Erwachen

Es ist erstaunlich warm, dachte Mandred, als er erwachte. Ganz in der Nähe erklang Vogelgezwitscher. In die Halle der Helden war er gewiss nicht eingegangen. Vögel gab es dort keine … Und überhaupt sollte der Honigduft von schwerem Met in der Luft hängen und der Geruch von harzigem Fichtenholz, das in der Feuergrube glühte!

Er hätte nur die Augen aufschlagen müssen, um zu wissen, wo er war. Aber Mandred zögerte es hinaus. Er lag auf etwas Weichem. Nichts schmerzte. Hände und Füße kribbelten leicht, aber das war nicht unangenehm. Er wollte gar nicht wissen, wo er war. Er wollte einfach nur den Augenblick genießen, in dem er sich so wohl fühlte. So war es also, wenn man tot war.

»Ich weiß, dass du wach bist.« Die Stimme klang, als ob es ihr schwer fiele, Worte zu formen.

Mandred schlug die Augen auf. Er lag unter einem Baum, dessen Äste sich wie eine weite Kuppel über ihn wölbten. Neben ihm kniete ein Fremder und tastete mit starken Händen seinen Körper ab. Die Äste reichten bis dicht über seinen Kopf; sein Gesicht blieb im Spiel von Licht und Schatten verborgen.

Mandred blinzelte, um deutlicher sehen zu können. Irgendetwas stimmte hier nicht. Die Schatten schienen um das fremde Gesicht zu wirbeln, so als wollten sie es voller Absicht verbergen.

»Wo bin ich?«

»In Sicherheit«, entgegnete der Fremde knapp.

Mandred wollte sich aufrichten. Da bemerkte er, dass seine Hände und Beine auf den Boden gebunden waren. Nur den Kopf konnte er anheben.

»Was hast du mit mir vor? Warum bin ich gefesselt?«

Kurz blitzten zwischen den Schatten zwei Augen auf. Sie hatten die Farbe hellen Bernsteins, wie man ihn manchmal nach schweren Stürmen weiter im Westen an den Ufern des Fjordes fand.

»Wenn Atta Aikhjarto dich geheilt hat, kannst du gehen. Ich lege längst nicht so viel Wert auf deine Gesellschaft, dass ich dich fesseln würde. Er war es, der darauf bestand, deine Wunden zu versorgen …« Der Fremde machte einen seltsam schnalzenden Laut. »Deine Sprache macht einem Knoten in die Zunge. Sie ist ohne jede … Schönheit.«

Mandred sah sich um. Außer dem Fremden, der auf so unheimliche Weise vom Zwielicht umgeben war, war hier niemand. Von den tiefer hängenden Ästen des mächtigen Baumes fielen Blätter wie an einem windstillen Herbsttag und sanken sanft schaukelnd zu Boden.

Der Krieger blickte zur Krone hinauf. Er lag unter einer Eiche. Ihr Laub strahlte in kräftigem Frühlingsgrün. Es roch nach guter, schwarzer Erde, aber auch nach Verwesung, nach fauligem Fleisch.

Ein goldener Lichtstrahl stach durch das Blätterdickicht hinab zu seiner linken Hand. Jetzt sah er, was ihn gefangen hielt: Es waren die Wurzeln der Eiche! Um sein Handgelenk hatte sich fingerdickes, knotiges Wurzelwerk geschlungen, und die Finger waren von hauchzartem, weißem Wurzelgeflecht überzogen. Von dort kam der faulige Geruch.

Der Krieger bäumte sich in seinen Fesseln auf, doch jeder Widerstand war sinnlos. Fesseln aus Eisenbändern hätten ihn nicht fester halten können als diese Wurzeln.

»Was geschieht mit mir?«

»Atta Aikhjarto hat angeboten, dich zu heilen. Du warst vom Tod gezeichnet, als du die Pforte durchschrittest. Er hat mir befohlen, dich hierher zu bringen.« Der Fremde deutete zu den weit ausladenden Ästen hinauf. »Er zahlt einen hohen Preis dafür, das Gift des Frostes aus deinem Körper zu ziehen und deinem Fleisch die Farbe von Rosenblättern zurückzugeben.«

»Bei Luth, wo bin ich hier?«

Der Fremde stieß ein meckerndes Geräusch aus, das entfernt an ein Lachen erinnerte. »Du bist da, wo deine Götter keine Macht mehr haben. Du musst sie verärgert haben, denn eigentlich behüten sie euch Menschenkinder davor, durch diese Pforten zu gelangen.«

»Die Pforten?«

»Der Steinkreis. Wir haben gehört, wie du zu deinen Göttern gebetet hast.« Wieder verfiel der Fremde in meckerndes Lachen. »Du bist jetzt in Albenmark, Mandred, bei den Albenkindern. Das ist ziemlich weit weg von deinen Göttern.«

Der Krieger erschrak. Wer die Pforten zu der jenseitigen Welt durchschritt, war ein Verfluchter! Er hatte genug Geschichten über Männer und Frauen gehört, die in das Reich der Albenkinder geholt wurden. Keine dieser Geschichten nahm ein gutes Ende. Und doch … Wenn man beherzt auftrat, konnte man sie zuweilen dazu bringen, einem einen Dienst zu erweisen. Ob sie von dem Manneber wussten?

»Warum hilft mir Atta Aik … Atta Ajek … die Eiche?«

Der Fremde schwieg eine Weile. Mandred wünschte, er hätte dessen Gesicht sehen können. Es musste wohl ein Zauber sein, der es so beharrlich vor seinen Blicken verbarg.

»Atta Aikhjarto muss dich für bedeutsam halten, Krieger. Bei manchen sehr alten Bäumen, so heißt es, reichen die Wurzeln so tief, dass sie in eurer Welt gründen, Mensch. Was immer Atta Aikhjarto um dich weiß, muss ihm so viel bedeuten, dass er einen großen Teil seiner Kraft für dich opfert. Er nimmt dein Gift in sich auf und gibt dir dafür von seinem Lebenssaft.« Der Fremde deutete auf die fallenden Blätter. »Er leidet statt deiner, Mensch. Und du hast fortan die Kraft einer Eiche in deinem Blut. Du wirst nicht mehr sein wie die anderen deiner Art, und du wirst …«

»Genug!«, unterbrach eine scharfe Stimme den Redefluss des Fremden. Die Äste des Baums teilten sich, und eine Gestalt, halb Mensch, halb Pferd, trat an Mandreds Lager.

Der Krieger schaute das Geschöpf fassungslos an. Nie zuvor hatte er von einer solchen Kreatur gehört. Dieses Mannpferd hatte den muskulösen Oberkörper eines Menschen, der aus dem Rumpf eines Pferdes wuchs! Sein Gesicht wurde von einem in Locken gedrehten schwarzen Bart eingerahmt. Das Haupthaar war kurz geschoren, und ein Goldreif ruhte auf seiner Stirn. Um die Schultern geschlungen trug er einen Köcher mit Pfeilen, und in der Linken hielt er einen kurzen Jagdbogen. Er hätte einen stattlichen Krieger abgegeben, wäre da nicht dieser rotbraune Pferdeleib gewesen.

Das Mannpferd verneigte sich knapp in Mandreds Richtung. »Man nennt mich Aigilaos. Die Herrin von Albenmark wünscht dich zu sehen, und man hat mir die Ehre übertragen, dich zum Königshof zu geleiten.« Er sprach mit tiefer, melodiöser Stimme, doch betonte er die Worte dabei auf seltsame Weise.

Mandred spürte, wie sich der eiserne Griff der Wurzeln lockerte und ihn schließlich ganz freigab. Doch er hatte nur Augen für das Mannpferd. Dieses seltsame Geschöpf erinnerte ihn an den Manneber. Auch er war halb Mensch, halb Tier gewesen. Wie mochte erst die Herrin dieses Mannpferdes aussehen?

