Der alte Feind

Eine kräftige Hand griff nach Farodin und zerquetschte ihm fast den Arm. Der Herzog schlug gegen die Bordwand, als das Seil zurückpendelte. Pfeifend wich der Atem aus seinen Lungen. Er hielt Farodin jetzt fest umklammert, fast wie eine Mutter ihr Kind.

»Zieht mich endlich hoch, ihr Trottel!«, rief Orgrim zornig.

Farodin sah, wie die Riemen unter ihm das Wasser aufwühlten. Die Galeasse fuhr rückwärts, und mit jedem Ruderschlag entfernten sie sich weiter von den treibenden Ölflecken.

Plötzlich erklang ein Fauchen wie von einem wütenden Drachen. Gleißende Helligkeit blendete den Elfen. Er riss den Arm vors Gesicht, um sich vor der Hitze zu schützen, die nach ihm griff. Orgrim stöhnte auf.

Raue Hände packten den Elfen. Noch immer geblendet, fühlte er, wie man ihn aufs Deck legte. »Schneller«, knurrte Orgrim. »Sie sollen sich in die Riemen legen! Und kippt Wasser über das Deck!«

Blinzelnd öffnete Farodin die Augen. Sein Gesicht brannte vor Schmerz. Benommen richtete er sich auf und sah auf das Wasser. Brandpfeile hatten die dritte Kogge getroffen und Balbars Feuer entfacht. So hell waren die Flammen, dass man nicht direkt in sie hineinsehen konnte. Wie Drachenatem schlug Farodin die Hitze entgegen. Er wandte sich ab.

Orgrim saß gegen die Reling gelehnt. Die alte Schamanin beugte sich über den Herzog und betastete dessen Gesicht. Seine Lippen waren aufgeplatzt, und Brandblasen wölbten sich auf seiner Stirn. Der Herzog lächelte und zeigte seine riesigen Zähne. »Ich wünschte, ein Elf könnte in einem Troll wiedergeboren werden. Ein Krieger mit deiner Seele wäre der Stolz meines Volkes.«

Farodin antwortete nicht. Mochte Orgrim denken, was er wollte. Die Tatsache, dass der Herzog ihm das Leben gerettet hatte, änderte nichts an der Vergangenheit. In Orgrim war die Seele von Aileens Mörder in Fleisch gekleidet. Ganz gleich, was geschehen mochte, er würde nie etwas anderes in dem Troll sehen als den Krieger, der ihm seine Liebste entrissen hatte.

Unter Skangas heilenden Händen verschwanden die Verbrennungen. Der Herzog streckte sich und stand dann auf, um das Schlachtfeld in Augenschein zu nehmen. Fünf Trollschiffe waren bis zum großen Pulk der Koggen vorgestoßen. Hunderte Krieger stürmten auf die Decks der Ordensschiffe und würden sich bis zu den Langbooten der Fjordländer durchkämpfen.

Skanga trat vor Farodin. Sie streckte die dürren Finger nach seinem Gesicht aus. Farodin wich ein wenig zurück.

»Siehst nicht gut aus«, krächzte sie. »Hast kein hübsches Gesicht mehr.« Die Schamanin blinzelte. Zum ersten Mal war kein Hass in ihrem Blick. »Ich biete meine Hilfe stets nur einmal an.«

Farodin nickte, und ihre Finger tasteten über sein Gesicht. Sie brachten einen kühlen Hauch. Der Schmerz verging. Er fühlte, wie seine Haut sich straffte.

Plötzlich griff sich die Alte an die Brust. Sie zitterte am ganzen Leib. »Er ist hier«, stieß sie atemlos hervor. »Er nutzt …« Sie schlug die Hände vors Gesicht und stieß einen gellenden Schrei aus.

Auch Farodin spürte einen stechenden Schmerz hinter seiner Stirn. Ein Prickeln lief über seine Haut. Erschrocken sah der Elf auf. Etwa eine halbe Meile entfernt hielt das Flaggschiff des Trollkönigs auf eine große, dreimastige Kogge zu. Doch zwischen den Schiffen erblühte auf dem Wasser eine schwarze Wolke, die schnell anwuchs. Die seltsame Erscheinung schien alles Licht rings herum zu verschlingen. Noch immer wuchs die Wolke weiter. Schon war sie halb so groß wie das Königsschiff.

Schwarzer Nebel quoll aus dem Dunkel und griff mit langen Armen über die See.

»Was siehst du?«, fragte Skanga.

Der Elf beschrieb ihr, was geschah. Das Wasser vor der Wolke war aufgewühlt, so als gäbe es dort eine starke Strömung. Boldors Schiff versuchte der unheimlichen Erscheinung auszuweichen. Es legte sich quer, doch die Strömung zog es auf die Finsternis zu. Ein Kranz aus Licht erschien um einen der Nebelarme. Die Dunkelheit breitete sich nicht weiter aus, doch sie wich auch nicht zurück.

