»Wasser«, röchelte der Mann in dem Eisenkäfig. Er war der Letzte, der noch lebte. Sieben große Käfige hingen am Ostende des Pferdemarktes. Eine der vielen Todesstrafen in Iskendria bestand darin, Verurteilte in diese Käfige zu sperren und sie dann auf einem öffentlichen Platz verdursten zu lassen.
Mandred tastete nach seinem Wasserschlauch.
»Denk nicht einmal daran!«, zischte Farodin und deutete zu den Tempelwachen, die im Schatten der Kolonnaden standen. Es war zu dunkel, um abschätzen zu können, wie viele es waren.
»Vielleicht hängt er ja völlig zu Recht hier«, fügte Farodin hinzu.
Der Verurteilte hatte einen Arm aus dem Käfig gestreckt und winkte ihnen verzweifelt zu. Mandred war froh über die Dunkelheit, weil er den Mann so nicht genau sehen konnte. Er musste an den Marsch durch die Wüste denken. Daran, wie er beinahe verdurstet war. Kurz entschlossen nahm er den Wasserschlauch ab und warf ihn dem Gefangenen zu.
Vom anderen Ende des Platzes erklang ein Ruf. Mandred verstand kein Wort. In den zwei Wochen in der Stadt hatte er nur das Nötigste gelernt. Worte, die man brauchte, um hier zu überleben: _Wasser, Brot, ja, nein_ und _lass uns Liebe machen_.
Zwei Wachen traten unter den Kolonnaden hervor.
Farodin und Nuramon liefen los. Mandred blickte noch einmal kurz zu dem Verurteilten. Gierig trank der Mann in langen Schlucken. Es war eine Sache, einem Straftäter den Kopf abzuschlagen. Aber ihn tagelangen Qualen unter der sengenden Sonne Iskendrias auszusetzen, das war niederträchtig! Niemand hatte so etwas verdient!
Mandred beeilte sich, den beiden Elfen zu folgen. Sie bewegten sich völlig lautlos und waren ein Stück voraus in einer dunklen Gasse verschwunden. Der Jarl fühlte sich gut. Es war richtig gewesen, was er getan hatte!
Hinter ihm rief ein Horn. Ganz in der Nähe antwortete ein zweites Horn. Und dann erklang ein drittes aus der Richtung, in die sie liefen. Mandred fluchte. Die Wachen kreisten sie ein. Jemand hinter ihm bellte einen Befehl.
Bevor Mandred den Elfen in die Gasse folgte, hörte er ganz in der Nähe den Klang genagelter Soldatensandalen.
»Hier entlang!« Farodin trat aus dem Schatten einer Tür und zerrte ihn in einen engen Hausflur. Es stank nach Fisch und feuchter Wäsche. Irgendwo über ihnen stritt lautstark ein Ehepaar. Ein Kind begann zu weinen.
Der Flur machte eine scharfe Biegung nach links und endete auf einem Hof. Nuramon stand dort neben einem Brunnenschacht und winkte ihnen zu. »Hier ist es!«
Mandred schaffte es nicht, in Iskendria die Orientierung zu behalten. Gestern Nacht waren sie nach ergebnisloser Suche aus irgendeinem Brunnen gestiegen. Zwei Wochen tasteten sie sich nun schon Nacht für Nacht durch die Katakomben unter der Stadt und versuchten einen Albenstern zu finden, der einen sicheren Übergang in die Bibliothek erlaubte, von welcher der Dschinn gesprochen hatte.
Mittlerweile hatte Mandred den Verdacht, dass seine beiden Gefährten den Torzauber nicht richtig beherrschten. Sie hatten versucht, ihm das Problem zu erklären. Angeblich musste man genau auf einem Stern stehen, um ein Tor zu öffnen. Aber hier lagen die Sterne unter den Schuttschichten von Jahrhunderten begraben. Da die Albenkinder angeblich immer noch die legendäre Bibliothek benutzten, musste es jedoch irgendwo im Labyrinth aus Tunneln, Grabkammern und Abwasserkanälen einen verborgenen Zugang zu einem Albenstern geben. Und danach suchten sie Nacht um Nacht.
Iskendria war an einem außergewöhnlichen Ort errichtet worden. Hier kreuzten sich nicht nur Land- und Wasserwege, durch das Gebiet der Stadt liefen auch mehr als dreißig Albenpfade; doch sie folgten nicht den verwinkelten Gassen, sondern verliefen durch Wände und Fels.
Nuramon hatte ein Seil mit einem Wurfanker am Brunnenrand befestigt und stieg hinab. Farodin folgte ihm. Die Elfen waren geschickte Kletterer. Mandred hasste es, an Seilen zu hängen, genauso wie er es hasste, wie eine Ratte in der Erde herumzukriechen.