Mandred tastete über seinen Oberschenkel. Die tiefe Wunde hatte sich geschlossen, ohne auch nur eine Narbe hinterlassen zu haben. Versuchshalber streckte er die Beine. Kein unangenehmes Kribbeln, keine Schmerzen mehr! Sie schienen völlig gesundet, so als wären sie niemals vom Frostbiss verstümmelt gewesen.

Vorsichtig stand er auf. Noch traute er der Kraft seiner Beine nicht. Durch die Sohlen seiner Stiefel fühlte er den weichen Waldboden. Das war Zauberei! Mächtige Zauberei, wie keine Hexe im Fjordland sie hätte wirken können. Beine und Füße waren tot gewesen. Jetzt war das Gefühl wieder in sie zurückgekehrt.

Der Krieger trat an den mächtigen Eichenstamm heran. Fünf Männer hätten den Baum mit ausgestreckten Armen nicht umfassen können. Er musste Jahrhunderte alt sein. Ehrfürchtig kniete Mandred vor der Eiche nieder und berührte mit der Stirn die zerklüftete Rinde. »Ich danke dir, Baum. Ich stehe mit meinem Leben in deiner Schuld.« Er räusperte sich verlegen. Wie bedankte man sich bei einem Baum? Einem Baum mit Zauberkräften, den der gesichtslose Fremde mit einer Ehrfurcht behandelte, als wäre er ein König. »Ich … Ich werde wiederkehren und dir zu Ehren ein Fest feiern. Ein Fest, wie wir es in den Fjordlanden begehen. Ich …« Er breitete die Arme aus. Es war jämmerlich, sich mit nichts als einem Versprechen bei seinem Lebensretter zu bedanken. Es sollte etwas Handfesteres sein …

Mandred riss einen Streifen Stoff von seiner Hose und knotete ihn um einen der tiefer hängenden Äste. »Wenn es je etwas gibt, was ich für dich tun kann, sende mir einen Boten, der mir diesen Stoffstreifen überbringt. Ich schwöre bei dem Blute, mit dem der Stoff durchtränkt ist, dass meine Axt von heute an zwischen dir und all deinen Feinden stehen wird.«

Ein Rascheln ließ Mandred aufblicken. Eine rotbraune Eichel fiel von der Krone des Baumes herab, streifte seine Schulter und landete im welken Laub.

»Nimm sie«, sagte der Fremde leise. »Atta Aikhjarto macht selten Geschenke. Er hat dein Gelöbnis angenommen. Hüte die Eichel gut. Sie mag ein großer Schatz sein.«

»Ein Schatz, von dem in jedem Jahr tausende Brüder an den Ästen Atta Aikhjartos wachsen«, spottete das Mannpferd. »Schätze, mit denen sich Heerscharen von Eichhörnchen und Mäusen den Bauch voll schlagen. Du bist wahrlich reich beschenkt, Menschensohn. Komm nun, du wirst unsere Herrin doch nicht warten lassen?«

Mandred musterte das Mannpferd misstrauisch und bückte sich nach der Eichel. Aigilaos war ihm nicht geheuer. »Ich fürchte, ich werde mit dir nicht Schritt halten können.«

Weiße Zähne blitzten zwischen dem dichten Bart. Aigilaos grinste breit. »Das wirst du auch nicht müssen, Menschensohn. Schwing dich auf meinen Rücken und halte dich gut am Lederband meines Köchers fest. Ich bin nicht weniger kräftig als ein Schlachtross deiner Welt, und ich wette meinen Schweif, dass ich jedes Pferd, dem du je begegnet bist, im Laufen schlagen würde. Dabei ist mein Tritt so leicht, dass sich kaum ein Grashalm unter meinen Hufen beugt. Ich bin Aigilaos, der Schnellste unter den Kentauren, und man rühmt mich …«

»… einer noch schnelleren Zunge«, spottete der Fremde. »Man sagt von den Kentauren, dass ihnen gern die Zunge durchgeht. Sie ist so schnell, dass sie manchmal sogar die Wirklichkeit überholt.«

»Und von dir, Xern, heißt es, dass du ein solcher Griesgram bist, dass es mit dir nur Bäume aushalten«, erwiderte Aigilaos lachend. »Und das vermutlich nur, weil sie nicht vor dir davonlaufen können.«

Die Blätter der großen Eiche rauschten, obwohl Mandred keinen Luftzug spürte. Welkes Laub fiel dicht wie Frühlingsschnee.

Der Kentaur blickte zu den mächtigen Ästen empor. Das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden. »Mit dir habe ich keinen Streit, Atta Aikhjarto.«

In der Ferne erklang ein Horn. Das Mannpferd wirkte plötzlich erleichtert. »Die Hörner von Albenmark rufen. Ich muss dich zum Hof der Königin bringen, Menschensohn.«

Xern nickte Mandred zu. Für einen Augenblick schwand der Zauber, der sein Antlitz den Blicken entzog. Er hatte ein schmales, hübsches Gesicht, wenn man davon absah, dass seinem dichten Haar ein mächtiges Hirschgeweih entsprang. Dem Krieger verschlug es den Atem. Erschrocken wich er zurück. Gab es hier denn nur Tiermänner?

Plötzlich fügten sich für Mandred alle Ereignisse zu einem deutlichen Bild zusammen. Der Manneber war von hier gekommen! Er hatte ihn bei der Jagd verschont. Es war kein Zufall gewesen, dass er als Einziger nicht unter den tödlichen Hauern der Bestie gestorben war. Die Verfolgung … War dies etwa Teil eines heimtückischen Plans? Sollte er in den Steinkreis getrieben werden? Vielleicht war er nur das Wild dieser Bestie gewesen und hatte genau das getan, was sie wollte. Er war in den Steinkreis getreten …

Das Mannpferd scharrte unruhig mit den Hufen. »Komm, Mandred!«

Mandred griff nach dem Gurt des Köchers und zog sich auf den Rücken des Kentauren. Er würde sich dem stellen, was ihn erwartete! Er war kein Feigling. Mochte diese geheimnisvolle Herrin tausend Hörner rufen lassen, er würde gewiss nicht das Knie vor ihr beugen. Nein, er würde ihr aufrecht und voller Stolz entgegentreten und ein Wergeid zur Sühne für das Unheil fordern, das ihr Manneber ins Fjordland getragen hatte.

Aigilaos zerteilte mit seinen kräftigen Armen den schützenden Vorhang aus Ästen und trat auf eine steinige Wiese hinaus. Mandred sah sich verwundert um. Hier herrschte Frühling, und der Himmel erschien ihm viel weiter als im Fjordland! Aber wie konnte dann eine reife Eichel vom Baum fallen?

Das Mannpferd verfiel in einen scharfen Galopp. Mandreds Hände klammerten sich fest um das Leder des Köchers. Aigilaos hatte nicht gelogen. Schnell wie der Wind eilte er über die Wiese, vorbei an einer mächtigen Turmruine. Dahinter erhob sich ein Hügel, der von einem Steinkreis gekrönt wurde.

Mandred war nie ein guter Reiter gewesen. Seine Beine verkrampften sich, so fest presste er sie gegen die Flanken des Mannpferdes. Aigilaos lachte. Er trieb ein Spiel mit ihm! Doch er würde ihn nicht bitten, langsamer zu werden, schwor sich Mandred stumm.

Sie durchquerten einen lichten Birkenhain. Die Luft war erfüllt von goldenen Samen. Alle Bäume waren gerade gewachsen. Ihre Stämme schimmerten wie Elfenbein. Nirgends hing die Rinde in Fetzen herunter, so wie bei den Bäumen, die er vom Fjordland kannte. Wilde Rosen rankten sich um vereinzelte Findlinge aus grauem Fels. Fast schien es, als herrschte in dem Hain eine seltsame, wilde Ordnung. Doch wer würde seine Zeit damit vertun, ein Stück Wald zu hegen, das keine Ernte einbrachte? Gewiss nicht ein Wesen wie Aigilaos!

