In Iskendria

Der Weg durch die Wüste war Farodin eine Qual gewesen. Manchmal war es ihm so vorgekommen, als wollten ihn die Dünen verhöhnen. Unzählbar waren die Sandkörner, und sie führten ihm vor Augen, wie unlösbar seine Aufgabe war. Er konnte nur darauf hoffen, dass sein Zauber mit der Zeit stärker wurde. Farodin wollte dem einmal eingeschlagenen Weg treu bleiben. Seine Unerschütterlichkeit hatte ihn nach fast siebenhundert Jahren zu Noroelle geführt, und er würde auch diesmal wieder zu ihr gelangen. Er war entschlossen, genügend Sandkörner aus dem zerbrochenen Stundenglas zu finden, um Emerelles Zauber rückgängig zu machen, selbst wenn es Jahrhunderte dauerte.

Farodin blickte zu den hohen Stadtmauern am Horizont. Iskendria. War es klug, hierher zu kommen? Sie würden wieder durch einen Albenstern gehen müssen. Den Zauber zu wirken war gefährlich. Wenn sie nun einen Sprung durch die Zeit machten? Sie würden es wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Aber für Noroelle bedeutete das viele zusätzliche Jahre der Einsamkeit. Wenn sie in dieser Bibliothek tatsächlich eine Möglichkeit fanden, den Bannzauber Emerelles zu brechen und jenen Albenstern zu finden, durch den Noroelle in die Zerbrochene Welt gegangen war, dann würde ihre Suche ein schnelles Ende nehmen. Doch Farodin war skeptisch. War es möglich, dass Emerelle nicht um die Bibliothek wusste? Wohl kaum. Also ging sie davon aus, dass alles Wissen dort keine Hilfe war. Mochte es sein, dass sie damit irrte? Die ganze Reise lang hatte er darüber schon gebrütet. Es war müßig, weitere Gedanken daran zu verschwenden. Eine Antwort gab es nur in der Bibliothek.

Leichter Verwesungsgeruch lag in der Luft. Farodin blickte auf. Sie hatten die Stadt fast erreicht.

Die letzte Straßenmeile vor Iskendria war von Gräbern gesäumt. Eine Geschmacklosigkeit, wie sie sich nur Menschen ausdenken konnten, dachte der Elf. Wer wollte von Mahnmalen für Tote begrüßt werden, wenn er eine Stadt besuchte? Grüfte und protzige Mausoleen standen dicht bei der Straße. Weiter in die Wüste hinein wurden die Gräber schlichter, bis sie nur noch aus einem Stein bestanden, der den Ort markierte, an dem man einen Toten im Sand verscharrt hatte.

In den prächtigen Grabhäusern aus Marmor und Alabaster hatte man jedoch offenbar darauf verzichtet, die Leichen der Erde zu übergeben. Farodin wünschte sich, man hätte ebenso viel Mühe darauf verwendet, dicht schließende Sarkophage anzufertigen, wie man aufbrachte, um die Grabhäuser mit Standbildern zu schmücken. Sie zeigten meist recht jugendlich wirkende Männer und Frauen. Kein Wunder, dass man in einer Stadt, die einen mit Leichengestank begrüßte, nicht alt wurde! Glaubte man den Standbildern, dann gab es unter den Reichen der Stadt nur zwei Sorten von Leuten: jene, die gedankenschwer dreinblickten und aussahen, als nähmen sie sich fürchterlich ernst, sowie die anderen, die offenbar aus dem Leben ein Fest machten. Ihre Bildnisse zeigten sie lässig hingestreckt auf Sarkophagen, von denen sie den Reisenden mit erhobenen Weinbechern zuprosteten.

Die neueren Gräber und Standbilder waren in schreienden Farben bemalt. Farodin hatte Mühe zu begreifen, wie Menschen sich zu dem Irrglauben versteigen konnten, man sähe gut aus mit schwarz umrandeten Augen und gewandet in ein orangefarbenes Kleid mit purpurnem Überwurf. Bei den älteren Statuen und Grabbauten hatte der Wüstensand längst die Farbe abgeschliffen. So beleidigten sie das Auge des Betrachters weitaus weniger.

