Minnespiel

Noroelle saß im Schatten zweier Linden und ließ sich von Farodins Flötenspiel und Nuramons Gesang berühren. Fast schien es ihr, als schenkten ihr die beiden Werber mit ihren sanften Weisen die Sinne neu. Versonnen betrachtete sie das Spiel von Licht und Schatten im Blätterdach weit über ihr. Ihr Blick schweifte hinab zu der Quelle, die knapp außerhalb des Schattens lag. Sonnenlicht glitzerte auf dem Wasser. Sie beugte sich vor, ließ die Hand hineingleiten und spürte das Kribbeln des Zaubers, der darin wohnte.

Ihr Blick folgte dem Wasser, das sich in den kleinen See ergoss. Die Sonnenstrahlen drangen bis auf den Grund und ließen die bunten Edelsteine funkeln, die Noroelle einst dort mit Sorgfalt gebettet hatte. Sie nahmen den Zauber der Quelle in sich auf. Die Magie, die nicht gebunden wurde, strömte mit dem Wasser aus dem See in den Bach und wurde hinweggespült. Dort draußen nährten sich die Wiesen vom Zauber des Wassers. Und des Nachts verließen die kleinen Auenfeen ihre Blüten und trafen sich, um im Sternenlicht zu schwärmen und die Schönheit Albenmarks zu besingen.

Die Wiesen hatten ihre blühenden Frühlingskleider angelegt. Ein milder Wind trug den vielfältigen Duft der Gräser und Blumen zu Noroelle; unter den Bäumen vermischte er sich mit dem süßen Duft der Lindenblüten. Ein Rascheln schwebte über der Elfe, das sich mit dem Gesang der Vögel und dem Plätschern des Quellwassers verband und Farodins und Nuramons Klänge untermalte.

Während es Farodin gelang, mit seinem Flötenspiel einen feinen Klangteppich aus all den Schwingungen dieses Ortes zu weben, erhob Nuramon seine Stimme über diesen und ersann Worte, die Noroelle wie eine Albe erscheinen ließen. Liebevoll blickte sie zu Nuramon, der auf einem flachen Stein am Wasser saß, und wieder zu Farodin, der am Stamm der größeren der beiden Linden lehnte.

Farodins Gesicht war das eines Elfenfürsten aus den alten Liedern, deren edle Schönheit als Glanz der Alben gepriesen wurde. Die lindgrünen Augen waren der Kronschmuck dieses Gesichts, das weißblonde Haar der sanfte Rahmen. Er trug die Tracht der Minnesänger, und alles – das Hemd, die Hosen, der Mantel, das Halstuch – war aus feinster roter Feenseide gefertigt. Nur seine Schuhe waren aus weichem Gelgerok-Leder. Noroelle blickte auf seine Finger, die auf der Flöte tanzten. Sie hätte ihrem Spiel den ganzen Tag zuschauen können …

Während Farodin dem Ideal eines Elfenmannes entsprach, konnte man dies von Nuramon so nicht behaupten. Die Frauen am Hof spotteten offen über sein Aussehen, nur um dann hinter vorgehaltener Hand von seiner andersartigen Schönheit zu schwärmen. Nuramon hatte hellbraune Augen und mittelbraunes Haar, das sich ein wenig wild bis auf seine Schultern wellte. In seiner sandfarbenen Kleidung entsprach er zwar nicht dem Bild eines Minnesängers, bot aber dennoch einen angenehmen Anblick. Statt der Seide der Feen hatte er deren Wollstoffe gewählt, die weit weniger kostbar waren, aber so fest und weich, dass Noroelle beim Betrachten des Hemdes und des waldfarbenen Mantels am liebsten zu Nuramon gegangen wäre, um den Kopf an seine Brust zu legen. Selbst die halbhohen Stiefel, die aus erdfarbenem und besonders weichem Gelgerok-Leder waren, erweckten bei Noroelle den Wunsch, sie zu berühren. Der Ausdruck von Nuramons Gesicht war so wandelbar wie seine Stimme, die alle Formen des Gesangs beherrschte und jeder Gefühlsregung einen treffenden Klang verlieh. Seine braunen Augen aber sprachen von Sehnsucht und Melancholie.