Der Weg stieg stetig an und war bald nur wenig mehr als ein schmaler Wildpfad. Die Birken wurden von Buchen abgelöst, deren Blätterdach so dicht war, dass es kaum Licht hindurchließ. Wie graue Säulen erschienen Mandred die hohen, schlanken Stämme. Es war unheimlich still. Nur mehr der vom dicken Laubboden gedämpfte Hufschlag war zu vernehmen. Hin und wieder bemerkte Mandred hoch in den Kronen seltsame Nester, die wie große Säcke aus weißem Leintuch aussahen. In manchen der Nester leuchteten Lichter. Der Krieger fühlte sich beobachtet. Irgendetwas war dort oben und folgte ihnen mit neugierigen Blicken.

Aigilaos preschte noch immer mit halsbrecherischem Galopp voran. Eine Stunde oder vielleicht noch länger ritten sie durch den stillen Wald, bis sie schließlich auf einen breiten Weg stießen. Das Mannpferd schwitzte nicht einmal.

Der Wald wurde nun lichter. Breite Bänder aus grauem, moosbewachsenem Fels durchschnitten den dunklen Boden. Aigilaos wurde langsamer. Er sah sich aufmerksam um.

Mandred erblickte halb zwischen den Bäumen verborgen einen weiteren Steinkreis. Die stehenden Steine waren von Efeu umrankt. Ein gestürzter Baumriese lag quer im Kreis. Der Ort schien seit langem verlassen.

Der Krieger spürte, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Die Luft war hier ein wenig kühler. Er hatte das beklemmende Gefühl, dass knapp außerhalb seines Gesichtsfeldes etwas lauerte, das selbst dem Mannpferd unheimlich war. Warum hatte man diesen Steinkreis aufgegeben? Was mochte hier geschehen sein?

Der Weg führte sie hinauf zu einer Klippe, die einen atemberaubenden Blick auf das umliegende Land gewährte. Direkt vor ihnen lag eine weite Klamm, die aussah, als hätte hier einst Naida die Wolkenreiterin mit einem gewaltigen Blitzschlag den felsigen Boden gespalten. Ein schmaler, aus dem Stein geschlagener Weg führte hinab zu einer Brücke, die sich in kühnem Bogen über den Abgrund spannte.

Jenseits der Klamm stieg das Land in sanften Hügeln an, die zum Horizont hin in graue Berge übergingen. Über den jenseitigen Rand der Klippe ergoss sich eine Vielzahl kleiner Bäche schäumend in den Abgrund.

»Shalyn Falah, die weiße Brücke«, sagte Aigilaos ehrfurchtsvoll. »Es heißt, sie sei aus einem Fingerknöchelchen der Riesin Dalagira geschnitten. Wer sie überschreitet, betritt das Herzland von Albenmark. Es ist sehr lange her, dass ein Menschensohn diesen Ort zu sehen bekam.«

Das Mannpferd machte sich an den Abstieg in die Klamm. Der Boden aus glattem Fels war mit Gischtwasser benetzt. Vorsichtig tastete es sich abwärts und fluchte dabei herzhaft in einer Sprache, die Mandred nicht verstand.

Als sie einen breiten Felssims erreichten, bat Aigilaos Mandred abzusteigen. Vor ihnen lag die Brücke. Sie war nur zwei Schritt breit und zur Mitte des Weges hin leicht gewölbt, sodass das Sprühwasser sich nicht in Pfützen sammelte, sondern ablief. Es gab kein Geländer.

»Wahrlich ein wunderschönes Bauwerk«, murmelte Aigilaos missmutig. »Nur haben die Erbauer nicht daran gedacht, dass es vielleicht Geschöpfe mit beschlagenen Hufen geben könnte. Es ist besser für dich, wenn du auf eigenen Füßen die Brücke passierst, Mandred. Man erwartet dich auf der anderen Seite. Ich werde einen Umweg nehmen und wohl erst in der Nacht auf der Burg eintreffen. Dich aber erwartet die Herrin zur Stunde der Dämmerung.« Er lächelte schief. »Ich hoffe, du bist schwindelfrei, Krieger.«

Mandred hatte ein flaues Gefühl, als er die spiegelglatte Brücke betrachtete. Aber er würde diesem Mannpferd seine Angst nicht zeigen! »Natürlich bin ich schwindelfrei. Ich bin ein Krieger aus dem Fjordland. Ich kann klettern wie eine Ziege!«

»Zumindest bist du so haarig wie eine Ziege.« Aigilaos grinste frech. »Wir sehen uns am Hof der Herrin.« Der Kentaur wandte sich ab und erklomm zügig den steilen Pfad zum Rand der Klamm.

Mandred betrachtete die Brücke. In den Märchen vom Feenland mussten die sterblichen Helden meist eine Prüfung bestehen. War das hier seine Prüfung? Hatte das Mannpferd ihn hinters Licht geführt?

Es war müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen! Entschlossen trat Mandred auf die Brücke. Er war überrascht, mit den Sohlen seiner Winterstiefel guten Halt zu finden. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen. Feines Sprühwasser perlte von seinem Gesicht. Der Wind griff mit unsichtbaren Fingern nach seinem Bart. Bald war Mandred weit über dem Abgrund. In immer dichteren Wolken zog das Sprühwasser über die Brücke. So musste sich ein Vogel in luftiger Höhe fühlen, mitten zwischen Himmel und Erde.

Neugierig musterte er den steinernen Boden. Nirgends war eine Fuge zu entdecken. Es schien ganz so, als wäre die Brücke tatsächlich aus einem einzigen Stein geschnitten. Oder war die Brücke in Wahrheit aus dem Fingerknöchelchen einer Riesin gefertigt, so wie Aigilaos es behauptet hatte? Sie war glatt wie poliertes Elfenbein. Mandred verscheuchte den Gedanken. Eine Riesin von dieser Größe hätte das ganze Fjordland unter sich begraben, wenn sie gefallen wäre. Diese Geschichte konnte nur ein Märchen sein.

Je weiter er kam, desto übermütiger wurde Mandred. Schließlich trat er dicht an den Rand der Brücke und blickte in den Abgrund. Die Tiefe hatte etwas Anziehendes. Sie erweckte in ihm den Wunsch, einfach zu springen. Sich der Freiheit des Falls hinzugeben. Je länger er hinabsah, desto stärker wurde sein Wunsch, diesem Lockruf nachzugeben.

»Mandred?« Aus den Dunstschleiern trat eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt. Sie war ganz in Weiß gekleidet. Die linke Hand ruhte auf dem Knauf des Schwertes am Gürtel.

Mandreds Rechte wollte im Reflex dorthin greifen, wo für gewöhnlich seine Axt im Gürtel steckte. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er unbewaffnet war.

Sein Gegenüber hatte die Bewegung durchaus bemerkt. »Ich bin nicht dein Feind, Menschensohn.« Er strich sich mit nachlässiger Geste das Haar aus dem Gesicht. »Mein Name ist Ollowain. Ich bin der Wächter der Shalyn Falah. Meine Königin hat mich beauftragt, dich das letzte Stück Weg zu ihrer Burg zu geleiten.«

Mandred musterte den Mann abschätzend. Er bewegte sich mit der Gewandtheit einer Katze. Sonderlich stark sah er nicht aus. Und doch umgab ihn eine Aura der Selbstsicherheit, als wäre er der Held vieler Schlachten. Sein Gesicht war schmal und blass. Spitze Ohren stachen durch das hellblonde Haar, das von Sprühwasser strähnig geworden war. Ollowains Augen verrieten nicht, was er dachte. Überhaupt war sein Gesicht wie eine Maske.

Mandred dachte an die Geschichten, die man sich in langen Winternächten erzählte. Es konnte wohl keinen Zweifel geben: Dies musste ein Elf sein! Und auch er wusste um Mandreds Namen … »Warum kennt mich jeder in diesem Land?«, fragte er misstrauisch.