Der morbide Eindruck, den Iskendria auf jeden Reisenden machte, wurde ein wenig abgemildert durch die Frauen, die entlang der Straße standen. Sie empfingen die Gäste der Stadt mit einladendem Lächeln und freundlichen Gesten. Anders als die Wüstenbewohner schützten sie sich nicht durch weite Gewänder und Schleier vor der Sonne. Sie zeigten möglichst viel Haut, sah man davon ab, dass auf ihre Gesichter und Arme dicke Schichten von Puder und Schminke aufgetragen waren. Manche hatten gar gänzlich auf Kleidung verzichtet und sich mit verwirrenden Mustern aus Spiralen und Schlangenlinien bemalt.

Mandred, dem diese Art von Willkommensgruß offensichtlich vertraut war, winkte den Frauen zu. Er war bester Stimmung. Breit grinsend verdrehte er den Kopf, um ja keinen Blick auf die Frauen zu versäumen.

Pfeilgerade führte die mit großen Steinplatten gepflasterte Straße auf die Mauern von Iskendria zu. Ein wenig vor ihnen zog eine Karawane. Sie bestand aus jenen hässlichen Tieren, welche die Menschen Kamele nannten, und einer kleinen Gruppe von Kaufleuten, die aufgeregt schnatterten. Plötzlich scherte einer von ihnen aus und sprach eine Frau mit unnatürlich rotem Haar an. Sie saß mit weit gespreizten Beinen auf dem Grabsockel eines marmornen Zechers. Nach kurzem Feilschen drückte er ihr etwas in die Hand, und die beiden verschwanden hinter einem halb verfallenen Mausoleum.

»Ich frage mich, was hier ein Ritt so kostet?«, murmelte Mandred und sah den beiden nach.

»Warum willst du reiten? Haben dir die letzten …« Nuramon stockte. »Du meinst doch nicht … Sind das etwa … Wie nanntest du sie? Huren? Ich dachte, man findet sie in großen Häusern, wie in Aniscans.«

Mandred lachte herzhaft. »Nein, auch in Aniscans gab es reichlich Huren auf den Straßen. Dir fehlt einfach der Blick dafür. Oder es liegt an der Liebe. Noroelle ist schon etwas anderes als diese Huren.« Er grinste. »Obwohl einige von ihnen ausgesprochen hübsch sind. Aber wenn einen die Liebe wärmt, dann sucht man nicht anderswo nach Sinnenfreuden.«

Es ärgerte Farodin, dass ihr menschlicher Gefährte Noroelle und diese angemalten Weibsbilder in einem Atemzug nannte. Das war … Nein, er fand kein passendes Bild dafür, wie absurd es war, Noroelle und diese Frauen miteinander zu vergleichen. Ihm fielen dutzende Metaphern für Noroelles Schönheit ein, Strophen jener Lieder, die er ihr einst gesungen hatte. Keines dieser Bilder wäre den Menschenfrauen angemessen gewesen. Jetzt tat er es auch! Er führte die Liebste und diese Frauen in einem Gedanken! Säuerlich blickte er zu Mandred. So lange gemeinsam mit diesem Barbaren zu reiten war nicht spurlos an ihm vorübergegangen.

Mandred hatte seinen Blick offenbar missverstanden. Er strich sich über den Geldbeutel an seinem Gürtel. »Diese Kameltreiber hätten sich ruhig ein bisschen großzügiger erweisen können. Zwanzig Silberstücke! Wie lange soll das reichen! Wenn ich daran denke, was sie Valiskar alles zugesteckt haben. Die machen das richtig, eure Brüder in der Oase.«

»Das sind keine Brüder«, warf Nuramon ein. »Es sind…«

Mandred winkte ab. »Ja, ich weiß. Sie haben mich wahrhaft beeindruckt. Sie sind wirklich sinnsible Geister!«

»Du meinst sensibel?«, fragte Farodin.

»Elfengequatsche! Du weißt, was ich meine. Das ist doch was … Diese Wickelköpfe mit ihren Kamelen brauchen sie nur zu sehen, und schon sind sie ganz versessen darauf, ihnen Geschenke zu machen. Einfach toll … sennsiebel! Kein Köpfeeinschlagen, keine Drohungen, kein böses Wort. Sie kommen und lassen sich beschenken. Und die Kameltreiber sind noch glücklich dabei. Müssen ganz schön harte Burschen sein, diese Elfen von Valemas.«

Farodin dachte an Giliath. Er hätte gern noch einmal mit ihr gesprochen, um in Erfahrung zu bringen, ob sie ihn wirklich getötet hätte. Sie war nahe dran gewesen. Nach dem Kampf hatte sie sich zurückgezogen. Obwohl sie noch fünf Tage in der Oase geblieben waren, hatte er sie nicht wiedergesehen.

