Hinter den Linien

Mandred betrachtete die abgeschnittenen roten Zöpfe, die rings herum im Gras lagen. »Ich behalte euch in Erinnerung, meine Toten«, murmelte er leise und strich sich über die glatten Wangen und den rasierten Schädel.

Beorn schob sein Messer zurück in den Gürtel, von dem auch ein bronzenes Signalhorn hing, und nickte zufrieden. »So kannst du als einer ihrer Anführer durchgehen, Ahnherr. Aber lass mich reden, wenn wir angehalten werden.« Auf dem Hof von Beorns Eltern hatten einige gefangene Ordenskrieger als Knechte gearbeitet. Von ihnen hatte der Leibwächter die Sprache Fargons gelernt. Er wusste um den Aufbau der Ordensheere und kannte sogar die Horn- und Trommelsignale der Feinde.

Mandred setzte den Reiterhelm mit den tief gezogenen Wangenklappen auf und zupfte an der breiten roten Bauchbinde, die um seine Hüften gewickelt war. Schweren Herzens hatte er Alfadas’ Rüstung abgelegt, doch mit ihr hätten sie die Feinde nicht täuschen können.

Sein Blick wanderte über die verwegene Schar von Mandriden, die sich freiwillig gemeldet hatten. Der Reiterangriff der Ordensritter war zurückgeschlagen, doch gegen die Übermacht der feindlichen Fußsoldaten würden sie nicht gewinnen können.

»Ich schätze, eure Freunde werden euch dringend geraten haben, nicht mit mir zu reiten!«, rief Mandred mit lauter Stimme seinen Männern zu. »Wenn sie das taten, sind es gute Freunde! Sie haben Recht! Wer mit mir geht, der wird in einer Stunde ein Held sein oder in der goldenen Halle der Götter sitzen. Und wenn ihr lebt, dann wird man den Rest eurer Tage hinter eurem Rücken munkeln, dass ihr völlig verrückt gewesen seid.«

Die Männer grinsten, und selbst einige der Kentauren lachten. Die Pferdemänner aus Dailos hatten ihm ihre Hilfe zugesagt. Fast hundert von ihnen warteten auf den Befehl zum Einsatz. Voller Stolz musterte Mandred seine Freiwilligen. Sie alle hatten die Rüstungen erschlagener Panzerreiter angelegt und sich die Bärte rasiert, um nicht als Nordmänner aufzufallen. Mandred wünschte sich, er hätte eine so ergreifende Rede halten können wie Liodred damals in der Königshalle. Gestern, als er am Grab des Königs gesprochen hatte, hatte er die besten Stellen, die ihm in Erinnerung geblieben waren, wiederholt. Und wieder hatten Liodreds Worte den Kampfgeist der Fjordländer entfacht. Der Jarl blickte die Reihen der Männer entlang, die ihm bei diesem selbstmörderischen Ritt folgen wollten. Die meisten von ihnen waren erschreckend jung.

»Appanasios?« Er wandte sich an den Anführer der Kentauren, einen wilden schwarzhaarigen Kerl, der über die Brust eine breite Lederschärpe trug, von der sechs kurze Feuerrohre hingen. Außerdem hatte er einen Köcher mit Pfeilen auf den Rücken geschnallt und dazu noch ein Langschwert. »Du wirst uns mit deiner Bande von Halsabschneidern verfolgen und ein gewaltiges Spektakel veranstalten. Schreit, schießt, tut ganz so, als wären wir wirklich Panzerreiter, die in wilder Flucht davonjagen.« Mandred hob seine Rechte. Die Hand steckte in einem schön gearbeiteten Panzerhandschuh. Er ballte sie zur Faust, sodass die Eisenglieder leise knirschten. »Wenn deine Strauchdiebe auch nur einen meiner Männer wirklich treffen, Appanasios, dann komme ich wieder und ramme dir das hier in deinen dicken Pferdearsch.«

»Wenn du wirklich wiederkommst, dann kannst du mir deinen Panzerhandschuh sonst wohin stecken, und ich werde dabei ein Loblied auf deinen Heldenmut singen.« Der Kentaur lächelte, doch in seinen Augen lag Trauer. »Ich bin stolz darauf, dir begegnet zu sein, Mandred Aikhjarto.«

»Mal sehen, ob du immer noch stolz darauf bist, wenn ich dich und deine Halunkenbande heute Abend auf der Siegesfeier unter den Tisch saufe.«

»Ein Mensch, der einen Kentauren betrunken macht! Das wirst du nicht erleben!« Appanasios lachte rundheraus. »Selbst du wirst das nicht schaffen, Ahnherr von Firnstayn.«