»Nachrichten reisen schnell in Albenmark, Menschensohn. Unserer Königin entgeht nichts, was in ihrem Land geschieht. Ihren Kindern schickt sie Boten, die auf dem Wind reisen. Doch nun komm. Es liegt ein langer Ritt vor uns, und ich werde nicht gestatten, dass du meine Herrin warten lässt. Folge mir!« Der Elf drehte sich auf dem Absatz um und trat in die schmale Klamm, die hinter der Brücke lag.

Verblüfft sah Mandred dem Elfen nach. Was war denn das? So behandelte man doch keinen Gast!, dachte er aufgebracht. Noch mehr ärgerte ihn, dass Ollowain offensichtlich keinen Augenblick daran zweifelte, dass er ihm hinterherlief. Missmutig folgte er dem Elfen in die Klamm. Die rötlichen Felswände waren von blaugrauen und schwarzen Adern durchzogen. Doch Mandred hatte keinen Blick für die Schönheit der Farbmuster. Immerzu musste er daran denken, dass er dem Elfen folgte wie ein Hund seinem Herrn.

Hätte ein Fjordländer ihn auf solche Weise behandelt, hätte er ihn ohne zu zögern niedergeschlagen. Doch in seiner Heimat hätte es niemand gewagt, derart respektlos mit ihm umzugehen. Machte er etwas falsch? Vielleicht war es ja sein Fehler? Gewiss war der Elf empfänglich für Komplimente. Jeder Krieger redete gern über seine Waffen. »Du trägst ein prächtiges Schwert, Ollowain.«

Der Elf antwortete nicht.

»Ich bevorzuge den Kampf mit der Axt.«

Schweigen.

Mandred ballte die Fäuste und öffnete sie wieder. So ein eingebildeter Kerl! Er war der Wächter einer Brücke und Laufbursche seiner Königin. Was bedeutete das schon! Für einen richtigen Krieger war der Elf viel zu schmal gebaut. »Bei uns tragen nur die schwächlicheren Männer Schwerter. Die Königin des Kampfes ist die Axt. Es erfordert Mut, Kraft und Geschicklichkeit, mit einer Axt zu kämpfen. Nur wenige Krieger erfüllen diese drei Tugenden in gleichem Maße.«

Noch immer zeigte der Elf keine Reaktion. Was musste man denn noch sagen, um diesen Lakaien aus der Fassung zu bringen?

Schließlich wichen die steilen Felswände zurück, und sie gelangten zu einer hohen, weißen Mauer. Sie war in einem weiten Halbkreis angelegt, so als wiche sie vor dem Engpass zurück. Mandred wusste, was der verborgene Sinn dahinter war: Die Mauer wurde länger. So würden mehr Bogenschützen auf ihr Platz finden, falls jemals ein Gegner wahnsinnig genug sein sollte, über diesen Pass hinweg das Herzland von Albenmark anzugreifen.

In der Mitte der Mauer erhob sich ein schlanker Turm. Ein großes, bronzebeschlagenes Tor öffnete sich, als sie sich näherten.

»Stünde dieser Turm am Ende der Brücke oder besser noch oben am Steilweg auf der anderen Seite der Schlucht, wäre das Herzland einfacher zu verteidigen. Eine Hand voll Männer könnte dann ein ganzes Heer aufhalten«, sagte Mandred leichthin.

»Auf der Shalyn Falah darf kein Blut vergossen werden, Menschenkind. Glaubst du wirklich, du wärest klüger als die Baumeister meines Volkes?« Ollowain machte sich nicht mal die Mühe, sich umzudrehen, während er sprach.

»Vor Baumeistern, die beim Brückenbau das Geländer vergessen, habe ich in der Tat keinen großen Respekt«, entgegnete Mandred spitz.

Der Elf blieb stehen. »Bist du so einfältig, oder verlässt du dich einfach darauf, dass du unter dem Schutz der Königin stehst, Menschensohn? Hat dir deine Amme nicht erzählt, was Elfen mit Menschen tun, die derart respektlos sind?«

Mandred leckte sich nervös über die Lippen. War er denn vollkommen verrückt geworden? Hätte er nur den Mund gehalten! Doch wenn er jetzt nicht antwortete, würde er sein Gesicht verlieren, es sei denn … Er lächelte. Es gab noch einen Weg.

»Es zeugt wahrlich von deiner Tapferkeit, Elf, einen unbewaffneten Mann zu verspotten.«

Ollowain fuhr mit wirbelndem Umhang herum. Sein Schwert verharrte mit dem Griff voran kaum einen Fingerbreit vor Mandreds Brust. »Du glaubst, du wärest mit einer Waffe in der Hand eine Gefahr für mich, Menschenkind? Versuche es!«

Mandred grinste frech. »Ich kämpfe gegen keinen Unbewaffneten.«

»Es heißt, den Feigling erkennt man zuerst an seiner flinken Zunge«, erwiderte Ollowain. »Ich hoffe, du wirst dir nicht gleich die Beinkleider benässen.«

Mandreds Hand schoss vor. Er packte Ollowains Schwert und machte einen Satz zurück. Das war genug! Er würde diesem aufgeblasenen Kerl nicht wirklich etwas tun, doch ein Klaps mit der breiten Seite vom Schwert sollte ihm zeigen, dass er sich mit dem Falschen anlegte! Ein schneller Blick zu den Zinnen der Sperrmauer verriet ihm, dass ihnen niemand zusah. Das war gut so. Ollowain selbst würde bestimmt nicht herumerzählen, dass er Prügel bezogen hatte.

Mandred musterte seinen Gegner. Er war prächtig gewandet, gewiss, aber ein Held oder Zauberer war er bestimmt nicht. Wen stellte man schon als Wächter an eine Brücke, die niemand überqueren würde, der all seine Sinne beisammen hatte? Einen Schnösel! Einen Niemand! Diesen Wichtigtuer würde er schon noch Respekt lehren. Selbst wenn er ein Elf war.

Er vollführte ein paar schwungvolle Hiebe in die Luft, um seine Muskeln zu lockern. Die Waffe war ungewöhnlich leicht, ganz anders als ein Menschenschwert. Sie war beidseitig geschliffen. Er würde vorsichtig sein müssen, wenn er Ollowain nicht versehentlich verletzen wollte.

»Greifst du mich nun an, oder brauchst du noch ein zweites Schwert?«, fragte der Elf gelangweilt.

Mandred stürmte vor. Er riss das Schwert hoch, als wollte er Ollowain den Schädel spalten. Im letzten Augenblick änderte er die Schlagrichtung, um einen Rückhandhieb gegen die rechte Schulter des Elfen zu führen. Doch der Schwertstreich ging ins Leere.

Ollowain war gerade so weit ausgewichen, dass Mandred ihn um wenige Zoll verfehlte. Der weiß gewandete Krieger lächelte überheblich.

Mandred ging auf Abstand. Auch wenn der Elf die Statur eines Knaben hatte, verstand er zu kämpfen. Mandred würde es mit seinem besten Trick versuchen. Eine Finte, die drei seiner Feinde das Leben gekostet hatte.

Mit der Linken fuhr er vor, so als wollte er Ollowain eine schallende Ohrfeige verpassen. Gleichzeitig führte er mit rechts einen Schwerthieb aus dem Handgelenk, der auf das Knie seines Gegners zielte. Den mit sparsamer Bewegung geführten Schwertstoß hatten seine Feinde stets erst dann bemerkt, wenn sie die Klinge getroffen hatte.

Ein Fausthieb prellte Mandreds Hand zur Seite. Ein Fußtritt traf die Schwertspitze, sodass sie ihr Ziel verfehlte. Dann rammte der Elf ihm ein Knie zwischen die Beine.

Mandred tanzten Sterne vor den Augen, er glaubte vor Schmerz nicht atmen zu können. Ein Stoß vor die Brust brachte ihn aus dem Gleichgewicht, ein zweiter Hieb ließ ihn straucheln. Er blinzelte, um wieder klarer zu sehen. Der Elf war so schnell, dass seine Bewegungen zu geisterhaften Schemen verschwammen.

Hilflos schlug Mandred um sich, um den Gegner wieder auf Distanz zu bringen. Etwas traf seine rechte Hand. Die Finger waren taub vor Schmerz.