»Hallo, Mädel!« Mandred klatschte einer dunkelhäutigen Frau auf den Schenkel. »Du verstehst mich, auch wenn du meine Sprache nicht kennst.«

Sie antwortete mit einem sinnlichen Lächeln.

»Dich suche ich, sobald wir ein Quartier in der Stadt gefunden haben.«

Sie deutete auf die Geldkatze an seinem Gürtel und blickte vieldeutig in Richtung einer aufgebrochenen Gruft.

»Sie mag mich!«, verkündete Mandred stolz.

»Zumindest den Teil, der an deinem Gürtel hängt.«

Mandred lachte. »Nein, sie wird gewiss auch mögen, was darunter hängt. Bei den Göttern! Wie habe ich es vermisst, ein anschmiegsames Mädel im Arm zu halten.«

Mandreds Worte versetzten Farodin einen Stich. Der Mensch war so erfrischend einfach. Das musste an der kurzen Lebensspanne liegen.

Am Ende der Straße erhob sich ein großes Doppeltor. Es war von zwei mächtigen, halbrunden Türmen flankiert. Allein die Mauern mussten mehr als fünfzehn Schritt hoch sein, die Türme hatten fast die doppelte Höhe. Nie zuvor hatte Farodin eine Stadt der Menschen gesehen, die von so mächtigen Festungswerken umgeben war. Es hieß, Iskendria sei viele Jahrhunderte alt. Zwei große Handelsstraßen und ein mächtiger Strom trafen sich in der Hafenstadt.

Am Tor standen Wachen mit Brustpanzern aus versteiftem Leinen. Sie trugen Bronzehelme, die mit schwarzen Pferdeschweifen geschmückt waren. Reisende, welche die Stadt verließen, gingen durch das linke Tor hinaus. Sie wurden kaum behelligt. Wer aber Iskendria betreten wollte, musste den Wachen einen Wegzoll entrichten.

»Habt ihr das gesehen?«, empörte sich Mandred. »Diese Halsabschneider nehmen ein Silberstück dafür, dass man ihrer Stadt die Ehre eines Besuchs erweist.«

»Ich zahl für dich mit«, sagte Farodin leise. »Aber verhalte dich ruhig! Ich will hier keinen Ärger!« Er behielt Mandred misstrauisch im Blick.

Als der Torposten zu ihnen trat, zählte Farodin dem Mann drei Silberstücke in die Hand. Er war ein pockennarbiger Kerl mit Mundgeruch. Er fragte etwas, das Farodin nicht verstand. Hilflos zuckte der Elf mit den Schultern.

Der Wachmann wirkte unruhig. Er deutete auf Mandred und wiederholte seine Frage. Farodin drückte dem Soldaten noch ein weiteres Silberstück in die Hand. Daraufhin lächelte dieser und winkte sie durch.

»Halsabschneider!«, zischte Mandred noch einmal.

Jenseits des Tores erwartete sie eine belebte Straße. Schnurgerade führte sie in die Stadt hinein. Die Karawane, der sie auf der Küstenstraße nach Iskendria gefolgt waren, verschwand durch einen Torbogen auf einen ummauerten Hof. Farodin sah dort über hundert Kamele stehen. Offenbar war der Hof ein Treffpunkt für Fernhändler. Dorthin konnten sie nicht gehen. Unter den Händlern würden sie nur auffallen, und das galt es um jeden Preis zu vermeiden. So folgten sie weiter der Straße.

Die meisten Häuser hier waren aus braunen Lehmziegeln gebaut. Selten hatten sie mehr als zwei Geschosse. Zur Straße hin waren sie offen und beherbergten im Erdgeschoss Handwerksgeschäfte oder Brat- und Schankstuben.

Vor einer der Schänken saßen Kinder auf der Straße und rupften Rotkehlchen. Die Vögel lebten noch! Ohne sie auszunehmen, wurden sie in siedendes Fett geworfen. Farodin drehte sich fast der Magen um, als er das sah. Ganz gleich, wie groß die Städte waren, die Menschen bauten: Sie blieben Barbaren!

Die drei Gefährten waren die Langsamsten auf der breiten Hauptstraße. Jeder hier schien zu wissen, wohin er wollte, und jeder hatte es eilig. Arbeiter, die schwitzend Karren voller Ziegelsteine vor sich her schoben, Wasserverkäufer, die riesige Amphoren auf den Rücken geschnallt trugen, Botenjungen mit wuchtigen Ledertaschen, Frauen, die Körbe voller Gemüse zu den Märkten brachten. Farodin fühlte sich unter all den Menschen fehl am Platz. Seine Ohren waren unter einem Kopftuch verborgen, so fiel er nicht auf. Doch für ihn änderte es nichts. Selten zuvor hatte er sich so fremd in der Welt der Menschen gefühlt.