Farodin und Nuramon waren unterschiedlich, doch jeder war auf seine Art beeindruckend. Beide hatten ihre eigene Vollkommenheit, so wie das Licht des Tages ebenso reizvoll war wie die Dunkelheit der Nacht, oder Sommer und Winter, Frühling und Herbst. Noroelle wollte nichts davon missen, und der Vergleich des Äußeren der beiden Männer brachte sie einer Entscheidung für einen von ihnen nicht näher.

Bei Hofe hatten manche ihr geraten, sie solle bei der Wahl ihres Gefährten das Familienhaus berücksichtigen. Doch war es denn etwa Farodins Verdienst, dass seine Urgroßmutter noch eine leibhaftige Albe gewesen war? Und war es etwa Nuramons Schuld, dass er aus einer Familie stammte, die durch viele Generationen von den Alben getrennt war? Noroelle wollte ihre Entscheidung nicht von ihren Vorfahren abhängig machen, sondern von ihnen selbst.

Farodin wusste, wie er um eine hohe Frau werben musste. Er kannte alle Regeln und Bräuche und handelte stets so angemessen und ehrenvoll, dass man ihn allseits bewundern musste. Noroelle war sehr davon angetan, dass er ihr Innerstes zu kennen schien, es zu berühren vermochte und stets so passende Worte fand, als könnte er in jedem Augenblick ihre Gedanken und ihre Gefühle wahrnehmen. Doch hier lag zugleich auch sein Makel. Farodin kannte sämtliche Lieder und alle alten Geschichten. Er wusste stets, welches süße Wort er sprechen musste, weil er sie alle zuvor gehört hatte. Welche waren aber seine Worte und welche die der alten Dichter? War diese Weise von ihm selbst, oder hatte er sie zuvor gehört? Noroelle musste lächeln; der scheinbare Makel haftete nicht Farodin an, sondern ihr. War dieser liebliche Ort nicht in allem so, wie es die alten Sänger geschildert hatten? Die Sonne, die Linde, der Schatten, die Quelle, der Zauber? Und boten die alten Sänger demnach nicht auch die passenden Lieder zu diesem lieblichen Ort? Konnte sie demzufolge Farodin einen Vorwurf machen, dass er nichts anderes tat als das, was in dieser Lage angemessen war? Nein, das durfte sie nicht. Farodin war in jeder Hinsicht vollkommen, und jede Frau in den Gefilden der Elfen wäre glücklich über sein Werben.

Dennoch fragte sie sich, wer Farodin eigentlich war. Er entzog sich ihr, wie die Quelle von Lyn sich den Blicken der Elfen durch strahlendes Licht entzog. Sie wünschte sich, er würde seinen Schein für eine Weile schmälern, sodass sie einen Blick auf die Quelle werfen konnte. Oft hatte sie versucht, ihn dazu zu bewegen, doch er hatte ihre Gesten nicht verstanden. So war ihr der Blick in sein Innerstes bislang verwehrt gewesen. Und manchmal fürchtete sie, dort könnte etwas Dunkles lauern, etwas, das Farodin um jeden Preis zu verbergen trachtete. Hin und wieder unternahm ihr Liebster lange Reisen, doch nie sprach er davon, wohin er ging und aus welchem Grunde. Und wenn er zurückkehrte, erschien er Noroelle bei aller Wiedersehensfreude noch verschlossener als zuvor.

Bei Nuramon hingegen wusste Noroelle genau, um wen es sich handelte. Schon oft hatte man ihr gesagt, Nuramon sei nicht der Richtige für sie, er sei ihrer Würde nicht angemessen. Er stammte nämlich nicht nur aus einer vielköpfigen Sippe, sondern auch aus einer Linie, der eine Schande anhaftete. Denn Nuramon trug die Seele eines Elfen in sich, der in all seinen Leben, in die er hineingeboren worden war, die Bestimmung seines Daseins nicht gefunden hatte und demnach nicht ins Mondlicht gegangen war. Wem dieser Weg versperrt blieb, der wurde in seiner Sippe wiedergeboren, bis sein Schicksal sich erfüllte. Und dabei war er nicht in der Lage, sich an die vorigen Leben zu erinnern.