Mandreds Klinge wurde nur noch von seinen Instinkten als Krieger gelenkt. Er fühlte sich hilflos, während Ollowain überall zugleich zu sein schien.

Mandreds Schwert beschrieb einen wirbelnden Halbkreis. Dann wurde ihm die Waffe mit einem Ruck aus der Hand gerissen. Ein Luftzug strich dem Krieger über die rechte Wange. Dann war der Kampf vorbei.

Ollowain war ein paar Schritte zurückgetreten. Sein Schwert steckte in der Scheide, so als wäre nichts geschehen. Langsam sah Mandred wieder klarer. Es war lange her, dass ihn jemand dermaßen verprügelt hatte. Der tückische Elf hatte es vermieden, ihm ins Gesicht zu schlagen. Bei Hof würde niemand bemerken, was vorgefallen war.

»Du musst ja ganz schön Angst gehabt haben«, brachte Mandred keuchend hervor, »dass du dich deiner Zauberei bedient hast, um mich zu besiegen.«

»Ist es Zauberei, wenn dein Auge zu langsam ist, meiner Hand zu folgen?«

»Kein Mensch kann sich ohne Zauberei so schnell bewegen«, beharrte Mandred.

Der Anflug eines Lächelns spielte um Ollowains Lippen. »Ganz recht, Mandred. Kein Mensch.« Er deutete zum Tor des Turms, das nun weit offen stand. Dort warteten zwei gesattelte Pferde auf sie. »Würdest du mir die Ehre erweisen, mir zu folgen?«

Mandred tat jeder Knochen weh. Steifbeinig ging er auf das Tor zu. Der Elf hielt sich an seiner Seite. »Ich brauche niemanden, der mich stützt«, brummte Mandred missmutig.

»Andernfalls würdest du auch eine kümmerliche Figur bei Hof abgeben.« Ein freundlicher Blick nahm Ollowains Worten ihren Stachel.

Die Pferde unter dem Torbogen warteten geduldig. Nirgends waren Knechte zu sehen, die sie herbeigeführt hatten. Ein gewölbter Torweg zog sich wie ein Tunnel durch das Mauerwerk des mächtigen Turms. Er lag verlassen. Auch hinter den Zinnen der Mauer ließ sich niemand blicken. Und doch spürte Mandred mit einem Mal, dass er beobachtet wurde.

Wollten die Elfen verbergen, wie stark die Garnison war, die das Tor zum Herzland bewachte? Hielt man ihn denn für einen Feind? Für einen Späher vielleicht? Aber hätte ihn dann die Eiche geheilt?

Ein Schimmel und ein Grauer erwarteten sie. Ollowain trat an den weißen Hengst heran und tätschelte ihm verspielt die Nüstern. Mandred kam es so vor, als schaute der Graue ihn erwartungsvoll an. Er verstand nicht viel von Pferden. Diese Tiere waren von leichtem Körperbau; sie hatten schlanke Fesseln und wirkten zerbrechlich. Aber er hatte sich ja auch von Ollowains Aussehen täuschen lassen. Wahrscheinlich waren sie ausdauernder und stärker als jedes andere Pferd, das er bislang geritten hatte. Ausgenommen Aigilaos. Mandred schmunzelte bei der Erinnerung an den großsprecherischen Kentauren.

Stöhnend zog er sich in den Sattel. Als er halbwegs aufrecht saß, bedeutete der Elfenkrieger ihm zu folgen. Dumpf hallte der Tritt der unbeschlagenen Hufe von den Wänden des Tortunnels wider.

Ollowain schlug einen Weg ein, der über sanft ansteigende grüne Hügel führte. Es wurde ein langer Ritt bis zur Burg der Elfenkönigin, vorbei an dunklen Wäldern und über eine Unzahl kleiner Brücken. Ab und an sah man in der Ferne Häuser mit kühn geschwungenen Kuppeldächern. Mit Bedacht in die Landschaft gebettet, wirkten sie auf Mandred wie Edelsteine, die in eine besonders kostbare Fassung eingearbeitet waren.

Es war ein Land des Frühlings, das er mit Ollowain durchquerte. Wieder fragte Mandred sich, wie lange er unter dem Eichbaum geschlafen haben mochte. In den Märchen hieß es, dass in der Elfenwelt ewiger Frühling herrsche. Gewiss waren nicht mehr als nur zwei oder drei Tage vergangen, seit er durch den Steinkreis gegangen war. Vielleicht sogar nur ein einziger!

Mandred zwang sich, seine Gedanken zu ordnen, um vor der Königin nicht wie ein Narr dazustehen. Inzwischen war er überzeugt davon, dass der Manneber von hier, aus der Elfenwelt, gekommen war. Er dachte an Xern und Aigilaos. Hier schien es nichts Ungewöhnliches zu sein, wenn Menschen und Tiere miteinander verschmolzen – so wie der Manneber.

Wenn sich die Fürsten des Fjordlands trafen, um Recht zu sprechen, war es an Mandred, Firnstayn zu vertreten. Er wusste, was zu tun war, um eine Fehde im Keim zu ersticken. Kam es zwischen zwei Sippen zu einer Bluttat und ein Mann wurde getötet, dann musste die Familie des Mörders der Familie des Opfers ein Wergeid abtreten. Wurde dieses geleistet, so gab es keinen Grund mehr zur Blutrache. Der Manneber kam von hier. Die Königin der Elfen trug für ihn Verantwortung. Mandred hatte durch ihn drei Gefährten verloren. Firnstayn war so klein, dass der Verlust von drei kräftigen Männern seinen Bestand gefährden mochte. Er würde ein hohes Wergeid fordern! Luth allein mochte wissen, wie viele Männer aus anderen Dörfern von der Kreatur getötet worden waren. Die Albenkinder hatten den Schaden angerichtet, also sollten sie auch für ihn aufkommen. Das war nur gerecht!

Gewiss fürchteten die Elfen keine Blutfehde mit seinem Dorf. Dennoch war er es seinen toten Freunden schuldig, dass er die Stimme am Hof der Königin erhob und Gerechtigkeit forderte. Ahnte die Herrin von Albenmark das vielleicht? Wusste sie, welche Schuld sie auf sich geladen hatte? Ließ sie ihn deshalb mit solcher Eile an den Hof holen?

Am späten Nachmittag erblickten sie zum ersten Mal die Burg der Elfenkönigin. Sie lag noch ein ganzes Stück entfernt auf einem steilen Hügel, jenseits eines weiten Landes mit Wäldern und Wiesen. Ihr Anblick verschlug Mandred die Sprache. Die Burg schien geradewegs aus dem Fels zu wachsen und sich mit den Dächern ihrer höchsten Türme in den Himmel bohren zu wollen. Die Mauern waren von strahlendem Weiß, während sich die Dächer in einem Blaugrün absetzten, das an die Farbe alter Bronze erinnerte. Kein Fürst der Nordlande hatte einen Sitz, der sich auch nur mit dem kleinsten der Türme dieser Burg messen konnte. Selbst die goldene Halle von König Horsa wirkte unbedeutend, verglichen mit dieser Pracht. Wie mächtig musste die Frau sein, die über dieses Land herrschte! Und wie reich musste sie sein … So reich, dass es sie wohl nur ein Fingerschnippen kosten würde, alle Langhäuser seines Dorfes mit goldenen Schindeln decken zu lassen. Er sollte das bedenken, wenn er die Höhe des Wergeides für seine toten Jagdgefährten festsetzte.

Mandred war insgeheim überrascht, wie langsam sie sich der Burg näherten. Obwohl die Pferde schnell wie der Wind über das Land dahinflogen, wurde die Burg am Horizont kaum größer. Sie kamen an einem Baum vorbei, der so alt wie die Berge zu sein schien. Sein Stamm war mächtig wie ein Turm, und in seinen weit ausladenden Ästen waren seltsame Dinge zu sehen. Es schien, als hätte das lebende Holz runde Hütten aus ineinander geflochtenen Ästen geschaffen. Seilbrücken spannten sich durch die Baumkrone und verbanden die Hütten miteinander. Halb verborgen zwischen den Zweigen erkannte Mandred Gestalten. Waren es Elfen, so wie Ollowain? Oder noch ein anderes, seltsames Volk?