Farodin beobachtete eine alte Frau in einem meergrünen Wickelkleid, der zwei Diener mit Warenkörben folgten. Die Alte feilschte mit einem Jungen, der an einer langen Stange mehr als zwanzig Vogelkäfige trug. Schließlich drückte ihm einer der Diener ein paar Kupfermünzen in die Hand. Daraufhin öffnete der Junge einen Käfig und holte eine weiße Taube heraus. Vorsichtig überreichte er sie der alten Frau. Diese warf den Vogel lachend in die Luft. Die Taube drehte eine Runde, offenbar verwirrt über ihre neu gewonnene Freiheit, und flog dann nach Osten in Richtung der Salzseen davon.

Im ersten Augenblick war Farodin beeindruckt von dieser noblen Geste. Doch dann fragte er sich, ob der Junge die Vögel wohl nur gefangen hatte, damit reiche Damen sie zu ihrem Vergnügen wieder freilassen konnten.

Je weiter sie der Straße folgten, desto höher wurden die Häuser, die sie flankierten. Inzwischen waren die meisten Bauwerke aus weiß verputztem Ziegelwerk. Manche der Hauswände waren mit Bildern bemalt, die Schiffe zeigten oder Störche, die durch Schilfdickicht wateten.

Farodin wurde schwindelig von all den Gerüchen, die auf ihn eindrangen. Der Duft von Kräutern und Gewürzen mischte sich mit dem Gestank der Stadt. Überall roch es nach ungewaschenen Menschen, nach Eseln und Kamelen und nach Exkrementen. Unbeschreiblich war auch der Lärm. Lauthals priesen die Händler in den Straßenläden ihre Waren an; die Wasserverkäufer und auch die jungen Mädchen, die in Körben duftendes Fladenbrot und goldbraune Brezen feilboten, leierten einen endlosen Singsang herunter.

Bald wünschte Farodin sich in die Einsamkeit der Wüste zurück. Er hatte stechende Kopfschmerzen. Die Hitze, der Lärm und der Gestank waren mehr, als er ertragen konnte. Und als wäre dies alles noch nicht genug, spürte er, wie der Albenpfad, der sie parallel zur Küstenstraße bis hierher in die Stadt geführt hatte, immer schwächer wurde. Farodin war sich sicher, dass sie den Pfad nicht verlassen hatten. Es schien ihm, als sänke der Pfad mit jedem Schritt tiefer unter das Pflaster der Straße.

Auch Nuramon wirkte beunruhigt. Sie tauschten einen kurzen Blick. »Wir haben schon zwei mindere Albensterne passiert«, flüsterte er aufgeregt. »Die Stadt scheint mir fast wie ein Spinnenetz, so viele Pfade treffen sich hier. Aber sie liegen unter der Erde. Das ist ungewöhnlich. Ich weiß nicht, ob ich nach ihrer Kraft greifen kann, um ein Tor zu öffnen.«

»Vielleicht gibt es Tunnel«, mutmaßte Farodin. »Irgendwie muss man doch zu den Sternen gelangen können. Jeder große Albenstern ist durch Zauberkraft geschützt, sodass er nicht unter Schnee oder Sand versinken kann.«

»Und wenn man hier auf diesen Zauber verzichtet hat?«, wandte Nuramon ein. »Vielleicht um das Tor besser vor den Menschen zu verbergen? Sieh dir nur das Gedränge an! Welche andere Möglichkeit gibt es hier, als ein Tor tief unter der Erde zu verbergen?«

»Hat dein Dschinn eigentlich gesagt, wann er die Bibliothek aufgesucht hat?«

»Nein.«

»Vielleicht sind seitdem Jahrhunderte vergangen. Vielleicht gibt es gar kein Tor mehr, das von hier aus in die Bibliothek führt.«

Nuramon antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? All seine verbliebenen Hoffnungen hatte er in die Bibliothek gesetzt. Nun, da sie einmal hier waren, würden sie so lange suchen, bis sie ein Tor fanden!