»Ich habe sogar schon eine Eiche besoffen gemacht!«, entgegnete Mandred und zog sich in den Sattel. An seiner Hüfte klirrte eines der neumodischen, schlanken Reiterschwerter. Vor dem Sattel hingen zwei Ledertaschen. Der Jarl drehte sich zu dem Kentauren um und deutete auf seine Schärpe. »Wie gebraucht man diese Dinger eigentlich?«

Appanasios zog eine der Waffen und ließ sie spielerisch herumwirbeln. »Dies, verehrter Ahnherr, sind Radschlosspistolen, Beutewaffen vom Feind. Du ziehst hier unten den Haken, dann geben sie einen Schuss ab. Am besten hältst du sie dazu leicht schräg. Sie sind mit einer kleinen Bleikugel geladen.«

»Blei?«, fragte Mandred ungläubig.

»Täusche dich nicht. Auf kurze Entfernung vermögen diese Kugeln jede Rüstung zu durchschlagen.« Der Kentaur schob die Waffe in seine Lederschärpe zurück.

Mandred strich über den Schaft seiner Axt, die vom Sattelhorn hing. Er würde auf althergebrachte Waffen vertrauen.

Kurz blickte er über die kleine Reiterschar. Neben den Schwertern und Radschlosspistolen waren sie mit Lanzen bewaffnet. Fünf von ihnen trugen aufgerollte Banner. Für Mandred war ihr Wappen neu, doch den Ordensrittern war es wohl vertraut, denn die Nordmänner hatten es in Jahrhunderten der Kriege gegen ihre Feinde geführt.

Der Jarl hob die Hand. »Vorwärts, Männer!«

Dumpf grollte der Hufschlag auf dem aufgewühlten Boden, als sich die Reitertruppen in Bewegung setzten. Dieselbe Senke, aus der sie den ersten Angriff begonnen hatten, hatte sie noch einmal vor den Blicken der Feinde verborgen. Nun trieben sie die Pferde die Böschung hinauf. Hinter ihnen erklangen die gellenden Kriegsschreie der Kentauren.

Zu ihrer Linken war die Schlacht in vollem Gange. Die meisten gegnerischen Reiter waren zurückgeschlagen, doch das Fußvolk lieferte den Elfen und Zwergen einen harten Kampf.

Ein Pfeil verfehlte Mandred nur knapp. Er beugte sich tief über den Hals seiner Stute. In gestrecktem Galopp hielten sie nun geradewegs auf den rechten Flügel der Feinde zu. Dort gab ein Offizier Mandred ein Zeichen mit seinem Schwert und deutete auf eine Lücke zwischen zwei Truppen mit Feuerrohren. Die kleine Reiterschar passierte die feindliche Kampflinie, während sich die Kentauren fluchend zurückfallen ließen und eine Salve Pfeile auf die gegnerischen Fußsoldaten abschossen.

Mandred zügelte sein Pferd. Beorn, der nicht von seiner Seite gewichen war, hob den rechten Arm und drehte sich im Sattel. »Halt!« Er stieß das Wort in merkwürdigem Singsang aus und zog es endlos in die Länge.

Besorgt blickte Mandred sich um. Niemand unter den Ordenskriegern schien Beorns Verhalten seltsam zu finden. Ein Botenreiter preschte die Schlachtlinie entlang und verschwand hinter einem kleinen Waldstück. Ob er wohl auf dem Weg zur Shalyn Falah war? Wie mochte es um Farodin stehen?

»In Zweierreihen!«, kommandierte Beorn, und die Reiter bildeten eine Marschkolonne.

Mandred deutete auf einen Hügel, der etwa eine halbe Meile entfernt hinter dem Zentrum der Schlachtlinie lag. Banner mit der verbrannten Eiche waren dort aufgepflanzt. Eine Gruppe von Offizieren beobachtete den Verlauf der Kämpfe. Ein wenig abseits hielten sich ein paar Botenreiter und ein kleiner Trupp Hellebardenträger. Die große Einheit Schwertkämpfer, die als Reserve zurückgehalten worden war, hatte wohl gerade ihren Marschbefehl erhalten. Die Zwerge im Zentrum der Schlacht wichen zurück. Mandred blieb fast das Herz stehen. Vielleicht war es zu spät für seine List. Es schien, als bräche die Schlachtlinie zusammen. Doch die Zwerge gingen nur zurück, sie flohen nicht! Die Elfen auf der linken Seite hielten stand. Gehörte dies alles zum Plan der Zwerge, um die letzten Reserven der Feinde in die Schlacht zu locken? Dann gäbe es wenigstens eine geringe Aussicht, seinen Schlachtplan zu überleben.