Kein anderer war so oft wiedergeboren worden wie Nuramon; seit Jahrtausenden war er dem Wechselspiel von Leben, Tod und Wiedergeburt nun schon ausgesetzt. Mit der Seele hatte Nuramon auch seinen Namen geerbt. Die Königin hatte in ihm die Seele seines Großvaters erkannt und ihm dessen Namen gegeben. Die scheinbar nicht enden wollende Suche nach seiner Bestimmung hatte selbst in Nuramons eigener Familie für hochmütigen Spott gesorgt. Zumindest musste sich derzeit keiner um sein Neugeborenes sorgen; doch sobald Nuramon stürbe, würde seine Seele gleich einem Schatten über seiner Sippe liegen. Niemand wusste, wem der nächste Nuramon geboren würde.

Alles in allem konnte er wahrlich nicht auf seine Abstammung schauen und dabei hoffen, ihretwegen bewundert zu werden. Im Gegenteil, alle sagten, Nuramon werde den gleichen Weg gehen wie zuvor; er werde nach seiner Bestimmung suchen, darüber sterben und wiedergeboren werden. Noroelle war diese Sichtweise zuwider. Sie sah einen vortrefflichen Mann vor sich sitzen, und als Nuramon ein weiteres Lied auf ihre Schönheit sang, spürte Noroelle, dass jedes Wort, das er sprach, seiner tief empfundenen Liebe zu ihr entsprang. Was die Wiege ihm verwehrt hatte, das hatte er sich selbst erworben. Nur eins wagte er nicht: ihr zu nahe zu kommen. Noch nie hatte er sie berührt, noch nie hatte er es gewagt, so wie Farodin, ihre Hand zu fassen und diese gar zu küssen. Und wann immer sie versuchte, ihm eine harmlose Zärtlichkeit zukommen zu lassen, wies er sie mit süßen, berauschenden Worten zurück.

Von welcher Seite sie ihre beiden Werber auch betrachtete, sie konnte im Augenblick zu keiner Entscheidung finden. Wenn Farodin ihr sein Innerstes offenbarte, dann würde sie ihn wählen. Wenn Nuramon seine Hände nach ihr ausstreckte und ihre Hand fasste, dann würde sie ihm den Vorrang geben. Die Entscheidung lag nicht bei ihr.

Es waren erst zwanzig Jahre vergangen, da dieses Werben begonnen hatte. Es mochten noch einmal zwanzig Jahre vergehen, bis sie eine Entscheidung von ihr erwarteten. Und wenn sie keine Entscheidung traf, dann würde derjenige, der die größere Beständigkeit zeigte, ihre Gunst gewinnen. Sollten sie sich auch darin ebenbürtig sein, so mochte die Werbung auf immer anhalten – eine Vorstellung, die Noroelle zum Schmunzeln brachte.

Farodin stimmte ein neues Stück an und spielte so innig, dass Noroelle die Augen schloss. Sie kannte das Lied, sie hatte es einst bei Hofe gehört. Doch mit jedem Ton, den Farodin erklingen ließ, übertraf er, was sie damals vernommen hatte.

Nuramons Stimme verblasste dagegen ein wenig, bis Farodin wiederum ein neues Lied begann. »_O schau nur, holdes Albenkind!_«, sang Nuramon nun. Noroelle öffnete die Augen, sie war von dem plötzlichen Wechsel in seiner Stimme überrascht.

»_Dort auf dem Wasser ein Gesicht._« Er schaute auf das Wasser, aber sie konnte seinem Blick nicht folgen, so gebannt war sie von seiner Stimme.

»_O Noroelle, geh hin geschwind / Vom Schatten aus hinein ins Licht._« Noroelle stand auf und folgte den Worten; sie ging einige Schritte von der Quelle fort und kniete sich an das Ufer des Sees, um ins Wasser zu blicken. Doch da war nichts.

Nuramon sang weiter. »_Die blauen Augen sind ein See_.« Noroelle sah blaue Augen; es waren ihre eigenen, die Nuramon gern mit einem See verglich.

