Nuramon schmerzte jeder Knochen im Leib. Merkwürdigerweise empfand er keine Befriedigung, als er den Leib des toten Devanthars betrachtete.
Hier war alles getan. Der Feind war tot, die Wunden ein wenig geheilt. Es blieb ihnen nur noch, von diesem schrecklichen Ort zu verschwinden.
Müde kehrte er mit seinen Gefährten in die Halle zum Albenstern zurück. Mandred und Farodin trugen Liodreds Leiche, und dem Jarl war die Trauer anzusehen. Vorsichtig legten die beiden den Leichnam des Königs neben den goldenen Stern.
»Wir hätten dich nicht mitnehmen sollen«, sagte Mandred, strich Liodred zärtlich über das Gesicht und schloss dessen Augen.
In Farodins Antlitz stand Sorge. Nuramon teilte dieses Gefühl. Sein Gefährte hatte ihm von den letzten Worten des Devanthars berichtet. War Noroelle in Gefahr? Oder war die Drohung nur ein letzter, verzweifelter Versuch gewesen, sie einzuschüchtern? Nein, sie hatten ihn besiegt! Es konnte keinen Zweifel geben. Dass Farodin den Albenstein in der Hand hielt, war der Beweis ihres Triumphes. Aber diesen würden sie erst genießen können, wenn sie wieder in der Menschenwelt waren und das Kloster verlassen hatten. Im schlimmsten Fall mussten sie sich ihren Weg freikämpfen, und dann würden sie Mandred klarmachen müssen, dass er den Körper des Königs nicht mitnehmen konnte.
Nuramon stellte sich auf die goldene Platte. Er würde das Tor öffnen und sich bereithalten, rasch ein Neues aufzutun, das sie sogleich aus dem Tjuredkloster nach Firnstayn führen würde. Er konzentrierte sich auf den Zauber. Um ihn herum erschienen die Albenpfade. Doch irgendetwas stimmte nicht. Die Pfade hatten sich verändert, schienen von züngelnden Flammen umgeben. Er versuchte den Zauber zu wirken, doch schon im Ansatz fuhr ein Schmerz in seinen Geist, als griffen glühende Hände nach seinem Kopf, um ihre Finger in seinen Schädel hineinzuschmelzen.
Erschöpft brach er den Zauber ab und fiel auf die Knie. Als er wieder klar sehen konnte, blickte er in die entsetzten Gesichter seiner Gefährten.
»Was ist geschehen?«, fragte Mandred.
»Nein, nur das nicht!«, rief Farodin. Sein Blick schien ins Leere zu gehen, doch Nuramon wusste, was sein Gefährte sah. Die Flammen um die Albenpfade konnten auch ihm nicht verborgen bleiben. »Das ist die Rache des Devanthars!«
Sie waren eingesperrt. So wie die Barriere der Königin den Weg zu Noroelle blockierte, hinderte sie die Barriere des Devanthars daran, die Zerbrochene Welt zu verlassen. Nuramons Blick fiel auf den Albenstein in Farodins Händen. Er war ihre einzige Hoffnung. Doch sie wussten nichts über diesen Stein und mussten erst lernen, seine Macht zu nutzen. Es mochte Jahre dauern, bis sie die Geheimnisse des goldenen Edelsteins enträtselt hätten. Und diese Zeit hatten sie nicht, denn hier gab es weder Wasser noch Nahrung. Sie würden verdursten, ehe sie den Stein auch nur im Ansatz ergründet hätten.
»Da!«, rief Mandred plötzlich und deutete auf eine der großen Silberplatten, welche den Albenstern umgaben. Der Jarl ging davor in die Hocke.
Nuramon und Farodin blickten ihm über die Schulter. Auf der Fläche der Silberplatte erschien ein Bild, fast wie im Wasserspiegel der Königin. Es zeigte den Fjord von Firnstayn. Sie konnten westlich am Steinkreis vorbei hinab zur Stadt blicken. Es war bereits Morgen, und die Siegesfeuer schienen verloschen zu sein. Der Arm des Fjords erstreckte sich nach Süden. Die Galeeren der Elfen und die schwimmenden Festungen der Trolle waren verschwunden. Entlang der Ufer waren noch die grauen Aschehügel der Scheiterhaufen zu sehen. Es gab keinen Zweifel: Die Silberplatte zeigte Firnstayn nach der Seeschlacht.