Ein Ruf erklang vom Eingang zum Hof. Krieger! Mandred packte das Seil und ließ sich in den dunklen Schacht hinab. Das raue Hanfseil brannte in seinen Händen. Als seine Füße den Mauerdurchbruch im Schacht ertasteten, erschienen Gesichter am Brunnenrand über ihm.
Wütend blickte Mandred nach oben. Er wollte ihren Verfolgern, den Menschenschlächtern des Tempels, einen Fluch oder eine Beleidigung entgegenschleudern. Einfach so davonzulaufen widerstrebte ihm. Doch sein Wortschatz war zu kümmerlich, da gab es nichts. Außer … Er grinste breit und lehnte sich weit in den Brunnenschacht, damit sie ihn sehen konnten. »Lass uns Liebe machen!«, hallte seine Stimme im Brunnenschacht wider. Er streckte den Wachen die geballte Faust entgegen und lachte gehässig. Einer der Krieger schleuderte seinen Speer in den Brunnen hinab. Hastig wich Mandred aus und zog sich zurück. Die beiden Elfen hatten inzwischen drei Laternen entzündet.
»Was sollte dieser Unsinn?«, fragte Farodin scharf.
»Es war doch nur ein Spruch …«
»Ich meine, was auf dem Pferdemarkt geschehen ist! Plagt dich die Todessehnsucht? Wir hatten eine Absprache! Du tust nichts, wodurch wir auffallen. Erinnerst du dich?«
»Das könnt ihr nicht begreifen …«
»In der Tat«, entgegnete Farodin eisig. »Das kann ich nicht begreifen! Deine Tat war vollkommen sinnlos! Glaubst du, du hättest dem Kerl im Käfig das Leben gerettet? Nein! Seine Qualen werden lediglich einen oder zwei Tage länger dauern. Ich begreife dich einfach nicht!«
Mandred antwortete nicht. Was sollte er dazu auch sagen?
Die beiden konnten das nicht verstehen. Und wie sollten sie auch! Was er getan hatte, war unvernünftig, das war ihm selbst klar. Im Grunde half es niemandem wirklich. Und dennoch würde er es wieder tun.
Zerknirscht folgte er den Elfen. Sie kletterten über Schutthaufen, wateten durch halb überflutete Tunnel und tasteten sich durch säulengetragene, unterirdische Hallen, an deren Wände grässliche Dämonen gemalt waren. Immer wieder stießen sie auf Bilder von Balbar, dem Flammen aus dem Schlund züngelten.
Meistens übernahm Nuramon die Führung; er war angeblich talentierter darin, den verborgenen Albenpfaden zu folgen. Mandred hingegen waren Pfade, die man nicht sehen konnte, unheimlich. Sicher gab es hier unten andere, versteckte Markierungen, die einem den Weg wiesen. Folgte man hingegen den Albenpfaden, dann stand man immer wieder hilflos vor Mauern oder Tunneleinbrüchen. So wie jetzt. Sie waren in eine enge Kammer mit Wänden aus dunkelrotem Sandstein gelangt. Ihnen gegenüber stand ein runder Torstein an der Wand, der an ein Mühlrad erinnerte. In seine Mitte waren zwei Wellenlinien eingemeißelt.
»Hier geht es weiter!«, sagte Nuramon entschieden und deutete auf den Stein. Die beiden Elfen wandten sich um und sahen Mandred an.
Natürlich, wenn es darum ging, ein Problem durch Kraft zu lösen, dann war er gut genug für sie, dachte Mandred ärgerlich. Er stellte seine Laterne ab und ging zum Torstein. Am Boden und unter der Decke war das steinerne Rad in Vertiefungen eingelassen, sodass es nicht umstürzen konnte.
Mandred drückte mit aller Kraft und war überrascht, wie leicht sich der Stein bewegen ließ. Ein intensiver Geruch nach Staub, Gewürzen und Weihrauch schlug ihnen entgegen.
Mandred atmete tief aus. Er kannte diesen Duft. So roch es in den Grabkammern unter der Stadt. Dort, wo irgendeine Magie die Leichen der Toten nicht verfaulen ließ, sondern sie lediglich austrocknete.
Diese Gräber jagten Mandred Angst ein. Wenn Tote nicht verrotteten, so wie es sich gehörte, dann mochten sie vielleicht auch noch andere Dinge tun, die sich für Tote nicht gehörten.
Ohne zu zögern traten die beiden Elfen in die Kammer. Sie hielten ihre Laternen hoch, sodass der Grabraum gut ausgeleuchtet war. Er maß etwa drei mal fünf Schritt. In die Wände waren lange Nischen geschlagen, in denen die Toten wie auf steinernen Betten ruhten.