Plötzlich erhob sich wie auf ein unhörbares Kommando ein Schwarm Vögel aus dem Baum. Ihr Gefieder schimmerte in allen Farben des Regenbogens. Sie flogen dicht über Mandred hinweg, beschrieben einen weiten Bogen am Himmel und kreisten dann über den zwei Reitern. Es mussten tausende sein. Die Luft war erfüllt vom Rauschen ihres Flügelschlags. So wunderbar war das Spiel der Farben auf ihren Federn, dass Mandred den Blick nicht abwenden mochte, bis sich der Schwarm nach und nach auflöste.

Ollowain war den ganzen Ritt über still geblieben. Er schien in Gedanken versunken zu sein und unbeeindruckt von den Wundern des Herzlandes. Mandred hingegen konnte sich kaum satt sehen.

Einmal kamen sie an einem flachen See vorbei, auf dessen Grund funkelnde Edelsteine lagen. Was waren das nur für Wesen, dass sie solche Schätze einfach ins Wasser warfen! Allerdings hatte er selbst auch schon den Göttern Opfergaben gebracht. Die Axt des ersten Mannes, den er besiegt hatte, hatte er in einer stillen Vollmondnacht an der Heiligen Quelle tief in den Bergen Norgrimm, dem Gott der Schlachten, zum Geschenk gemacht. Freya und die anderen Frauen ehrten Luth, indem sie kunstvoll gewobene Stoffbänder in die Äste der Dorflinde flochten. So reich wie das Elfenvolk schien, war es nur angemessen, wenn sie ihre Götter mit Edelsteinen beschenkten. Dennoch … Der Reichtum der Elfen erzürnte Mandred. Er wusste zwar nicht, wie er hierher gekommen war, doch so weit konnte dieses Königreich nicht vom Fjordland entfernt sein. Und hier gab es alles im Überfluss, während seinesgleichen im Winter Not litt. Nur ein kleiner Teil dieser Schätze könnte den Hunger für immer vertreiben. Was immer er als Wergeid für seine toten Gefährten forderte, für die Elfen war es gewiss bedeutungslos.

Er wollte etwas anderes als Gold und Edelsteine. Er wollte Rache. Diese Bestie, der Manneber, sollte tot zu seinen Füßen liegen!

Mandred beobachtete Ollowain. Ein Krieger seiner Art würde das Ungeheuer sicher mit Leichtigkeit besiegen können. Er seufzte. Alles schien hier leichter zu sein.

Sie waren in einen lichten Buchenwald gekommen. Der Klang von Flöten hing in der Luft. Irgendwo in den Baumwipfeln ertönte eine Stimme von solcher Klarheit, dass einem das Herz aufging. Obwohl Mandred kein einziges Wort verstand, verflog sein Zorn. Was blieb, war die Trauer um die verlorenen Freunde.

»Wer singt dort?«, fragte er Ollowain.

Der weiß gewandete Krieger blickte zu den Baumwipfeln. »Eine Maid aus dem Waldvolk. Sie sind seltsam. Ihr Leben ist eng verbunden mit den Bäumen. Wenn sie nicht gesehen werden wollen, dann vermag niemand sie zu finden – außer vielleicht ihresgleichen. Sie sind berühmt für ihren Gesang und ihren Umgang mit dem Bogen. Wie Schatten bewegen sie sich durch das Geäst. Hüte dich, einen ihrer Wälder zu betreten, wenn du mit ihnen in Fehde stehst, Menschensohn.«

Beklommen sah Mandred zu den Baumkronen auf. Hin und wieder glaubte er dort oben Schatten zu sehen, und er war froh, als sie den Wald wieder verließen. Lange noch folgte ihnen der warme Flötenklang.

Die Sonne berührte schon die Berge am Horizont, als sie das weite Tal erreichten, über dem die Burg der Königin thronte. Entlang eines kleinen Bachlaufs war ein Zeltlager errichtet. Seidene Banner wiegten sich im Wind, und die Zelte schienen in ihrer verschwenderischen Pracht miteinander zu wetteifern. Auf den Hügeln standen Häuser, eingefasst von Säulengängen. Manche der Häuser waren durch lange Laubengänge miteinander verbunden, die ganz von Rosen und Efeu überwachsen waren. So vielfältig waren die Bauwerke rings auf den Hängen, dass sich das Auge nicht abwenden mochte. Was Mandred aber am meisten beeindruckte, war die Tatsache, dass es keinen Wall gab, der die Elfensiedlung umschloss, und keine Wachtürme auf den umliegenden Hügeln. Sie schienen sich völlig sicher zu sein, dass dieses Tal niemals angegriffen werden würde. Selbst die Burg der Königin, so eindrucksvoll ihre himmelhohen Türme auch waren, war kaum dazu geschaffen, als mächtiges Verteidigungswerk zu dienen. Sie sollte wohl eher das Auge eines friedlichen Betrachters erfreuen und nicht etwa beutegierige Eroberer abschrecken.

Mandred und Ollowain folgten einem breiten Weg, der von Bäumen überschattet war, hinauf zum Tor. Öllampen waren seitlich des Weges entzündet und tauchten ihn in einen goldenen Schein.

Der Tortunnel war kürzer als derjenige bei der Festung am Pass hinter der Shalyn Falah. Elfenkrieger in knöchellangen Kettenhemden lehnten hier auf ihren Schilden. Ihre Blicke folgten Mandred – wachsam, aber unaufdringlich. Im weiten Hof waren kostbar gekleidete Würdenträger versammelt, die ihn ohne Scham musterten. Unter ihren Blicken fühlte sich Mandred schmutzig und unbedeutend. Alle trugen hier kostbar bestickte Gewänder, in denen sich das Licht der Lampen fing. Die Kleider waren voller Perlen und Steine, für die Mandred nicht einmal Namen hatte. Er hingegen war in Lumpen gekleidet: eine zerrissene, blutverschmierte Hose, eine abgetragene Fellweste. Wie ein Bettler musste er ihnen vorkommen. Trotzig reckte er sein Kinn vor. Er würde sich in Stolz kleiden!

Ollowain schwang sich aus dem Sattel. Nun bemerkte Mandred einen feinen Riss im Umhang des Kriegers. Hatte er ihn bei ihrem Duell getroffen? Gewiss würde Ollowain nicht ohne Not ein Kleidungsstück mit einem Riss anlegen.

Auch Mandred stieg ab. Ein bocksbeiniger Kerl eilte herbei, um die Zügel seines Grauen zu nehmen. Mandred betrachtete den seltsamen Pferdeknecht verblüfft. Der Kerl stank wie ein alter Ziegenbock. Schon wieder so ein Tiermensch! Sie durften sogar auf diese prächtige Burg!

Aus der Gruppe der Höflinge löste sich ein hoch gewachsener Elf. Er trug ein langes schwarzes Gewand, gesäumt mit einer Schmuckborte aus silberner Stickerei, die ineinander verwobene Blätter und Blüten zeigte. Silberweißes Haar fiel ihm bis auf die Schultern, und ein Kranz aus hauchzarten, silbernen Blättern ruhte über seinen Schläfen. Das Gesicht war blass, fast farblos, die Lippen nur schmale Striche. In kaltem, hellem Blau brannten seine Augen. Ollowain verbeugte sich knapp vor dem Mann. Der Unterschied zwischen ihnen beiden hätte kaum größer sein können. Sie erschienen Mandred wie Licht und Schatten.

»Ich entbiete dir meinen Gruß, Meister Alvias. Wie unsere Herrin Emerelle es wünschte, habe ich den Menschensohn sicher zur Burg geleitet.« Ollowains Tonfall ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass ihm die Wünsche seiner Herrin Befehl waren.