Mit einem Mal regte sich etwas. Es waren die Wellen! Sie bewegten sich, als wehte im Fjord ein heftiger Wind. Doch irgendetwas stimmte nicht mit dem Bild. Für starken Wind waren die Wellen viel zu klein. Wolken kamen in Sicht und zogen geschwind über den blauen Himmel. Als die Sonne erschien und sich schnell voranschob, war klar, dass es kein Wind war, der Wolken und Wellen bewegte. Die Sonne strebte rasch zum Horizont, und die Nacht kam mit ihren Sternen, nur um wenige Herzschläge später einem neuen Tag zu weichen.
Die Zeit ging vor ihren Augen vorüber. Nuramon musste an die Höhle des Luth denken. Vor der Eiswand, die ihnen den Ausgang versperrt hatte, hatten sie damals ein ähnliches Lichtspiel beobachtet. Und damals waren sie dreißig Jahre später aus der Höhle herausgekommen.
Mandred sprach aus, was Nuramon dachte. »Bei Luth! Dieser verdammte Devanthar hat uns in die gleiche Falle wie damals gelockt!« Der Jarl schüttelte unglücklich den Kopf und starrte auf seine Stadt.
»Nur ist diesmal niemand da, der uns befreien wird«, sagte Farodin leise. »Wir Narren!«
»Vielleicht kommt die Königin uns zu Hilfe«, wandte Nuramon ein.
»Erinnerst du dich an das, was die Königin gesagt hat?«, fragte Farodin. »Der Devanthar hat mit ihr oder der Trollschamanin gerechnet.«
Nuramon erinnerte sich daran. Die Königin hatte aber auch von anderen Mächtigen gesprochen. Doch das mochte im Augenblick nichts bedeuten. »Du meinst, wir sind nun für die Königin in die Falle gegangen?«
»Ja. Und sie wird alles andere tun, als sich in das Kloster zu wagen, wo der Zauber eines Priesters mit Dämonenblut in seinen Adern sie das Leben kosten könnte.«
Nuramon nickte. Farodin hatte Recht. Sie waren auf sich allein gestellt. »Dann müssen wir versuchen, gegen die Macht des Devanthars anzukommen. Wir haben keine andere Wahl.
Wir können nur hoffen, dass wir irgendwie lernen, den Albenstein zu nutzen.«
»Wie kann das sein?«, rief Mandred.
Nuramon schaute auf die Silberplatte. Tag und Nacht waren nicht mehr zu unterscheiden. Es gab nur das trübe Licht der Dämmerung. Schnee und Gras wechselten sich ab und zeigten, wie rasch die Jahre vorüberzogen. Doch das war es nicht, was Mandred bewegte. Er deutete auf den Steinkreis. Dort war ein Tor zu sehen, aber nicht das Nebeltor, das ihnen vertraut war. Nichts verhüllte die Pforte, sie konnten direkt nach Albenmark schauen, den Hügel hinabblicken und die Turmruine sehen. Sogar Atta Aikhjartos volles Geäst war zu erkennen. »Warum steht das Tor offen?«
Nuramon war entsetzt. Wenn die Zeit so rasch vor ihren Augen vorüberlief, blieb nur das sichtbar, was Bestand hatte. Das waren die Berge, die Stadt, die verschwommene Fläche des Wassers, der Steinkreis und der Blick nach Albenmark. Wenn ein Elf oder ein Mensch vor ihren Augen vorüberginge, würden sie es nicht einmal merken, es sei denn, er würde eine ganze Jahreszeit unbeweglich verweilen. Das Tor nach Albenmark stand offen, während sich die Jahreszeiten immer schneller vor ihren Augen abwechselten. Auch die Stadt wuchs. Immer größer wurde der Hafen. Wie Jahresringe wucherten Häuserreihen über die Mauern hinaus, bis eine zweite, starke Stadtmauer mit hohen Türmen angelegt wurde.
Dann geschah etwas, das sie nie und nimmer erwartet hätten. Die Pforte nach Albenmark verbreitete sich, wie ein Riss, der durch die Welt ging. Er reichte die Steilklippe hinab bis zum Fjord, zog sich über das Wasser bis zum Strand, wo Emerelle ihnen das Tor zum Kloster erschaffen hatte. Was geschah da nur? War dies das Ende von Albenmark, und sie konnten nichts anderes tun als zusehen? Wut keimte in Nuramon auf.
»Das kann nicht wahr sein«, sagte Farodin. »Das muss eine Täuschung sein! Eine Illusion des Devanthars! Das ist nicht die Wirklichkeit!«
Nuramon schüttelte den Kopf. Er glaubte nicht daran. »Gib mir den Albenstein, Farodin!« Er wartete nicht einmal, bis dieser seinen Worten nachkam, sondern nahm ihn sich einfach.