Mandred schien von der gedrückten Stimmung der beiden Elfen nichts mitzubekommen. Er wirkte ganz hingerissen von all den fremden Eindrücken und warf jeder auch nur halbwegs ansehnlichen Frau lüsterne Blicke zu. Manchmal beneidete Farodin seinen Gefährten geradezu. Dessen Leben war kurz, und er nahm es überraschend leicht. Nichts schien ihn nachhaltig in eine trübe Stimmung versetzen zu können. Er fand immer etwas, woran er sich begeistern konnte, und sei es, dass er flüchtigen Genüssen in Form eines Besäufnisses oder einer Liebesnacht hinterherjagte. Vielleicht lebte er ja ein besseres Leben?

Sie mochten eine Meile gegangen sein, als die Straße, der sie bisher gefolgt waren, auf eine Säulenallee traf, die ungleich prächtiger war. Unschlüssig, wohin sie gehen sollten, bogen sie schließlich auf die Prachtstraße ab. Hier war das Gewühl der Menschen noch dichter. Rechts und links der Säulenreihen lagen Ladenzeilen. Auch sie öffneten sich mit weiten Türen zur Straße hin und prunkten mit kostbaren Gütern. So gab es Stoffe aus aller Menschen Länder und hübsch bemalte Vasen und Dosen. Goldschmiede fertigten unter den Blicken neugieriger Passanten hauchzartes Geschmeide aus feinen Drähten an.

Jede dritte Säule trug in fünf Schritt Höhe ein Sims, auf der eine überlebensgroße Statue aufgestellt war. Gekleidet in grellbunt bemalte Gewänder, blickten sie würdevoll auf die Passanten zu ihren Füßen. Manche von ihnen waren mit goldenem Schmuck behängt. Farodin fragte sich, ob sie Götter darstellen sollten oder vielleicht doch eher besonders erfolgreiche Kaufherren.

Ein Stück voraus erklang ein herzerweichendes Gewimmer. Bald erreichten sie einen Platz, auf dem Marktstände aus buntem Stoff aufgebaut waren. Jeder der Stände war mit dutzenden Amphoren bestückt.

»Ein Weinmarkt!«, jubelte Mandred. »Das sind alles Weinamphoren.«

Ein magerer Kaufmann mit roter Nase winkte ihm freundlich zu und hielt einen Tonbecher hoch.

»Er lädt mich zum Kosten ein!«

Nuramon deutete auf einen Pfahl, der hoch über den Ständen aufragte. Eine junge Frau war darauf gespießt worden. Man hatte ihr die Kleider vom Leib gerissen. Ihr ganzer Körper war mit blutigen Striemen bedeckt. Sie wimmerte leise. Noch während Farodin hinaufblickte, erzitterte sie, und er sah, wie das Gewicht ihres eigenen Körpers ihr die Spitze des Pfahls ein wenig tiefer ins Fleisch trieb.

»Willst du hier wirklich trinken?«, fragte Nuramon.

Mandred wandte sich angewidert ab. »Warum tun sie das? Was mag die Frau wohl verbrochen haben? So eine schöne Stadt … und dann so etwas. Vielleicht ist sie ja eine Kindsmörderin?«

»Ah! Das würde natürlich rechtfertigen, sie auf so bestialische Weise zu Tode zu quälen. Wie konnte ich das nur übersehen!«, entgegnete Farodin schärfer, als es angemessen gewesen wäre. Was konnte Mandred schon für die Grausamkeit der Herrscher von Iskendria!

Schweigend schoben sie sich weiter durch das Gedränge auf der Prachtstraße, bis die Menge um sie herum plötzlich von Unruhe ergriffen wurde. Ganz in der Nähe ertönten Trommelschlag und der helle Klang von Zimbeln. Die Menschen rings herum wichen bis zu den Säulen zurück. Das Geschrei der Händler und die Gespräche der Passanten verstummten. Die Straße war plötzlich leer. Nur sie drei standen noch dort.

»Heh, Nordmann!« Ein stämmiger blonder Mann trat aus dem Spalier der Menschen. »Weg dort!« Er redete in der Sprache von Fargon. »Die Königin dieses Tages kommt!«

Aus einer breiten Seitenstraße bog eine Prozession auf die Säulenallee. Junge Mädchen in strahlend weißen Kleidern eilten dem Zug voraus und streuten Rosenblätter auf das Pflaster.

