Verloren für immer?

Farodin blickte durch die zerbrochenen Scheiben der Tempelruine zum Waldrand. Schon gestern war er überzeugt gewesen, dass er Recht behalten würde. Auf ihrem Weg durch das Hügelland hatten sie eine kleine Kapelle gefunden, die auf einem niederen Albenstern stand. Nur drei Pfade kreuzten sich hier, oder besser gesagt, sie hatten sich dort einmal gekreuzt, denn der Ort hatte all seine Magie verloren.

Mandred trat gegen einen rußgeschwärzten Balken, der knarzend zur Seite kippte. »Ist schon länger her. Dieser Tempel hier wurde vor mindestens einem halben Jahr niedergebrannt. Seltsam, dass sie ihn nicht mehr aufgebaut haben.«

»Warum sollten sie?«, entgegnete Farodin gereizt. »Schließlich hat er seinen Zweck erfüllt, oder nicht?« Er sah zu Yulivee. Das Mädchen hatte die Augen zusammengekniffen und zog eine Grimasse. »Es ist hier«, sagte sie leise. »Genau wie in dem anderen weißen Haus. Etwas will mir meine Magie stehlen. Es zieht an mir. Es tut weh!« Sie riss die Augen auf und rannte zum Portal.

Mandred folgte ihr auf einen Wink. Farodin hatte keine Ruhe, wenn die Kleine allein herumlief.

»Ich spüre dieses Ziehen nicht«, sagte Nuramon zweifelnd.

»Du glaubst ihr aber?«

Er nickte. »Sie hat ein feineres Gespür für Magie als wir. Daran besteht kein Zweifel. Genau so, wie außer Zweifel steht, dass es hier kein Tor mehr gibt, das nach Albenmark führt. Alle Magie ist aus diesem Ort gewichen.«

»Und es nutzte auch nichts, diese Tempel zu zerstören«, stellte Farodin nüchtern fest. »Wenn dem Ort einmal seine Magie genommen ist, dann kehrt sie nicht mehr zurück. Oder irre ich mich?«

Nuramon hob hilflos die Hände. »Woher wollen wir das wissen? Ich begreife nicht, was hier vor sich geht. Warum werden diese Tempel gebaut? Und wer war hier, um den Tempel zu zerstören? Warum wurde der Tempel danach aufgegeben und nicht wieder neu aufgebaut?«

»Zumindest die letzte Frage kann ich dir beantworten«, erwiderte Farodin kühl. »Dieser Ort liegt mitten in der Wildnis. Hier gibt es keine Stadt, nicht einmal ein Dorf. Der Tempel wurde einzig und allein gebaut, um den Albenstern zu zerstören. Und deshalb muss man ihn auch nicht wieder neu errichten. Er hat seinen Zweck erfüllt.«

»Vielleicht suchen manche Priester die Einsamkeit«, wandte Nuramon ein. »Dies ist ein wunderschöner Ort.« Er wies durch die zersplitterten Fenster hinab zu dem kleinen See.

»Nein! Hast du nicht gehört, was der dicke Priester rief? Wir sind Dämonenkinder! Wir haben den heiligen Guillaume erschlagen und die ganze Menschheit damit um ihre Erlösung gebracht!« Farodin lachte bitter. »Mehr lässt sich die Wahrheit wohl kaum verdrehen. Aber dir ist klar, was es für uns bedeutet? Die Priester haben schon etliche Königreiche unterworfen. Sie dringen bis in die Zerbrochene Welt vor und jagen Elfen und andere Albenkinder. Zu ihrem Glauben gehört, dass sie uns alle tot sehen wollen. Und wenn es ihnen nicht gelingt, nach Albenmark selbst zu gelangen, dann werden sie jedes Tor zerstören, das sie nur finden.«

»Wir wissen viel zu wenig, um solche Schlüsse zu ziehen«, wandte Nuramon ein. »Ausgerechnet du folgst deinem Herzen und nicht deinem Verstand! Was ist mit dir, Farodin?«

Es war nicht zu fassen! Offensichtlich wollte Nuramon einfach nicht begreifen, was all das hier zu bedeuten hatte. »Wir sind unsterblich, Nuramon. Wir sind es gewohnt, dass alles ewig dauern kann. Und doch läuft uns mit einem Mal die Zeit davon. Bist du denn blind, die Gefahr nicht zu sehen? Sie zerstören Albensterne! Was wird sein, wenn sie den Stern vernichten, der zu Noroelle führt? Oder schlimmer noch, sie dringen durch ihn in die Zerbrochene Welt vor und töten Noroelle!«

Nuramon runzelte die Stirn. Dann schüttelte er entschieden den Kopf. »Das ist Unsinn. Dieser Albenstern liegt am Ende der Welt. Dort gibt es keine Königreiche zu erobern. Wahrscheinlich leben dort nicht einmal Menschen. Warum sollten die Tjuredpriester sich dort hinbegeben?«

»Weil sie jeden Albenstern zerstören wollen! Sie führen Krieg gegen Albenmark, auch wenn sie keinen Fuß in unsere Heimat setzen. Wir können es uns künftig nicht mehr leisten, ein unsicheres Tor zu benutzen. Sieh dich um, Nuramon. Sieh, was in dieser Welt geschieht! Vor ein paar hundert Jahren wurde ein Priester ermordet, und nun beherrschen seine wahnsinnigen Nachfolger einen halben Kontinent. Stell dir vor, wir machen noch einmal einen Zeitsprung! Die Macht der Priester wächst immer schneller. Kannst du dir wirklich sicher sein, dass es den Albenstern, der uns zu Noroelle führen wird, in hundert Jahren noch geben wird?«

»Vielleicht hast du Recht«, gab Nuramon zu.

Farodin war zutiefst erleichtert, dass sein Gefährte endlich seine Sorge nachvollzog. »Wir sollten in Bewegung bleiben. Ich bin sicher, die Ordensritter haben die Suche nach uns noch nicht aufgegeben. Spähen wir sie aus, und dann holen wir uns den Albenstein und die Dschinnenkrone.«

Nuramon erbleichte. »Die Krone! Sie werden wissen, was wir planen! Die Dschinnenbibliothek birgt alles Wissen, auch das um die Zukunft!«

»Das mag wohl sein«, erwiderte Farodin gelassen, »aber offensichtlich sind die Tjuredpriester zu dumm, dieses Wissen zu erschließen. Wir hätten den Sprung in den Tempel kaum überlebt, wenn sie gewusst hätten, dass wir kommen werden. Nicht Gläubige, sondern Armbrustschützen hätten dann auf den Galerien gestanden. Sie haben keine Ahnung, was wir tun werden. Und niemand, der vernünftig denkt, würde auf die Idee kommen, dass ein jämmerliches Häuflein wie wir versuchen wird, ihnen ihre größten Schätze zu stehlen.«

»Zu zweit eine Trollburg anzugreifen reicht dir wohl nicht?«

Farodin grinste. »Man kann alles überbieten.«

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