Die beiden Elfen maßen einander mit Blicken, und Mandred kam es so vor, als hielten sie ein stummes Zwiegespräch. Schließlich gab Meister Alvias Mandred durch eine Geste zu verstehen, dass er ihm folgen solle.

Der Krieger fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen, als er hinter Meister Alvias eine breite Treppe emporstieg, die zu einem Säulengang führte. Alles um ihn herum war von beklemmender Schönheit und durchtränkt von fremdem Zauber – ein Ort, so vollkommen, dass es zum Fürchten war.

Sie durchquerten zwei weite Hallen. Jede für sich hätte sein ganzes Dorf aufnehmen können. Von Emporen hingen breite Banner hinab, die mit stilisierten Adlern und Drachen geschmückt waren, aber auch mit Tieren, wie Mandred sie noch nie gesehen hatte. Obwohl der Krieger keinen Luftzug spüren konnte, bewegten sich die Banner, als griffe eine leichte Brise nach ihnen. Noch unheimlicher waren die Wände. Kam man ihnen nahe, so erkannte man, dass sie aus weißem Stein gefügt waren, so wie die Brücke von Shalyn Falah und die Festung jenseits des Engpasses. Doch dem Stein der Burg musste ein Zauber anhaften. Von ihm ging ein blasses, weißliches Licht aus. Schon auf wenige Schritt Entfernung verging der Eindruck, von Stein umgeben zu sein. Man hatte eher das Gefühl, als bewegte man sich inmitten einer Halle aus Licht.

Wann immer sie sich einem Portal näherten, schwangen die Flügel wie von Geisterhand bewegt auf. Inmitten der zweiten Halle gab es eine Quelle, die sich aus dem Rachen eines steinernen Ungeheuers in einen kleinen, runden See ergoss. Die Bestie war umringt von versteinerten Kriegern. Beklommen spürte Mandred sein Herz schneller schlagen. Hätte es noch eines letzten Beweises für die Zaubermacht der Elfenkönigin bedurft, so war er nun geliefert. Wer ihr Missfallen erregte, den verwandelte sie in steinernen Schmuck ihrer Burg!

Eine weitere hohe Pforte schwang vor ihnen auf, und sie betraten einen Saal, dessen Wände hinter einem Vorhang silbern schimmernden Wassers verborgen blieben. Es gab keine Decke, stattdessen wölbte sich hoch über ihnen der rot glühende Abendhimmel. Leise Musik schwebte in der Luft. Mandred hätte nicht zu sagen gewusst, welche Instrumente so liebliche Töne hervorzubringen vermochten. Die Musik nahm ihm die Furcht, die in seinem Herzen gewachsen war, seit er den Hof der Burg betreten hatte. Und doch, dies hier war kein Ort, der für Menschen geschaffen war. Er sollte nicht hier sein.

Etwa drei Dutzend Elfen warteten bereits im Saal, und ihrer aller Augen richteten sich auf Mandred. Es war das erste Mal, dass der Krieger Elfenfrauen sah. Sie waren groß gewachsen und schlank und ihre Hüften knabenhafter als bei Menschenfrauen. Die Brüste waren klein und straff. Unter Menschen hätte Mandred keinen Gefallen an solchen Kindfrauen gefunden. Doch die Elfen waren anders. Ihre Gesichter waren von einer Schönheit, die einen alles andere vergessen machte. Mandred wusste nicht zu sagen, ob es an ihren geschwungenen Lippen lag, den alterslosen Zügen oder den Augen, in deren Abgründen die Verheißung ungekannter Freuden lockte. Manche von ihnen trugen fließende Kleider aus Stoffen so fein, als wären sie aus Mondlicht gewoben. Sie betonten die Vorzüge ihrer schlanken Körper mehr, als dass sie diese verbargen. Mandreds Blick blieb an einer der Frauen haften. Sie war aufreizender als die anderen gekleidet. In der Farbe von Rosenblüten schimmerten die Knospen ihrer Brüste durch den Stoff, und verlockender Schatten lag zwischen ihren Schenkeln. Keine Menschenfrau hätte es gewagt, ein solches Gewand zu tragen.

Gegenüber der Pforte führten sieben Stufen hinauf zum Thron des Elfenvolkes. Es war ein schlichter Stuhl aus dunklem Holz mit Intarsien aus schwarzen und weißen Steinen, die zwei untrennbar miteinander verflochtene Schlangen zeigten. Neben dem Thron erhob sich eine niedrige Säule, die eine flache Silberschüssel trug. Vor dem Herrschersitz aber stand eine junge Elfe. Sie war ein wenig kleiner als die übrigen Frauen im Saal. Dunkelblondes Haar fiel in Wellen auf ihre nackten, milchweißen Schultern. Ihre Lippen hatten die Farbe von Waldbeeren, und ihre Augen waren vom selben hellen Braun wie das Fell eines Rehkitzes. Sie trug ein blaues Kleid, durchwirkt mit Silberfäden. Es war diese Frau, vor der sich Meister Alvias verbeugte. »Emerelle, Herrin, dies ist der Menschensohn Mandred, der dein Reich betrat, ohne gerufen zu sein.«

Die Königin musterte Mandred eindringlich. Es war dem Krieger unmöglich, an ihrem Gesicht abzulesen, was sie wohl dachte. Es blieb reglos, wie aus Stein geschnitten. Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Die Musik war verklungen; es war still jetzt, bis auf das Rauschen des Wassers.

»Was ist dein Begehr, Mandred Menschensohn?«, erklang schließlich die helle Stimme der Königin.

Mandreds Mund war trocken. Lange hatte er sich auf dem Ritt überlegt, was er sagen sollte, wenn er der Elfenkönigin gegenüberstünde. Doch nun war sein Kopf leer. Da war nichts, außer Sorge um die Seinen und Zorn über den Tod seiner Gefährten. »Ich fordere Wergeid für die Morde, die einer deiner Untertanen begangen hat, Herrin. So ist es Gesetz im Fjordland!«, stieß er hervor.

Das Rauschen des Wassers wurde lauter. Mandred vernahm hinter sich empörtes Raunen.

»Welcher meiner Untertanen soll diese Bluttaten begangen haben?«, fragte Emerelle mit ruhiger Stimme.

»Ich kenne seinen Namen nicht. Es ist ein Ungeheuer, halb Mensch, halb Eber. Ich habe viele Geschöpfe wie ihn auf dem Weg zu deiner Burg gesehen.«

Eine steile Falte erschien zwischen den Brauen der Königin. »Ich kenne kein Wesen, wie du es benennst, Mandred Menschensohn.«

Mandred spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. So eine freche Lüge! »Ein Mannpferd war dein Bote, und im Hof der Burg hat ein Mannbock die Pferde fortgeführt. Woher sonst sollte ein Manneber kommen, wenn nicht aus deinem Reich, Königin! Ich fordere …«

Das Wasser schoss nun mit lautem Dröhnen die Wände hinab.

»Du wagst es, unsere Königin eine Lügnerin zu nennen!«, empörte sich Alvias. Eine Schar von Elfen umringte Mandred.

Der Krieger ballte die Fäuste. »Ich weiß, was ich gesehen habe!«

»Achtet das Gastrecht!« Die Königin hatte die Stimme kaum erhoben, und doch wurde sie von jedermann gehört. »Ich habe den Menschensohn in diese Halle geladen. Wer ihn anrührt, rührt auch an meiner Ehre! Und du, Mandred, zügele deine Zunge. Ich sage dir: Ein Geschöpf, wie du es beschrieben hast, gibt es nicht in Albenmark. Berichte uns, was dieser Manneber getan hat. Ich weiß sehr wohl darum, dass ihr Menschen die stehenden Steine meidet. Wovor bist du hierher geflohen?«

Mandred erzählte von der vergeblichen Jagd und der Kraft des Mannebers. Als er endete, hatte sich die Falte zwischen Emerelles Augenbrauen noch vertieft. »Ich bedauere den Tod deiner Gefährten, Mandred. Mögen sie in den Hallen deiner Götter freundliche Aufnahme finden.«

Der Krieger sah die Herrin verwundert an. Er wartete darauf, dass sie fortfuhr. Ihm ein Angebot machte. Das konnte doch nicht alles gewesen sein! Das Schweigen zog sich in die Länge. Mandred dachte an Freya. Jede Stunde, die er hier verlor, brachte sie in größere Gefahr, falls der Manneber nicht schon längst über Firnstayn hergefallen war.