Die drei Gefährten beeilten sich, von der Straße fortzukommen. Der blonde Mann drängte sich an ihre Seite. Sein Gesicht war voller Bartstoppeln, über denen himmelblaue Augen strahlten. »Ihr seid fremd, nicht war? Ich wette, ihr seid heute erst in die Stadt gekommen. Ihr braucht einen Führer. Zumindest für die ersten Tage, bis ihr euch hier zurechtfindet und die Gesetze von Iskendria kennen gelernt habt.«

Den Blumenjungfern folgte ein Trupp Soldaten mit bronzenen Brustpanzern und Helmen, auf denen schwarze Federbüsche wippten. Sie trugen große, runde Schilde, auf die das bedrohliche Gesicht eines bärtigen Mannes gemalt war. Ihre Speere hielten sie merkwürdigerweise falsch herum, sodass die Spitzen zum Straßenpflaster zeigten. Schwarze Umhänge mit einer breiten Borte aus Goldstickerei hingen ihnen von den Schultern. Nie zuvor hatte Farodin so prächtig ausgerüstete Krieger in der Welt der Menschen gesehen. In stiller Feierlichkeit schritten sie über die Rosenblätter.

»Die Tempelwachen«, erklärte ihr selbst ernannter Führer. »Schön anzusehen, aber ein übler Haufen. Kommt denen besser nicht in die Quere. Wer sich mit dem Tempel anlegt, der landet nur allzu leicht auf dem Pferdemarkt.«

»Was ist an eurem Pferdemarkt denn so schlimm?«, fragte Mandred.

»Sie sperren dich in einen Eisenkäfig, ziehen dich an einem Mast hoch und lassen dich verdursten. Und dann hast du noch Glück gehabt. Wenn du Balbar beleidigt hast, den Gott der Stadt, dann werden dir Arme und Beine mit Eisenstangen zerschmettert, und man kettet dich an den Ketzerstein auf dem Marktplatz. Dort bleibst du liegen, bis sich deine Wunden entzünden und du bei lebendigem Leib verrottest. Und Nachts kommen die streunenden Hunde, um von dir zu fressen.«

Farodin wandte sich angewidert der Prozession zu, während Mandred begierig den Geschichten des Fremden lauschte. Die nächste Gruppe, die vorüberzog, bestand aus dunkelhäutigen Männern in roten Röcken, die große Trommeln um die Hüften geschnallt trugen. Sie schlugen einen langsamen Marschtritt und bestimmten so das Tempo, in dem sich der Zug bewegte.

Eine riesige offene Sänfte, getragen von mindestens vierzig Sklaven, passierte die Straße. Auf ihr erhob sich ein großer goldener Thron, den zwei Priester mit kahl geschorenen Köpfen flankierten. Darauf kauerte zusammengesunken ein junges Mädchen. Ihr Gesicht war mit greller Schminke bemalt. Teilnahmslos blickte sie zur Menge hinab.

»Ist sie nicht hübsch?«, fragte der Blonde mit zynischem Unterton. »In einer Stunde schon wird sie Balbar gegenüberstehen.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Sie haben der Kleinen Wein und Opium gegeben. Gerade so viel, dass sie während der Prozession nicht einschläft und bei Sinnen ist, wenn sie Balbar entgegentritt. Ihr solltet das gesehen haben, dann werdet ihr Iskendria besser verstehen.«

Hinter der Sänfte folgte eine Gruppe schwarz gewandeter Frauen. Sie alle trugen Masken, die grässliche Grimassen zeigten. Gesichter, erstarrt in Wehgeschrei, Schmerz und Trauer.

»Und sie wird wirklich einem Gott gegenübertreten, und man kann dabei zusehen?«, fragte Mandred neugierig.

»Worauf du deinen Arsch verwetten kannst, Nordländer. Übrigens, ich heiße Zimon von Malvena. Ich will mich nicht aufdrängen, aber glaubt mir, ihr seid gut beraten, euch einen Führer zu nehmen.«

Nuramon drückte ihm ein Silberstück in die Hand. »Erzähl uns alles von der Stadt, was wir wissen müssen.«

Die Prozession war vorübergezogen. Schon erhob sich allgemeines Gemurmel. »Gehen wir zum Platz des Himmelshauses.« Zimon winkte sie auf die Straße, und sie folgten der Prozession.

»Was führt euch nach Iskendria, werte Herren? Sucht ihr jemanden, der den Dienst eurer Schwerter benötigt? Bei den Karawansereien ist es leicht, Soldherren zu finden. Ich kann euch gern dorthin führen.«

»Nein«, entgegnete Mandred umgänglich. »Wir wollen zur Bibliothek.«

Farodin zuckte innerlich zusammen. In Augenblicken wie diesem hätte er Mandred erschlagen können. Was ging diesen zwielichtigen Kerl an, was sie hier suchten!