Mandred verkrampfte sich der Magen, als er sich umsah. Die Gesichter der Leichen waren braun und eingefallen, die Lippen weit zurückgezogen, sodass es aussah, als grinsten sie. Mandred blickte zu dem Verschlussstein. Es würde ihn nicht wundern, wenn er plötzlich wie von Geisterhand bewegt vor den Eingang rollte und sich dann, sobald sie hier eingesperrt waren, die Toten erhoben. Verstohlen musterte er die Leichen. Kein Zweifel! Sie grinsten ihn bösartig an. Und wie es aussah, hatten sie allen Grund, übellaunig zu sein. Es war schon jemand in diesem Grab gewesen. Die Gewänder der Toten waren zerfetzt. Einem hatte man gar die Hand abgerissen. Grabräuber!
Die beiden Elfen schien das nicht im Mindesten zu rühren. Sie leuchteten in die Nischen und suchten nach Geheimtüren. Wahrscheinlich waren sie wieder einmal in einer Sackgasse gelandet.
Mandred betete stumm zu Luth. Einer der Toten hatte den Kopf bewegt. Der Jarl hatte es nicht gesehen, aber er war sich ganz sicher, dass der Kerl eben noch zur Tür und nicht in seine Richtung geblickt hatte.
Zur Vorsicht wich er ein wenig zurück. Die Wand gegenüber der Tür schien ihm am sichersten. Dort gab es keine Grabnischen. Die Steine wirkten verwittert. In einen war etwas hineingekratzt, ein Kreis mit zwei Wellenlinien. »Wollen wir nicht wieder gehen?«, fragte Mandred.
»Gleich«, erwiderte Nuramon und beugte sich über den Toten, der Mandred anstarrte. Merkte sein Gefährte denn nichts?
»Vorsicht!« Mandred zog ihn zurück.
Verärgert machte Nuramon sich los. »Tote tun niemandem etwas. Beherrsche deine Angst!« Er sprach mit Mandred wie mit einem Kind, dann beugte er sich wieder in die Grabnische und griff sogar nach dem Leichnam, um ihn ein wenig zur Seite zu ziehen. »Hier ist etwas!«
Mandred hatte das Gefühl, ihm werde sogleich das Herz zerspringen. Was taten die beiden nur! Man machte sich nicht an Toten zu schaffen!
»Hier liegt weniger Staub, und es gibt einen versteckten Hebel …«
Von der Tür zur Grabkammer erklang ein leises Knirschen. Mandred sprang auf, doch obwohl es nur wenige Schritt waren, kam er zu spät. Der runde Torstein war vor den Eingang zurückgerollt. In blinder Panik ließ er die Laterne fallen; das Glas zerschlug auf dem Steinboden. Der Krieger hatte die Axt gezogen. Er wusste, jeden Moment würden sich die Toten erheben. Langsam, zu den Seiten hin sichernd, zog er sich zurück. Die Elfen taten nichts. In ihrer Überheblichkeit hielten sie ihn wohl für verrückt. Ganz offensichtlich wagten sie sich nicht in die Nähe seiner Axt. Begriffen sie denn nicht, in welcher Gefahr sie schwebten?
Mandred wich weiter zurück. Wenn er erst einmal mit dem Rücken vor der Wand stand, in der es keine Grabnischen gab, dann war er halbwegs sicher vor Überraschungen!
Vorsichtig hob Nuramon eine Hand. »Mandred …«
Der Jarl ging einen weiteren Schritt zurück. Um ihn herum verschwamm alles, so wie ein Bild im Wasser vergeht, wenn man einen Stein hineinwirft. Das Licht ihrer Laternen war gedämpft. Etwas zerbrach knirschend unter Mandreds Sohlen. Der Raum schien ihm größer geworden zu sein. Warum stieß er nicht endlich mit dem Rücken gegen die Wand? Die beiden Elfen gafften wie Kälber.
Hastig blickte Mandred zu Boden. Dort lagen Knochen. Und Gold! Armreife, Ringe und dünne Schmuckbleche, wie man sie auf Festgewänder nähte. Eben noch hatte es keine Knochen und kein Gold gegeben! Was ging hier vor sich?
Plötzlich erzitterte der Boden. Etwas kam auf ihn zu. Mandred drehte sich um und sah Balbar, den Gott der Stadt. Er war riesig, vier Schritt hoch oder mehr. Der eckig geschnittene Bart, das Gesicht eine Grimasse des Zorns – es konnte keinen Zweifel geben, das war wirklich der Gott der Stadt! Und er war ganz aus Stein.
Mandred hob die Axt. Nichts stimmte mehr rings um ihn. Nun stand er in einem hohen Tunnel, der schwach von Barinsteinen erleuchtet wurde.
Balbars Rechte schnellte vor. Mandred wurde emporgerissen. Hilflos wie ein Kind strampelte er mit Armen und Beinen. Balbars Linke schloss sich um seinen Nacken, mit der Rechten hielt er Mandreds Füße umfasst. Der Stadtgott bog ihn wie eine Weidenrute. Der Jarl schrie! Er hatte das Gefühl, seine Muskeln würden von den Knochen reißen. Mit aller Kraft stemmte er sich gegen den steinernen Griff. Balbar wollte ihm die Wirbelsäule brechen. Ihn einfach durchbrechen, wie einen Ast. Mühelos überwand der steinerne Koloss seinen Widerstand.
