel, die verloren gegangen sind.« Er lachte. »Iskendria kann nicht erobert werden! Die weißen Priester werden alle verrecken.« Er deutete zum Hafen hinunter. »Seit zwei Tagen brennt ihre Flotte schon. Die Tempelwachen haben durch die Kanäle Balbars Feuer ins Hafenwasser geleitet und dann entzündet. All diese Priester werden verbrennen, so wie ihr verfluchter …« Mitten im Satz brach er ab und deutete auf die Straße, die den Hügel hinaufführte. »Sie kommen zurück.« Eine Gruppe Krieger in weißen Waffenröcken eskortierte mehrere Mönche in nachtblauen Gewändern. Feierlich singend hielten sie geradewegs auf die Villa zu.

»Ihr wart gut zu mir«, sagte der Mann gehetzt. »Deshalb rate ich euch, schnell zu verschwinden. Ihr seht ein wenig seltsam aus … Und die dort unten bringen alle um, die seltsam aussehen.«

»Was sagt der Kerl?«, fragte Mandred.

»Dass wir die Gastfreundschaft der Stadt nicht überbeanspruchen sollten. Komm, gehen wir zurück zu Nuramon.«

Der Jarl strich über das Blatt seiner Axt. »Die paar Mann dort unten jagen dir doch keine Angst ein, oder?«

»Wenn zwei Heere, die beide offensichtlich von Wahnsinnigen befehligt werden, aufeinander eindreschen, dann werde ich tunlichst darauf achten, nicht im Weg zu stehen, Mandred. Wir haben mit deren Krieg nichts zu schaffen. Sehen wir zu, dass wir hier wegkommen!«

Der Krieger brummelte etwas Unverständliches in seinen Bart und verließ die Terrasse. Im Gewölbekeller erwartete Nuramon sie schon. Ein goldener Lichtbogen wuchs inmitten des Mosaiks empor. Der Elf grinste. »Es war nicht schwer, die Barriere zu durchbrechen. Der Schutzzauber ist von seltsamer Struktur gewesen. So als wäre er nicht erschaffen worden, um Albenkinder fern zu halten.«

Farodin griff nach den Zügeln seines Hengstes, ohne weiter auf die Erklärungen seines Gefährten zu achten.

Nuramons Lächeln verschwand. »Stimmt etwas nicht?«

»Wir haben es nur eilig mit dem Aufbruch.« Entschieden trat Farodin durch das Licht. Einen Herzschlag lang war er geblendet. Dann blickte er einer gespannten Armbrust entgegen.

»Nicht schießen!«, gellte eine raue Stimme. »Es sind Elfen!«

»Liuvar!«, rief jemand anderes.

Farodin hatte sich im Reflex geduckt und nach seinem Schwert gegriffen. Der Albenstern war von seltsamen Gestalten umringt: zwei Hüter des Wissens in roten Kutten, die gezogene Schwerter hielten, einige Gnome mit Armbrüsten und ein weißer Kentaur, in dem Farodin Chiron wiedererkannte. Auch der steinerne Gallabaal war unter den seltsamen Wächtern.

Nuramon und Mandred kamen mit ihren Pferden durch das Tor.

Knirschend trat der Gallabaal einen Schritt auf den Menschensohn zu. Einer der Gnome zielte mit seiner Armbrust auf Mandreds breite Brust.

»Liuvar! Frieden!«, rief der Kentaur. »Ich kenne die drei. Der Mensch ist ein aufgeblasener Nichtsnutz, aber sie sind keine Feinde.«

»Was ist hier los?«, wollte Nuramon wissen.

»Das könnt ihr vermutlich besser beantworten«, entgegnete Chiron herablassend. »Was geht in der Menschenwelt vor sich?«

Farodin berichtete kurz von dem Treffen mit dem Plünderer und der brennenden Stadt. Als er endete, sahen sich die Wächter verwirrt an.

Chiron räusperte sich leise. »Ihr müsst einen Zeitsprung gemacht haben, als ihr durch das Tor gekommen seid. Iskendria ist seit mehr als hundert Jahren nur noch ein Ruinenfeld.« Er hielt inne, um den dreien Gelegenheit zu geben, das Gehörte aufzunehmen. Schließlich fuhr er mit seinen Erklärungen fort. »Die Tjuredmönche haben es immer noch nicht aufgegeben, die Barriere zur Bibliothek durchbrechen zu wollen. Sie halten den Albenstern besetzt und haben dort sogar einen ihrer Turmtempel errichtet. So verhindern sie, dass Albenkinder auf diesem Wege zu uns gelangen. Ihr seid seit Jahren die ersten Gäste hier unten.« Er verneigte sich förmlich. »Ich heiße euch im Namen der Hüter des Wissens willkommen.«

»Stellen sie denn wirklich eine Gefahr dar?«, fragte Nuramon.

Chirons Schweif zuckte unruhig. »Ja, das tun sie. Blinder Hass auf alle Albenkinder treibt sie an. Die Frage ist nicht, _ob_ sie hierher in unser Refugium in der Zerbrochenen Welt kommen, sondern _wann_ sie kommen. Bei uns macht sich keiner etwas vor, was die Gefahr angeht. All unsere Gäste und die meisten Hilfskräfte haben uns verlassen.« Er sprach voller Verbitterung. Dann breitete er in pathetischer Geste die Arme aus. »Die sterbende Bibliothek steht euch zur Verfügung. Sogar dir, Menschensohn. Seid uns willkommen!«

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