»_Dein Nachthaar weht im Frühlingswind_.« Sie sah ihr Haar, wie es sanft über ihren Hals streifte, und musste lächeln.

»_Du lächelst dort wie eine Fee. O schau nun holdes Albenkind!_« Sie betrachtete sich ganz genau und lauschte, wie Nuramon in den verschiedenen Sprachen der Albenkinder von ihrer Schönheit sang. In den Feensprachen Klang einfach alles schön, aber er konnte selbst mit der Zunge der Kobolde sprechen und ihr dabei schmeicheln.

Während sie ihm zuhörte, hatte sie nicht länger sich selbst vor Augen, sondern eine andere Frau, viel schöner als sie sich je empfunden hatte, so erhaben wie die Königin und mit einer Anmut versehen, wie man sie den Alben nachsagte. Auch wenn sie sich selbst nicht in diesem Licht sah, wusste sie, dass Nuramons Worte direkt von Herzen kamen.

Als ihre Liebsten verstummten, wandte sie den Blick unsicher vom Wasser ab und schaute zu Nuramon, dann zu Farodin. »Warum habt ihr aufgehört?«

Farodin schaute hinauf zum Blätterdach. »Die Vögel sind unruhig. Ihnen ist offenbar nicht länger zum Singen zumute.«

Noroelle wandte sich zu Nuramon. »War das wirklich mein Gesicht, das ich im Wasser sah? Oder war es deine Zauberei?«

Nuramon lächelte. »Ich habe nicht gezaubert, nur gesungen. Aber dass du es nicht zu unterscheiden wusstest, schmeichelt mir.«

Farodin erhob sich plötzlich, und auch Nuramon stand auf und blickte über den See und die Wiesen hinweg in die Ferne. Da ertönte ein tiefes Hornsignal über dem Land.

Nun erhob sich auch Noroelle. »Die Königin? Was mag geschehen sein?«, fragte sie.

Farodin war mit wenigen Schritten neben Noroelle und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Noroelle.«

Nuramon war herangekommen und flüsterte ihr ins Ohr: »Es ist gewiss nichts, was nicht von einer Schar Elfen gelöst werden kann.«

Noroelle seufzte. »Es war wohl zu schön, um den ganzen Tag anzuhalten.« Sie sah, wie die Vögel sich in die Luft erhoben und kurz darauf der Burg der Königin entgegenflogen, die jenseits der Wiesen und der Wälder auf einem Hügel lag. »Beim letzten Mal hat die Königin dich zur Elfenjagd berufen. Ich sorge mich um dich, Farodin.«

»Bin ich nicht jedes Mal zurückgekehrt? Und hat nicht Nuramon dir stets die Zeit versüßt?«

Noroelle löste sich von Farodin und wandte sich beiden zu. »Und wenn ihr nun gemeinsam fort müsstet?«

»Man wird mir keine solche Pflicht anvertrauen«, wandte Nuramon ein. »Das war immer so, und so wird es auch immer sein.«

Farodin schwieg, Noroelle aber sagte: »Die Anerkennung, die man dir verwehrt, werde ich dir geben, Nuramon. Aber nun geht! Holt eure Pferde und reitet voraus! Ich werde nachkommen und euch heute Abend bei Hofe sehen.«

Farodin fasste Noroelles Hand, küsste diese und verabschiedete sich. Nuramons Abschied bestand in einem liebevollen Lächeln. Dann ging er zu Felbion, seinem Schimmel. Farodin saß bereits auf seinem Braunen. Noroelle winkte ihnen noch einmal zu.

Die Elfe beobachtete ihre beiden Liebsten, wie sie abseits der Feenblüten über die Wiese ritten, dem Wald und der jenseits davon liegenden Burg entgegen. Sie trank ein wenig Wasser aus der Quelle und machte sich dann auf den Weg. Barfüßig schritt sie über die Wiesen. Sie wollte zur Fauneneiche gehen. Unter ihr konnte sie so klare Gedanken fassen wie nirgends sonst. Die Eiche hielt ihrerseits Zwiesprache mit ihr und hatte sie in jungen Jahren viel Zauberei gelehrt.

Auf ihrem Weg dachte sie über Farodin und Nuramon nach.

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