Betreten senkte er den Blick. Was zählte sein Stolz, wenn er mit dem Blut der Seinen erkauft war! »Herrin Emerelle, ich … bitte dich um Hilfe bei der Jagd auf das Ungeheuer. Ich … Ich bitte um Verzeihung, wenn ich dich beleidigt haben sollte. Ich bin nur ein einfacher Mann. Mit Worten zu kämpfen ist nicht meine Sache. Ich trage mein Herz auf der Zunge.«

»Du kommst in meine Burg, Mandred, beleidigst mich vor meinem Hofstaat und fragst nun, ob ich das Leben meiner Jäger in Gefahr zu bringen gedenke, um deiner Sache zu dienen? Du trägst dein Herz wahrlich auf der Zunge, Menschensohn.« Emerelles Hand machte eine kreisende Bewegung über der Silberschale, und sie sah flüchtig in das Wasser. »Was bietest du mir für meine Hilfe? Wird in deinem Volk nicht Blut mit Blut vergolten?«

Mandred war überrascht von der Königin. Die Fürsten des Fjordlandes hätten offen ihre Forderungen ausgesprochen und nicht wie Krämer gefeilscht. Er kniete nieder. »Befreie mein Land vom Manneber, und du magst über mich verfügen. Ich gehöre dir.«

Emerelle lachte leise. »Mandred, du bist wahrlich kein Mann, den ich jeden Tag um mich sehen wollte.« Sie schwieg und schaute wieder in die silberne Schüssel. »Ich fordere, was dein Weib Freya unter ihrem Herzen trägt. Das erste Kind, das dir geboren wird, Mandred Menschensohn. Die Freundschaft des Elfenvolkes erlangt man nicht um ein paar wohlfeile Worte. Ich werde das Kind heute in einem Jahr holen.«

Mandred war wie vom Blitz gerührt. »Mein Kind?« Hilfe suchend blickte er zu den anderen Elfen. Doch in keinem der Gesichter las er Mitgefühl. Wie hieß es in den Kindermärchen? Elfenherzen seien so kalt wie Wintersterne …

»Nimm einen Dolch und stoß ihn mir ins Herz, Königin. Beende hier und jetzt mein Leben. Diesen Preis zahle ich, ohne zu zögern, wenn du dafür den Meinen hilfst.«

»Große Worte, Mandred«, entgegnete die Königin kühl. »Doch welchen Nutzen brächte es, dein Blut vor den Stufen meines Thrones zu vergießen?«

»Welchen Nutzen hast du an einem Kind?«, begehrte Mandred verzweifelt auf.

»Dieses Kind wird ein Band zwischen Elfen und Menschen knüpfen«, entgegnete sie ruhig. »Es soll unter meinem Volke aufwachsen und wird die besten Lehrmeister haben. Wenn dein Kind alt genug ist, mag es entscheiden, ob es für immer bei uns bleiben will oder ob es zu seinen Menschenbrüdern zurückkehren möchte. Will es zurück, so werden wir ihm reiche Geschenke mitgeben, und ich bin mir gewiss, es würde einen Platz unter den Ersten deines Volkes erobern. Die kostbarste Gabe aber, die es in die Menschenwelt tragen würde, wäre die Freundschaft des Elfenvolkes.«

Mandred hatte das Gefühl, als hielte diese zierliche Frau sein Herz mit eiserner Hand umschlossen. Wie konnte er sein ungeborenes Kind den Elfen versprechen? Und doch – wenn er sich verweigerte, so würde sein Kind vielleicht nie geboren werden. Wie lange mochte es dauern, bis der Manneber in die kleine Siedlung am Fjord eindrang? War er vielleicht schon dort gewesen?

»Lebt mein Weib Freya denn noch?«, fragte er niedergeschlagen.

Die Hand der Königin strich sanft über die Silberschale. »Etwas verbirgt die Kreatur, die du Manneber nennst. Doch sie scheint noch immer in der Nähe des Steinkreises zu sein. Dein Dorf hat sie nicht angegriffen.« Sie hob den Blick und sah ihm nun geradewegs ins Gesicht. »Wie lautet deine Entscheidung, Mandred Menschensohn?«

Ich werde noch weitere Kinder mit Freya zeugen, redete er sich ein. Vielleicht trägt sie ja ein Mädchen unter dem Herzen, und der Verlust wird nicht so schwer wiegen. Er war der Jarl seines Dorfes. Er trug die Verantwortung für alle. Was wog ein Leben gegen viele? »Du wirst bekommen, was du forderst, Königin.« Mandreds Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Seine Lippen wollten sich den Worten verschließen, und doch zwang er sich zu sprechen. »Töten deine Jäger den Manneber, dann wird mein Kind dir gehören.«

Emerelle nickte in Richtung eines Elfen, der in helles Grau gewandet war, und bedeutete ihm mit einer Geste vorzutreten. »Farodin aus der Sippe des Askalel, du hast dich oftmals bewährt. Deine Weisheit und deine Erfahrung sollen der Jagd zum Erfolg verhelfen. Hiermit berufe ich dich zur Elfenjagd.«

Mandred spürte einen Schauer über seinen Rücken laufen. Die Elfenjagd! Wie viele Geschichten hatte er über diese geheimnisvolle Jagdgemeinschaft gehört!

Keine Beute vermochte diesen unheimlichen Jägern zu entgehen, hieß es. Was auch immer sie jagten, war des Todes. Wölfe, so groß wie Pferde, waren ihre Jagdhunde, und in den Adern ihrer Rösser floss flüssiges Feuer. Sie ritten über den Nachthimmel und verbargen sich im Feenlicht, um dann wie Adler auf ihre Beute hinabzustoßen. Nur die Edelsten und Tapfersten durften mit der Elfenjagd reiten. Sie alle waren Krieger und Zauberer zugleich. So mächtig waren sie, dass selbst Drachen sie fürchteten und Trolle sich in ihren Burgen verbargen, wenn die Elfenjagd ausritt. Und er hatte sie auf den Manneber losgelassen, dachte Mandred frohlockend. Sie würden die Bestie zerfleischen und blutige Rache für seine toten Freunde nehmen!

Die Königin nannte noch weitere Namen, doch die Berufenen schienen nicht im Thronsaal zu sein. Schließlich deutete sie auf eine in Braun gekleidete Gestalt, die im ersten Augenblick zu erschrecken schien. »Nuramon aus der Sippe des Weldaron, deine Zeit ist gekommen.«

Ein Raunen ging durch die versammelten Elfen.

Eine Frau trat aus einer Gruppe hervor, die besonders betroffen wirkte. »Herrin, du willst ihn doch nicht etwa dieser Gefahr aussetzen? Du weißt um sein Schicksal!«

»Deshalb habe ich ihn erwählt.«

Mandred betrachtete verstohlen den braunhaarigen Elfen. Er wirkte verunsichert. Ein erfahrener Jäger war er gewiss nicht!

»Morgen früh schon soll die Elfenjagd aufbrechen, um das Ungeheuer zu töten, von dem uns berichtet wurde. Und du, Mandred Menschensohn, wirst sie anführen, denn du kennst die Bestie und das Land, das sie verheert.«

Das Raunen im Saal verstummte schlagartig. Wieder spürte Mandred alle Blicke auf sich ruhen. Er konnte nicht glauben, was Emerelle soeben gesagt hatte. Er, der Niederste in den Augen der Versammelten, war auserwählt, die Elfenjagd anzuführen! Er wünschte, Freya wäre nun an seiner Seite.

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