»Liuvar!«
Der Gott verharrte mitten in der Bewegung.
Farodin rief noch etwas, das Mandred nicht verstand. Daraufhin setzte der steinerne Gott ihn auf den Boden. Stöhnend kroch er zur nächsten Wand. Rings herum lagen zersplitterte Knochen. Die anderen Eindringlinge hatten weniger Glück gehabt als er.
»Ein Gallabaal. Kaum ein Albenkind hat eine solche Kreatur je zu Gesicht bekommen. Ein steinerner Wächter. Es bedarf großer Magie, um eine solche Kreatur zu erschaffen.«
Mandred rieb sich den schmerzenden Rücken. Er wäre froh, wenn er dieses Ungetüm nie zu Gesicht bekommen hätte. »Bei den Brüsten Naidas, wie hast du ihn nur aufgehalten?«
»Das war keine Kunst. Es genügt, das elfische Wort für Frieden zu sagen. Geht es dir gut?«
So eine dämliche Frage, dachte Mandred. Mit einem tiefen Seufzer stemmte er sich hoch. Er fühlte sich, als wäre eine ganze Pferdeherde über ihn hinweggetrampelt. »Mir geht es blendend.« Skeptisch musterte er den steinernen Riesen. »Und der gibt jetzt Ruhe?«
»Er wird erst wieder erwachen, wenn jemand Fremdes eintritt.«
Mandred spuckte der Statue auf die Füße. »Du dämliches Stück Fels. Du kannst von Glück sagen, dass du mich überrascht hast.« Der Jarl ließ die flache Seite seiner Axt in die offene Hand klatschen. »Zu Pflastersteinen hätte ich dich verarbeitet.«
Mit einem Ruck erwachte der Riese wieder zum Leben.
»Liuvar!«, rief Farodin erneut. »Liuvar.«
Nuramon war eingetreten. »Welch meisterlicher Zauber. Eine vollkommene Illusion! Man muss die Rückwand des Grabes berühren, um es zu merken, so echt sieht sie aus. Es ist ein Zauber, wie ihn die Elfen von Valemas gewirkt haben, um den Übergang ins Nichts zu verschleiern. Man hat wirklich …« Nuramon verharrte und maß den steinernen Riesen mit abschätzenden Blicken. »Ein Gallabaal. Ich habe die steinernen Wächter immer für Märchenfiguren gehalten.« Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, wies er den Gang hinab. »Dort unten muss es einen großen Albenstern geben. Ich fühle seine Macht.«
Ihr Weg führte sie durch einen hohen Tunnel, an dessen Ende mattes Licht glühte. Es war nicht zu übersehen, dass diese Räume nicht von Menschen gebaut waren. Fugenlos fügte sich das Mauerwerk der Wände ineinander. Der einzige Schmuck der Wände war ein Blumenmuster, dessen Farben so hell leuchteten, als hätten die Künstler gerade erst ihre Arbeit vollendet.
Schließlich traten sie in einen weiten, kreisrunden Kuppelsaal. Matt glühende Barinsteine waren in die Wände gefügt und tauchten den Raum in ein gleichmäßiges Licht, das keine Schatten duldete. In den Boden war ein Mosaik eingelassen, das auf weißem Grund einen schwarzen Kreis mit zwei goldenen Schlangenlinien in seiner Mitte zeigte. Mandred lächelte still in sich hinein. Er verzichtete darauf, seinen Triumph hinauszuschreien. Es hatte Zeichen gegeben, die den Weg hierher wiesen! Er hatte sich nicht geirrt. Und er wusste, dass auch die beiden Elfen in diesem Augenblick begriffen, dass er das Wesen des Labyrinths besser verstanden hatte als sie.
»Sechs Pfade kreuzen sich hier«, sagte Nuramon sachlich. »Es ist fast ein großer Albenstern. Ich bin mir sicher, dieser Weg führt in die Bibliothek.« Der Elf trat in die Mitte des Kreises zwischen die Schlangenlinien. Er kniete nieder und berührte mit der flachen Hand den Boden. Konzentriert schloss er die Augen und verharrte.