»Die Bibliothek?« Zimon musterte Mandred erstaunt. »Du verblüffst mich, Nordländer. Sie liegt nahe beim Hafen. Es heißt, dort sei alles Wissen der ganzen Welt versammelt. Sie ist mehr als dreihundert Jahre alt und verfügt über tausende von Schriftrollen. Es gibt keine Frage, auf die du dort keine Antwort findest.«

Farodin und Nuramon tauschten einen vielsagenden Blick. Eine Bibliothek der Menschen, in der man Antwort auf alle Fragen fand! Das war so wahrscheinlich wie ein Pferd, das Eier legte. Und doch war bemerkenswert, dass es ausgerechnet in Iskendria eine solche Bibliothek gab. War sie vielleicht ein ferner Spiegel dessen, was sich jenseits der Albensterne in der Zerbrochenen Welt hier verbarg?

Sie erreichten einen weiten Platz, in dessen Mitte eine mehr als zehn Schritt hohe Statue stand. Sie zeigte einen Mann mit langem, eckig gestutztem Bart, der auf einem Thron saß. Die Arme der Figur waren seltsam angewinkelt und ruhten auf seinem Schoß. Die Hände waren offen, so als erwartete er, dass man dort Gaben ablegte. Und tatsächlich führte eine hölzerne Rampe hinauf zu diesen Händen. Der Mund der Statue war weit aufgerissen, so als wollte sie schreien. Heller Rauch quoll daraus hervor.

Hinter dem Götterbild erhob sich ein Tempel, dessen himmelhohe Säulen purpurfarben bemalt waren und von goldbeschlagenen Kapitellen gekrönt wurden. Der Tempelgiebel zeigte ein in grellen Farben bemaltes Hochrelief. Dort sah man Balbar durchs Meer waten. Seine riesigen Fäuste zerschmetterten Galeeren.

Auf den Stufen zum Tempel hatte sich die Priesterschaft versammelt. Sie sangen ein Lied von düsterer Feierlichkeit. Obwohl Farodin keines der Worte verstand, lief es ihm kalt den Rücken herunter.

Die Sänfte war am Fuß der Statue abgestellt worden. Die Trommler beschleunigten nun ihren Rhythmus.

Rings herum auf dem Platz standen tausende Menschen. Sie stimmten in den monotonen Gesang der Priesterschaft ein. Farodin sah aus den Augenwinkeln, dass Nuramon ganz blass geworden war. Selbst Mandred war still; jedes Lächeln war aus seinem Gesicht geschwunden.

Die beiden glatzköpfigen Priester, die auf der Sänfte gestanden hatten, führten das junge Mädchen die hölzerne Rampe hinauf. Sie wirkte wie eine Schlafwandlerin.

Zu dritt traten sie zu den offenen Handflächen der Götterstatue. Die Priester zwangen das Mädchen in die Knie. Sie legten ihr Ketten um die Schultern, die sie in eisernen Ösen auf den Handflächen des Gottes einhakten. Der Blütenkranz, der ihr Haar schmücken sollte, fiel herab. Teilnahmslos kauerte sie dort, gefangen in ihrem Rausch und stummer Ergebenheit. Eine Priesterin mit langem, offenem Haar brachte eine goldene Kanne. Sie salbte die Stirn des Mädchens. Dann goss sie den Inhalt der Kanne über ihre Gewänder.

Als sie gemeinsam mit den beiden anderen Priestern von den Handflächen des Götzenbildes zurück auf die Rampe trat, beschleunigte sich noch einmal der Trommelschlag. Schmerzhaft schrill erklangen die Zimbeln. Der monotone Gesang wurde noch lauter.

Plötzlich ruckten die Arme der Statue nach oben. Alles Lärmen verstummte. Die beiden Handflächen der Gottheit schlugen vor das weit aufgerissene Maul, in dem das Mädchen verschwand. Schlagartig verstummten Gesang und Trommelschlag. Man hörte einen gedämpften Schrei. Dann senkten sich die Arme wieder. Festgehalten von den schweren Ketten, hockte das junge Mädchen auf den offenen Handflächen des Gottes. Ihre Haare und das Gewand brannten lichterloh. Schreiend wand sie sich in ihren Fesseln.

Mandred starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das brennende Mädchen, während Nuramon sich abwandte und den Platz verlassen wollte. Doch ihr selbst ernannter Führer stellte sich ihm in den Weg. »Tu das nicht«, zischte er.