»Marsch!«, befahl Beorn, und der Reitertrupp setzte sich in Bewegung. Der Leibwächter lächelte. »Ich hätte niemals gedacht, dass wir so leicht durch ihre Reihen kommen.«

Mandred erwiderte das Lächeln. »Das war der einfache Teil. Das Kunststück ist, hier lebend wieder herauszukommen.«

»War das jemals wirklich Bestandteil unseres Plans?«, fragte Beorn so leise, dass die Reiter hinter ihnen es nicht hören konnten.

Mandred antwortete nicht darauf. Was sollte er auch sagen? Sie beide wussten genau, wie unwahrscheinlich es war, zu überleben.

Sie ritten an einer langen Reihe von Fuhrwerken entlang. Ein gutes Stück entfernt sammelten sich die geschlagenen Reitertruppen im Schutz eines Wäldchens.

Nach einer Weile verließ Mandreds Schar den schlammigen Weg und hielt in weitem Bogen auf den Feldherrenhügel zu. Auf der Rückseite, außer Sichtweite der Soldaten, war eine Festtafel aufgestellt. Mehrere Köche arbeiteten an großen Feuern. Dort brieten auf eisernen Spießen zwei Spanferkel und allerlei Geflügel. Mandred lief das Wasser im Munde zusammen. »Sehr zuvorkommend von ihnen, uns unser Siegesmahl zu bereiten.«

Beorn blieb ernst. Er deutete auf einen Offizier mit weißem Federbusch am Helm, der den Hügel hinab in ihre Richtung geritten kam. »Bitte lass mich mit ihm sprechen, Ahnherr.« Er winkte den Reitern, und die Männer schwenkten aus der Kolonne aus, um eine lange Linie am Fuß des Hügels zu bilden.

»Was tut ihr hier?«, rief der Offizier aufgebracht und deutete zum Wald. »Alle Reitertruppen haben Befehl, sich dort hinten zu sammeln. Wenn unsere Fußtruppen die gegnerischen Linien durchbrechen, erhaltet ihr Gelegenheit, die Schmach eurer fehlgeschlagenen Attacke zu sühnen.«

»Ich habe dringende Nachricht für den Großmeister Tarquinon«, entgegnete Beorn ruhig.

»Dann sage mir, was du zu berichten hast!«

»Bei allem Respekt schätze ich, dass der Großmeister in diesem Fall die Nachricht lieber aus erster Hand erhalten möchte. Ich bin mit meinen Reitern in den Rücken des Feindes vorgedrungen. Wir haben eine riesige Streitmacht von Trollen entdeckt, die sich in einer Bodensenke verborgen hält, um unseren Truppen in die Flanke zu fallen, wenn wir weiter vorrücken.«

Der junge Offizier starrte ihn erschrocken an. »Es hieß doch, wir hätten das Heer der Trolle bis auf ein kleines Kontingent zerschlagen! Folge mir!« Er wendete sein Pferd und trieb es den Hügel hinauf.

Der Großmeister und sein Stab standen bei einem schweren Eichentisch. Darauf entrollt lag eine Karte des Schlachtfeldes. Bunte Holzklötzchen schienen die Positionen verschiedener Truppenteile zu markieren.

Mandred und Beorn saßen ab und gingen der Versammlung der Offiziere entgegen. Ein großer, hagerer Mann drehte sich zu ihnen um. Seine Brustplatte glänzte, als wäre sie aus poliertem Silber. Ein weißer Umhang ruhte auf seinen Schultern. Die Arroganz der Macht spiegelte sich in seinen asketischen Zügen. Er hatte langes, weißes Haar, das ihm offen auf die Schultern fiel. »Ich halte nicht viel von Offizieren, die auch auf der Flucht an der Spitze ihrer Truppen reiten, Hauptmann …«

»Balbion, Eminenz. Hauptmann Balbion.«

Der Großmeister runzelte die Stirn. »Dieser Name ist mir nicht geläufig.«

»Ich wurde erst vor vier Tagen nach den Kämpfen bei der weißen Brücke befördert, Eminenz.«

Mandred hasste aufgeblasene Wichtigtuer wie diesen Tarquinon. Beorn sollte endlich zur Sache kommen und nicht so viel Zeit mit nutzlosem Geschwätz vergeuden.