»Gib mir deine Augen!«, krächzte die Schamanin heiser. »Niemand vermag besser in die Ferne zu blicken als Elfen.«

Dürre Finger schlossen sich um Farodins Nacken. Der Elf bäumte sich auf. Seine Kraft zerrann. Seine Glieder fühlten sich schwer und kraftlos an. Seine Augen … Alles verschwamm vor seinem Blick! In der Ferne vermochte er jetzt nur noch einen Schatten über dem Wasser zu sehen.

Er wollte aufbegehren, sich losreißen, doch seine Kraft reichte nicht aus, den Gedanken Taten folgen zu lassen. Verzweifelt blickte er an sich hinab. Ganz deutlich konnte er seine Finger sehen, die feinen Linien in seiner Haut. Doch wenn er den Blick hob, dann wurde schon der Steuermann zu einem unsicheren Schemen, obwohl er nur wenige Schritt entfernt stand.

»Der Verderber ist hier«, zischte die Schamanin. Ihre krallenhafte Hand wühlte zwischen den Amuletten, die ihr vom Hals hingen. »Der Devanthar. Er hat ein Tor in das Nichts geöffnet, in die dunkle Leere zwischen den Splittern der Zerbrochenen Welt. Emerelle versucht ihn aufzuhalten. Doch ihre Macht reicht nicht aus. Er … Welch eine Kraft! Er besitzt einen Albenstein!«

Skanga holte ein längliches Jadestück hervor und strich die Rabenfedern zur Seite, die den Stein verborgen hatten. Farodin erkannte fünf Linien in der Jade, die sich zu einem Stern trafen. Besaß diese alte Vettel tatsächlich einen Albenstein? War sie die Hüterin des größten Schatzes ihres Volkes?

Der Stein glühte von innen heraus. Skanga begann einen auf- und abschwellenden Gesang, der nur aus einzelnen Silben bestand.

Erschrockene Rufe erklangen vom Hauptdeck. Farodin blinzelte hilflos. Er konnte nicht mehr sehen, was auf See vor sich ging! »Was geschieht dort draußen?«, rief er verzweifelt. »Sag es mir, ich kann nichts sehen!«

»Boldors Schiff wurde in die Dunkelheit gezogen«, antwortete der Herzog leise. »Jetzt verschwindet eine kleine Kogge, die in den Sog geraten ist. Es sieht aus, als stürzte das Wasser in einen Abgrund.«

Farodin musste daran denken, wie er mit seinen Gefährten auf den leuchtenden Albenpfaden durch die Leere gegangen war. Er erinnerte sich an die Angst, die er dabei empfunden hatte, und an die bange Frage, ob eine Seele für immer verloren ginge, wenn man dort starb.

Der Singsang der Schamanin ging in schrilles Kreischen über. Ihr Griff um seinen Nacken lockerte sich ein wenig, doch Farodin hatte nicht mehr die Willenskraft, gegen Skanga anzukämpfen.

»Noch eine Galeasse ist verschwunden«, sagte Orgrim. »Selbst hier an Bord spüre ich den Sog des Abgrunds. Der schwarze Nebel beginnt sich aufzulösen. Ein Kreis von Licht umgibt die Dunkelheit. Licht und Dunkel ringen miteinander. Blitze zucken durch die Finsternis. Sie reißen Stücke aus dem Dunkel. Es zerfließt …«

Die Schamanin atmete schwer aus und löste ihren Griff nun ganz. Mit einem Mal sah Farodin wieder deutlich. Die schwarze Wolke über dem Wasser war verschwunden. »Das Tor ist verschlossen.« Die Falten in Skangas Gesicht waren tiefer geworden. Sie stützte sich schwer auf die Reling.

Von den Langbooten erklang lautes Jubelgeschrei. Die Trolle waren bis zu den Verteidigern vorgedrungen und vereinten sich mit Menschen und Elfen.

»Sieg!«, rief Orgrim begeistert und reckte seinen Kriegshammer zum Himmel. »Sieg!«

Einzelne Koggen lösten sich aus dem Pulk der ineinander verkeilten Schiffe. Die Ordensritter versuchten verzweifelt, den übermächtigen Trollen zu entkommen.

Vor den Klippen im Westen drehte ein ganzes Geschwader feindlicher Schiffe bei und hielt auf den Ausgang des Fjords zu. Inmitten der Flüchtenden sah Farodin das Flaggschiff. Doch die Trolle aus dem Flottenverband des Königs waren bereits nah. Mit mörderischen Steinsalven vernichteten sie alle Schiffe, denen sie nahe kamen.