Farodin blickte ihn missmutig an, doch dann bemerkte er Nuramons entschlossenen Gesichtsausdruck. »Du wirst es schaffen«, sagte er.
Mandred hingegen war völlig abwesend und hatte nur Augen für das Bild am Boden.
Nuramon trat zurück auf die goldene Bodenplatte und bereitete sich auf den Zauber vor. Was immer auch geschah, er würde nicht aufgeben, ehe er die Barriere durchbrochen hätte.
Kaum hatte er mit dem Zauber begonnen, da flammte das Feuer um die Albenpfade auf und schlug ihm entgegen. Glühende Zungen drangen ihm in den Schädel. Doch er ließ nicht ab, sondern kämpfte dagegen an. Schnell merkte er, dass er der Zauberkunst des Devanthars weit unterlegen war. Verzweifelt versuchte er einen Weg zu finden, die Magie des Albensteins für sich zu gewinnen. Er stellte sich vor, dass er von seiner Kraft erfüllt wurde, doch nichts geschah. Er drückte seine Hände fest gegen den Stein, als könnte er die Macht aus ihm herauspressen. Selbst einen Heilzauber versuchte er über den Edelstein zu sprechen. Vergebens! Der Albenstein, dessen verborgene Zauberkraft er zwar spüren konnte, entzog sich seiner Macht, während die Hitze der Flammen ihn zu verbrennen schien. Kälte war alles, was der Stein ihm schenken konnte. Seine Hände waren von der Hitze befreit.
Das war es! Es ging noch nicht darum, mit aller Macht das Feuer zu durchstoßen, sondern darum, die Flammen auszuhalten. Die Kälte des Albensteins gegen die Hitze des Feuers! Sanft strich er über die Oberfläche des Chrysoberylls und fühlte sich in die Kälte ein, die ihm innewohnte. Und er spürte, wie ein kühler Fluss seine Arme heraufströmte und sich langsam in seinem Körper verteilte, so wie das Blut, das durch die Adern floss. Der Stein war eine Quelle. Er dachte an Noroelles Quelle unter den beiden Linden und an die Zaubersteine, die darin lagen. Die Flammen leckten zwar noch an Nuramon, doch er konnte sehen, wie sie bei der geringsten Berührung zurückzuckten. Jetzt musste er die Kraft des Steins nur noch lenken, um die Barriere zu durchbrechen, und sie hätten es geschafft. Als er aber den Stein näher ans Feuer führte, verbrannte er sich die Handrücken, während seine Handflächen vereist schienen.
»Du musst dich beeilen!«, rief Mandred mit hallender Stimme. »Hörst du! Du musst dich beeilen, sonst ist alles verloren!«
Fast hätte er den Zauber abgebrochen, um zu sehen, was den Jarl zu diesen Worten bewegt hatte. Doch er hielt sich zurück und biss die Zähne zusammen.
Seine Hände waren zwischen Glut und Frost gefangen. Er durfte nicht aufhören. So brachte er den Albenstein näher zum Albenstern.
»Gut so!«, rief Mandred. »Es wird langsamer! Gut so!«
Als Nuramon die Worte hörte, wurde ihm klar, dass er nicht nur gegen eine Barriere ankämpfte, sondern auch gegen den Zauber, der das Bild von Firnstayn schuf. Die Flammen, die den Pfad zur Silberplatte umgaben, leuchteten heller als die der anderen Pfade.
Nuramon begann zu zittern, als er den Albenstein direkt über die Flammen hielt. Er verlor die Macht über die Magie.
»Bei allen Alben!«, hörte er Farodin rufen. »Schnell! Nuramon! Schnell!«
Nuramon spürte, wie es kühler und kühler wurde. Seine Hände schienen einzufrieren. Es war ihm, als fräße sich der Frost durch seine Adern. Der Stein war längst keine Quelle der Kälte mehr, sondern ein Meer, in dem Nuramon zu ertrinken drohte. Die Macht des Steins drohte ihn zu überwältigen.
»Du musst es schaffen, Nuramon!«, schrie Farodin. »Entweder jetzt oder nie!«
Der Schmerz von tausend Nadeln stach auf ihn ein. Er hörte sich schreien, dann verlor er das Gleichgewicht und spürte nur noch, wie etwas Heißes ihn packte und fortriss.