Als hätte der Großmeister seine Gedanken gehört, wandte er sich halb um und blickte ihn an. »Was hat Euer Adjutant denn da? Das Reglement für die Bewaffnung von Panzerreitern sieht keine Äxte vor. Die hat er wohl einem dieser Barbaren entrissen. Wie ist sein Name?«

»Sein Name ist Mandred Torgridson«, entgegnete Mandred ruhig und ging auf den Großmeister zu. »Er ist der Befehlshaber der Fjordländer, der Jarl von Firnstayn. Und er ist hier, um mit dir darüber zu verhandeln, für heute die Waffen ruhen zu lassen.«

Ein Lächeln spielte um die schmalen Lippen des Großmeisters. Die anderen Hauptleute starrten Mandred verwundert an. Einige griffen nach ihren Schwertern. Tarquinon neigte sein Haupt. »Ich verbeuge mich vor solch tollkühnem Mut, Jarl.« Er griff nach einer Radschlosspistole auf dem Kartentisch. »Zugleich verachte ich so außergewöhnliche Dummheit.«

Beorn sprang vor und schlug nach dem Arm des Großmeisters. Beißender weißer Qualm quoll aus der Waffe. Ein Schlag traf Mandred an der Hüfte. Doch er fühlte keinen Schmerz. Der Jarl blickte kurz an sich herab. Die Platte des Brustpanzers schien keinen Schaden genommen zu haben. Rings herum zogen die Offiziere ihre Schwerter.

Mandred machte einen Satz nach vorn. Seine Axt beschrieb einen weiten Halbkreis. Feine Bluttröpfchen spritzten über die Karte, die das Schlachtfeld zeigte. Dann fiel polternd der Kopf des Großmeisters auf den Tisch und brachte die Formationen der Holzklötzchen durcheinander.

Beorn parierte einen Schwerthieb, der auf Mandreds Kopf zielte. Rücken an Rücken stellten sich die beiden Nordmänner den angreifenden Offizieren. Mandred zerschlug eine dünne Schwertklinge und stieß einem der Angreifer den Dorn seiner Axt durch den Harnisch. Ein Schlag glitt scheppernd von der Schulterplatte des Jarls ab. Er drehte sich halb und zerschmetterte einem Angreifer die Beine.

Plötzlich ertönte das Knallen von Radschlosspistolen. Beißender weißer Rauch wehte über den Hügel und hüllte die Kämpfenden ein. Es stank nach Schwefel, ganz so, als wäre der Devanthar wieder unter ihnen.

Mandreds Axt grub sich tief in die Schulter des jungen Offiziers, der sie den Hügel hinaufgeführt hatte. Der Mann starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Dann brach er in die Knie.

Im Pulverdampf tauchten Reiter auf. Mit ihren langen Schwertern machten sie die letzten Offiziere des Stabs nieder. Mandred sah, wie die Banner mit der schwarzen Eiche niedergerissen wurden. Beorn hatte das Horn von seinem Gürtel genommen und blies aus Leibeskräften hinein. Über den Köpfen der Reiter flatterten die entfalteten Firnstayner Banner. Sie zeigten eine grüne Eiche auf weißem Grund. Der lebende Baum hatte den toten Baum besiegt. Das ganze Heer der Ordenssoldaten würde den Pulverrauch auf dem Feldherrenhügel sehen und die Banner der Feinde! Dazu blies Beorn das Signal zum Rückzug.

Schon löste sich eine der Einheiten aus der Schlachtlinie und ließ sich kämpfend zurückfallen.

Von der Hügelflanke erklang lautes Waffengeklirr. »Die Hellebardiere greifen an«, schrie ein junger Firnstayner.

Mandred zog sich auf ein reiterloses Pferd. »Treibt sie zurück!«, befahl er scharf. Der Hügel durfte nicht wieder in die Hände der Feinde fallen. Sonst wäre alles vergebens gewesen.

Mandred riss den schwarzen Hengst herum und hielt auf die Feinde zu. Er nahm die Zügel zwischen die Zähne und zog eine der beiden Radschlosspistolen aus dem Sattelholster. Voraus erschien die Formation der Hellebardiere. Sie hatten bereits mehrere Reiter niedergehauen. Mandred drehte die Waffe in der Hand und schleuderte sie in die Formation der Feinde. Einer der Hellebardiere schrie erschrocken auf. Niemals würde er eine Waffe abfeuern, die den Atem des Devanthars in die Welt spie. Aber sie taugten als Wurfkeulen.

Mandred zog die zweite Radschlosspistole und holte aus. Noch immer erklang hinter ihm das Rückzugssignal. Andere Reiter schlossen zu ihm auf und bildeten eine Linie. Sie alle zogen ihre Sattelpistolen. Wie auf einen lautlosen Befehl feuerten die Mandriden gleichzeitig. Weißer Rauch umschloss die Reiter. Etliche Hellebardiere stürzten. Die Reihen der Angreifer gerieten in Unordnung.

»Zieht blank!«, rief Mandred über den Lärm hinweg. Schlanke Schwerter klapperten in Blechscheiden.

»Zum Angriff!« Der Jarl gab dem Hengst die Sporen. Es waren nur noch wenige Schritte bis zu den Ordenssoldaten. Mandred warf die zweite Radschlosspistole fort und hob seine Axt.

»Für Firnstayn!«

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