Mandred kam es vor, als verginge eine Ewigkeit, ehe der Elf wieder aufblickte. Blanker Schweiß stand ihm auf der Stirn. »Es gibt zwei besondere Kraftlinien. Ich weiß nicht, nach welcher ich greifen muss, um das Tor zu öffnen. Ich verstehe es nicht. Dieses Tor ist irgendwie … anders. Die sechste Linie … Es kommt mir so vor, als wäre sie jünger. So als hätte jemand eine neue Kraftlinie gezogen.«
»Dann muss die ältere diejenige sein, mit der du das Tor öffnest«, sagte Farodin ruhig. »Was ist daran so schwierig?«
»Es ist …« Nuramon fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Da ist etwas, wovon uns die Fauneneiche nichts erzählt hat. Diese neue Linie scheint das alte Gefüge des Albensterns zu beeinflussen. Die Muster sind gestört … oder besser gesagt, sie sind in eine andere Harmonie verrückt.«
Mandred verstand nicht, wovon die beiden sprachen. Sollten sie nur machen!
Nun kauerten sich beide Elfen in den Kreis und hielten die Hände auf den Boden gestreckt. Es schien, als fühlten sie den Puls von etwas Unsichtbarem. Oder hatte vielleicht die Welt einen Puls? Mandred schüttelte den Kopf. So ein unsinniger Gedanke! Wie sollten Erde und Stein einen Pulsschlag haben! Jetzt fing er schon an, wie diese verrückten Elfen zu denken. Vielleicht reichte es ja, mit der Axt ein Loch in den Boden zu schlagen, um in die Zerbrochene Welt hinabzusteigen.
Strahlend wie poliertes Gold öffnete sich ein Tor, das aussah wie eine flache Scheibe aus Licht. Sie stand mitten im Kreis und reichte vom Boden bis fast unter die Kuppeldecke. Mandred tat ein paar Schritte zur Seite. Von dort aus betrachtet, war die Scheibe dünn wie ein Haar.
»Gehen wir«, sagte Farodin. Er klang angespannt. Noch bevor Mandred fragen konnte, was ihm Sorgen machte, war der Elf in dem goldenen Licht verschwunden.
»Stimmt was nicht?«, wandte er sich an Nuramon.
»Es ist diese neue Kraftlinie. Sie unterstützt den Torzauber, aber sie verändert ihn auch, ohne dass wir abschätzen könnten, ob er nur gestärkt wurde oder ob sie ihn manipuliert. Vielleicht solltest du besser hier bleiben. Ehrlich gesagt sind wir uns nicht sicher, ob dieses Tor nun wirklich in die Bibliothek führt.«
Mandred dachte an die Tempelwachen und an die Strafen, die Iskendria gegen Aufsässige verhängte. Da verschwand er doch allemal lieber in einer fremden Welt, aus der es vielleicht kein Zurück mehr gab, als mit zerschlagenen Armen und Beinen auf dem Pferdemarkt angekettet zu werden, damit streunende Hunde ihn fraßen.
»Es ist nicht meine Art, Freunde im Stich zu lassen«, sagte er pathetisch. Das hörte sich besser an, als über die Hunde zu reden.
Nuramon wirkte verlegen. »Manchmal habe ich das Gefühl, wir sind es nicht wert, mit dir zu reiten«, sagte er leise. Dann streckte er Mandred die Hand entgegen, so wie damals in der Eishöhle.
Der Jarl fühlte sich unwohl dabei, mit einem Mann Händchen zu halten. Aber er wusste, Nuramon bedeutete es viel. So schritten sie Seite an Seite durch das Tor.
Mandred spürte einen eisigen Luftzug auf den Wangen. Das Tor öffnete sich über einem Abgrund. Er zuckte zurück und umfasste Nuramons Hand fester. Neben ihnen schwebte Farodin im Nichts.
»Glas«, sagte der Elf ruhig. »Wir stehen auf einer dicken Glasplatte.«
Mandred ließ Nuramon los. Zornig biss er sich auf die Lippen. Natürlich! Er konnte fühlen, dass er auf etwas stand. Aber da war nichts zu sehen. Wie konnte man Glas so kunstvoll fertigen, dass es unsichtbar blieb und das Gewicht eines Menschen und zweier Elfen trug?
Sie standen über einem weiten, kreisrunden Schacht, der sich nach unten hin in mattes Licht verlor. Mandred schätzte, dass es mindestens hundert Schritt in die Tiefe ging. Der Blick in den bodenlosen Abgrund hatte etwas Furchterregendes. Mandred konnte es kaum ertragen, fast hätte er sich wieder an Nuramon geklammert. Wer nur hatte sich so etwas Verrücktes ausgedacht? Über einem Abgrund zu stehen, so als schwebte man!
Das Ganze hier erinnerte Mandred an das Innere eines riesigen, runden Turms. Nur hatte der verrückte Baumeister vergessen, Zwischengeschosse einzuziehen. An der Innenwand des Turms führte eine sanft abfallende Rampe in weiten Spiralen in die Tiefe. Und es schien, als rückten die Wände weiter unten näher zusammen. Mandred schämte sich für seine Angst vor dem Abgrund. Steifbeinig stakste er über die Glasplatte, den Blick fest auf die Wand gerichtet. Bloß nicht in die Tiefe sehen, dachte er die ganze Zeit über und hoffte, dass seine Gefährten ihm nichts anmerkten. Erleichtert seufzte er auf, als er den Aufgang zur Rampe erreichte und der Boden unter seinen Füßen nicht länger durchsichtig war. Er lehnte sich gegen die Wand und blickte zu der Kuppeldecke, die sich über ihren Häuptern spannte. Sie zeigte einen schwarzen Kreis mit zwei goldenen Schlangenlinien. Doch diesmal fühlte Mandred keinen Triumph.