»Ich spüre seine Angst«, erklang Skangas heisere Stimme. »Die Königin hat begonnen, einen Zauber zu wirken, der ihn töten kann. Es ist jene Magie, mit der die Alben im Krieg gegen die Devanthar obsiegten. Er versucht einen neuen Stern zu erschaffen.«

Vom fliehenden Koggengeschwader wurden Brandpfeile abgeschossen. Eine Wand von Feuer stieg aus dem Wasser und erfasste etliche Schiffe.

Farodin war erschüttert. Es schien den Menschen nun gleich zu sein, ob sie ihre eigenen Kameraden den Flammen überantworteten. Die Galeassen der Trolle setzten zurück. Dennoch wurden zwei von ihnen ein Raub der Flammen. Eine Brise trieb beißenden Rauch über die See. Er stank nach Öl, verbranntem Fleisch und noch etwas, das dem Elfen zugleich fremd und vertraut war.

»Riechst du das?«, fragte Skanga. »Schwefel! Das ist der Geruch des Täuschers.«

Farodin erinnerte sich daran, den Geruch schon einmal wahrgenommen zu haben. Damals in der Eishöhle. Nur war er dort schwächer gewesen.

Der Trollherzog fluchte herzhaft wegen der feigen Flucht der Feinde und bedachte den Devanthar mit Ausdrücken, die selbst Farodin noch nie gehört hatte.

»Sei froh, wenn du ihm nie Aug in Aug gegenüberstehst, Orgrim. Es gibt keinen schrecklicheren Feind. Er ist der Meister der Täuschung. Ich spüre, wie er jetzt das Tor öffnet, um sich zurückzuziehen. Wir haben gesiegt. Doch wer weiß, vielleicht war er nur hier, um uns zu seiner Verfolgung zu verleiten und ins Verderben zu locken.«

Farodin deutete auf die riesige Flotte rings herum. »Das alles opfert er, um uns zu einer Verfolgung zu verleiten! Nein, das ist Unsinn! Er kam, um Firnstayn zu zerstören und den Norden zu erobern. Er hat nicht mit unserem Bündnis gerechnet. Und …« Der Elf zögerte kurz. »Es waren die Trolle, die uns letztlich den Sieg gebracht haben. Verzeiht, wenn ich an euch zweifelte.«

Die Alte ignorierte seine Entschuldigung. »Wenn du glaubst, du könntest die Winkelzüge eines Devanthars verstehen, dann hast du dich schon in seinem Netz verfangen. Schiffe und ein paar tausend Menschenleben bedeuten ihm nichts! Jetzt haben wir gesiegt, doch der Kampf hat eben erst begonnen.«

Die Chronik von Firnstayn

… und so wurden unsere Stadt und das Königreich gerettet. Menschen, Elfen und Trolle besiegten die Flotte der Tjuredpriester und trieben ihren dämonischen Anführer in die Flucht. Nie soll die Nacht nach dem Sieg vergessen sein. Firnstayn war hell erleuchtet, überall brannten Freudenfeuer, und Menschen und Elfen tanzten gemeinsam. Die Trolle feierten den Sieg auf ihren Schiffen, und Donnergrollen drang bis nach Firnstayn hin. Doch es waren derer viele, die in dieser Nacht um die Gefallenen trauerten. Sie beteten für die Toten und waren stolz, dass diese Anteil an dem großen Sieg hatten.

Selbst die Elfenkönigin Emerelle kam in unsere Stadt, und nie wurde solcher Liebreiz bei einer Frau gesehen. Sie schritt anmutig durch die Straßen von Firnstayn und richtete das Wort an viele der Menschen. Der bescheidene Schreiber dieser Zeilen kam selbst in den Genuss ihrer Worte. Sie sprach: »Du bist die Erinnerung dieses Reiches? Dann merke dir: Das Schicksal des Fjordlandes wird auf immer mit dem Albenmarks verbunden sein.« Und so ist es nun niedergeschrieben.

Als der Morgen kam, waren Mandred und König Liodred fort. Die Elfen sagten, sie seien ausgezogen, einen den Anführer der Feinde zu töten. Da bekamen wir alle Angst um unseren König, denn sein Sohn war noch lange nicht im rechten Alter, ihm auf den Thron zu folgen, sollte das Schlimmste geschehen. Doch wir waren auch stolz auf ihn. Nun ist ein weiterer Firnstayner an der Seite der Elfen auf Reisen gegangen. Möge Luth ihnen allen einen guten Faden spinnen!

Niedergeschrieben von Tjelrik Aswidson,

Band 67 der Tempelbibliothek zu Firnstayn, s. 45

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