Schon blickten einige der Gläubigen ärgerlich in ihre Richtung.

»Wenn du gehst, dann beleidigst du Balbar. Ich habe euch doch erzählt, was die Priester mit Frevlern machen. Sieh zu Boden, wenn du den Anblick nicht ertragen kannst, aber mach dich jetzt nicht davon. Bete zu Tjured, Arkassa oder an wen immer du glaubst.«

Die Schreie des Mädchens wurden leiser. Schließlich sackte sie sterbend nach vorne. Wieder stimmten die Priester ihren düsteren Gesang an. Langsam löste sich die Menschenmenge auf.

Farodin war übel. Was für ein Gott war das, dem man mit so unbeschreiblicher Grausamkeit huldigte?

»Jetzt können wir gehen«, sagte Zimon nüchtern. »Niemand ist gezwungen, an den Opferfeierlichkeiten teilzunehmen. Man kann diese Barbarei ganz gut meiden. Ich lebe nun schon zwei Jahre hier und verstehe die zwei Gesichter Iskendrias immer noch nicht. Es ist eine Stadt der Kunst und Kultur. Ich bin Bildhauer. Nirgendwo anders weiß man meine Arbeiten so zu schätzen wie hier. Die Reichen sind ganz versessen darauf, Standbilder von sich anfertigen zu lassen. Es gibt wunderbare Feste. In der Bibliothek streiten die Gelehrten der ganzen Welt um Fragen der Philosophie. Aber hier auf dem Tempelplatz verbrennt man jeden Tag ein Kind. Man kann einfach nicht glauben, dass das dieselben Leute sind.«

»Jeden Tag?«, fragte Mandred ungläubig. »Warum tun sie das? Das ist doch …« Er hob hilflos die Hände. »Das ist …«

»Vor siebzig Jahren wurde die Stadt von König Dandalus von den Aegilischen Inseln belagert. Seine Flotte brachte ein riesiges Heer vor die Mauern der Stadt. Sie bauten Katapulte und fahrbare Türme. Er hatte sogar Bergleute mitgebracht, die Tunnel unter den Mauern hindurch bauen sollten. Zwei Monde dauerte die Belagerung; da wusste Potheinos, der König der Stadt, dass Iskendria dem Untergang geweiht war. Er versprach Balbar seinen Sohn als Opfer, wenn er die Belagerer aufhielt. Darauf brach eine Seuche unter den Soldaten des Dandalus aus. Er musste die Belagerung ruhen lassen und sich zum Heerlager zurückziehen. Potheinos opferte seinen Sohn. Und er versprach Balbar jeden Tag ein Kind als Gabe, wenn er seinen Feind vernichtete. Zwei Tage später versank die Flotte der Aegilier in einem fürchterlichen Sturm. Unsere Küste ist eine Wüste. Ohne Wasser und Nahrung musste Dandalus die Belagerung aufgeben. Und ohne Schiffe war er gezwungen, am Ufer des Meeres nach Westen zu ziehen. Nur einer von hundert Männern kehrte auf die Aegilischen Inseln zurück. Was dem König widerfuhr, berichtet keine Quelle. Die Priesterschaft Balbars behauptet, ihr Gott selbst habe Dandalus geholt und verschlungen. Seit diesem Tag hat niemand mehr versucht, Iskendria zu erobern. Doch die Stadt blutet dafür, denn Balbar frisst ihre Kinder. Das Königshaus ist verloschen. Heute regieren hier die Priesterschaft Balbars und die Kaufleute. Iskendria ist eine sehr freizügige Stadt, die Heerscharen von Fremden innerhalb ihrer Mauern aufgenommen hat. Doch hütet euch, eines von Iskendrias Gesetzen zu verletzen. Hier kennt man nur eine Art der Strafe: Verstümmelung bis zum Tode.«

Farodin hatte nicht übel Lust, diese Stadt der Kindermörder sofort wieder zu verlassen. Ja, er ertappte sich sogar dabei, wie er daran dachte, die glatzköpfigen Priester in den feurigen Schlund der Statue zu stürzen.

»Wir werden deinen Rat beherzigen«, sagte Nuramon ernst. »Kannst du uns ein gutes Gasthaus nennen?«

Zimon grinste. »Der Schwager eines Freundes hat ein Gasthaus am Hafen. Es gibt sogar einen Stall, in dem ihr die Pferde unterstellen könnt. Ich bringe euch gern dorthin.«

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