Schweigend ging er mit den beiden Elfen die Rampe hinab. Der Weg war beängstigend schmal. Mandred hielt sich dicht an der Wand. Hier gab es nicht mal ein Geländer! Kannte denn keines der Albenkinder die Angst vor dem Blick in die Tiefe? Den verstörenden Wunsch, sich einfach in den Abgrund fallen zu lassen, so als klänge von unten eine Stimme hinauf, deren Lockungen man kaum widerstehen konnte?
Mandred betrachtete die Bilder, die die Wand zu seiner Linken zierten, um nicht an den Abgrund denken zu müssen. Sie zeigten von gleißendem Licht umgebene Gestalten, die durch Wälder schritten und auf schlanken Schiffen über aufgewühlte Meere fuhren. Wortlos erzählten die Bilder eine Geschichte. Ihr Anblick schenkte Mandreds aufgewühlten Gedanken Frieden. Dann wurde die Harmonie der Bilder gestört. Andere Geschöpfe tauchten auf, Kreaturen, die wie Menschen aussahen, aber Tierköpfe auf ihren Schultern trugen.
Plötzlich blieben die beiden Elfen wie angewurzelt stehen. Die unbekannten Künstler hatten den Manneber gemalt! Er war von einer Lichtgestalt niedergerungen worden, die ihm einen Fuß auf den Nacken stellte. So natürlich war die Schreckensgestalt getroffen, als hätte der Künstler sie vor sich gesehen. Selbst der Farbton der blauen Augen stimmte. Die Lichtgestalt aber hatte kein Gesicht mehr. Ein Stück Putz war herausgebrochen. Bisher hatte Mandred nirgends eine Beschädigung an dem Wandfries entdecken können. Die Zeit war spurlos an dem Kunstwerk vorübergegangen.
Der Jarl spürte, wie sich die feinen Härchen in seinem Nacken aufrichteten. Hier stimmte etwas nicht! Warum trafen sie hier auf niemanden? Wenn dies hier die Bibliothek war, warum gab es hier dann keine Bücher? Und warum löschte der einzige Schaden an dem gesamten Bilderfries das Gesicht jenes Kriegers aus, der einst den Manneber besiegt hatte? War das wirklich ein Zufall?
Farodin hatte seine Rechte auf den Schwertknauf gelegt. Er blickte den Spiralweg hinab.
»Dort unten gibt es ein Tor«, sagte der Elf leise. »Wir sollten uns möglichst still verhalten.« Er sah Mandred an. »Wer weiß, was uns hier erwartet.«
»Sind wir denn in der Bibliothek, die ihr gesucht habt?«
Farodin zuckte mit den Schultern und ging voran. »Jedenfalls sind wir nicht mehr in deiner Welt, Menschensohn.«
So leise er konnte, folgte Mandred den beiden Elfenkriegern. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie das Tor erreichten.
Auf den Wandbildern waren nun blutige Kämpfe zwischen den Lichtgestalten und den Männern und Frauen mit den Tierköpfen dargestellt. Es gab kein zweites Bild des Mannebers. Was immer mit ihm geschehen war, in den späteren Schlachten hatte er offenbar keine Rolle mehr gespielt.
Das Tor, an dem der Spiralweg endete, war mehr als vier Schritt hoch. Jenseits davon lag ein langer, schmaler Gang, dessen Wände mit poliertem Granit ausgekleidet waren. Die Decke des Ganges musste mehr als zwanzig Schritt hoch sein. Dort waren merkwürdige Sprossen angebracht, ganz so, als sollte man sich an der Decke entlanghangeln. Große Barinsteine leuchteten in regelmäßigen Abständen zwischen den Sprossen. Die Wände aber waren über und über mit Kolonnen kleiner Schriftzeichen bedeckt. Wer mochte so etwas lesen? Mandred legte den Kopf in den Nacken. Und wie konnte man lesen, was weiter oben auf den Wänden stand?
Ein Stück voraus hing ein mit Leder aufgepolsterter Sitz an vier eisernen Ketten herab. Die Art, wie er aufgehängt war, erinnerte Mandred an die Kinderwiege, die er vor so langer Zeit gezimmert hatte. Sie hatte an vier starken Seilen vom mittleren Deckenbalken des Langhauses gehangen. Der Jarl spürte einen Kloß im Hals aufsteigen. Das war vergangen! Es war töricht, darüber nachzudenken.
Sie waren etwa zwanzig Schritt dem Gang gefolgt, als nach links ein weiterer hoher Flur mit beschriebenen Wänden abzweigte. Der Hauptgang verlor sich in der Ferne. In regelmäßigen Abständen hingen weitere Sitze von der Decke.
Die Elfen entschieden, weiterhin geradeaus zu gehen. Mandred war es gleich, welchen Weg sie nahmen, solange er sie nicht wieder über einen Abgrund führte.
Sie hatten drei weitere Seitengänge passiert, als Farodin warnend die Hand hob. Der Elf zog sein Schwert und drückte sich eng gegen die Wand. Ein kleines Stück voraus lag eine weitere Abzweigung. Mandred hob die Axt vor die Brust. Dann hörte er es. Hufschlag! Sofort dachte er an das Bild des Mannebers. Die Bestie ging auf gespaltenen Hufen.
Mandred spürte, wie seine Finger feucht wurden. Jeden Augenblick rechnete er damit, die spöttische Stimme des Devanthars in seinen Gedanken zu hören. Stattdessen erklang das Klirren von Ketten. Der Hufschlag verstummte. Etwas quietschte leise. Dann murmelte jemand vor sich hin und seufzte schließlich tief.
Mandred konnte die Spannung nicht länger ertragen. Mit einem wilden Schlachtruf auf den Lippen stürmte er um die Mauerecke – und prallte gegen einen von der Decke hängenden Kentauren. Dieser schrie vor Schreck auf und keilte wild mit den Hufen aus. Ein Tritt traf Mandred mitten auf die Brust und riss ihn von den Beinen. Inzwischen waren seine Gefährten herbeigeeilt und glotzten fassungslos. Nuramon brach in schallendes Gelächter aus. Selbst Farodin schmunzelte.
Vor ihnen hing ein weißer Kentaur in zwei Tragegurten, an denen Ketten befestigt waren, von der Decke herab. Mit Hilfe einer Kurbel und eines Flaschenzugs konnte er sich an der Wand hinauf und herunter lassen.
»Euer Benehmen zeugt von keiner guten Kinderstube, meine Herren!« Der Kentaur sprach Dailisch. Mandred hatte keine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, auch wenn ihm die Worte seltsam gestelzt vorkamen.
»In den Kreisen, aus denen ich stamme, ist es üblich, sich zu entschuldigen, wenn man in seinem Ungestüm jemandem den Kopf in den …« Der Kentaur hüstelte verlegen. »… in den Allerwertesten rammen wollte. Doch da ihr offenbar die einfachsten Regeln des guten Umgangs nicht kennt, werde ich trotz eures Auftretens den Anfang machen und mich vorstellen. Mein Name ist Chiron von Alkardien, seinerzeit Lehrer des Königs von Tanthalia.«
Die beiden Elfen hatten inzwischen ihre Fassung wiedergewonnen und nannten nun ihrerseits ihre Namen.
Der Kentaur betätigte die quietschende Kurbel des Flaschenzugs und ließ sich herab. Geschickt stieg er aus den beiden breiten Lastgurten. Ein Mannpferd wie ihn hatte Mandred noch nicht gesehen. Ein schmales Stirnband aus roter Seide hielt Chirons lange weiße Haare zurück. Sein Gesicht war von tiefen Falten durchzogen, ein mächtiger weißer Bart wallte bis auf seine Brust. Seine Haut war ungewöhnlich hell. Am ungewöhnlichsten jedoch waren seine Augen. Sie hatten die Farbe von frisch vergossenem Blut.
»Tut mir Leid«, stieß Mandred schließlich hervor.
Der Kentaur trug einen Köcher über der Schulter, in dem mehrere Schriftrollen steckten. In den Laschen am Ledergurt steckten drei Griffel und ein Tintenfass. Offensichtlich war er unbewaffnet und schien also harmlos zu sein. Andererseits hatte er diese roten Augen, dachte Mandred. Geschöpfen mit roten Augen sollte man niemals leichtfertig sein Vertrauen schenken!
»Mandred Torgridson, Jarl von Firnstayn«, stellte er sich vor.
Der Kentaur legte den Kopf schief und blickte von einem zum anderen. »Ihr seid neu hier, nicht wahr? Und ich schätze, ihr seid nicht mit Hilfe von Sem-la hergekommen.«
Mandred sah zu seinen Gefährten. Offenbar verstanden die beiden ebenso wenig wie er, wovon das Mannpferd sprach.
Chiron stieß einen Seufzer aus, der ein wenig an ein Schnauben erinnerte. »Nun gut. Dann werde ich euch drei erst einmal zu Meister Gengalos bringen. Er ist der Hüter des Wissens, der für diesen Teil der Bibliothek die Verantwortung trägt.« Er wandte sich um. »Wenn ihr mir nun freundlicherweise folgen würdet …« Er hüstelte. »Könnte einer von den verehrten Elfen diesem Menschen vielleicht erklären, dass es unhöflich ist, einem Kentauren auf das Hinterteil zu starren?«
Was für ein aufgeblasener Wichtigtuer, dachte Mandred. Er wollte dem Kerl gerade eine passende Antwort geben, als ein Blick von Farodin ihn zum Schweigen mahnte. Mandred rappelte sich auf und folgte den anderen mit etwas Abstand. Noch ein Spruch von diesem Kentauren, und er würde ihm den Axtstiel in den Pferdearsch schieben!
Chiron führte sie aus dem Labyrinth der Granitwände in einen weitläufigen Raum. Hier waren Holzregale in engen Reihen aufgestellt, auf denen dicht an dicht tausende runder Tontafeln lagen. Mandred sah sich einige flüchtig an und schüttelte den Kopf. Die Tafeln sahen aus, als wären Hühner darauf spazieren gegangen. Wer konnte denn so etwas lesen? Man bekam ja schon vom flüchtigen Hinschauen Kopfschmerzen!
»Sagt eurem Menschen, er soll sofort die Tafeln zurücklegen!«, blaffte der Kentaur die beiden Elfen an.
Trotzig nahm Mandred eine weitere Tontafel in die Hand.
»Nehmt diesem Idioten die Tafeln ab!«, fluchte Chiron. »Das sind Traumscheiben aus dem versunkenen Tildanas. Sie zeichnen die Erinnerungen derjenigen auf, die sie in die Hand nehmen und betrachten. Jede Erinnerung, die eine der Tafeln aufnimmt, wird für immer aus dem Gedächtnis getilgt. Lasst diesen kindischen Dummkopf eine Weile die Tonscheiben ansehen, und er wird nicht einmal mehr wissen, wie er heißt.«
»Ist die Märchenstunde bald zu Ende? Mit solchen Geschichten kannst du Kinder erschrecken, Rotauge, aber nicht mich.«
Der Schweif des Kentauren zuckte beleidigt. »Wenn der Mensch es besser weiß.« Ohne sich noch einmal nach Mandred umzusehen, ging er weiter.
»Du solltest die Scheiben lieber weglegen«, riet Nuramon. »Was ist, wenn er Recht hat? Stell dir vor, du könntest dich plötzlich nicht mehr an Alfadas oder Freya erinnern.«
»Dieser Gaul macht mir keine Angst«, entgegnete Mandred trotzig. Dann schob er die Tafeln ins Regal zurück. Sie schien jetzt dichter mit krakeligen Schriftzeichen beschrieben zu sein. Mandred schluckte. Hatte der Pferdearsch etwa die Wahrheit gesagt? Er würde sich nichts anmerken lassen! »Warum sollte ich mir diese Dinger länger anschauen, wo ich doch nicht einmal lesen kann?«, erwiderte er in einem Tonfall, der nicht im Entferntesten so locker klang, wie er es sich gewünscht hätte. »Versteh mich nicht falsch, Nuramon. Aber ich glaube dieser rotäugigen Mähre kein Wort.«
»Natürlich«, sagte Nuramon und lächelte verhalten.
Die beiden beeilten sich, um zu Chiron und Farodin aufzuschließen. Der Kentaur erzählte voller Begeisterung von der Bibliothek. Alles Wissen der Albenkinder sei hier gesammelt. »Wir haben sogar zwei Kopisten, die in der Bibliothek am Hafen von Iskendria arbeiten. In der Regel ist das, was die Menschen aufschreiben, zwar nicht das Pergament wert, doch um der Vollständigkeit willen sammeln wir auch diese Schriften. Sie machen allerdings nur einen winzigen Bruchteil unseres Bestandes aus.«
Mandred hasste diesen überheblichen Schnösel. »Habt ihr auch die Siebzehn Gesänge des Luth hier?«, fragte er laut.
»Wenn sie bedeutend sind, wird sich sicherlich jemand die Mühe gemacht haben, sie niederzuschreiben. Meister Gengalos wird das wissen. Ich interessiere mich für vollendete Formen der Epik und nicht für Verse, die von lallenden Barden in stinkenden Hallen vorgetragen werden.«
Chiron hatte sie zu einer zweiten Rampe geführt, die in weiten Spiralen in die Tiefe führte. Mandred stellte sich vor, wie er den eingebildeten Kentauren in den Abgrund stürzte. Ganz gleich, was er redete, wenn es nicht mal die Siebzehn Gesänge des Luth zu lesen gab, dann war das alles hier ein Dreck. Im Fjordland kannte jedes Kind diese Lieder!
Chiron erzählte indessen weiter von der Bibliothek. Angeblich gab es hier über hundert Gäste. Tatsächlich aber hatte Mandred auf dem langen Weg noch niemanden außer dem Kentauren gesehen.
Das Mannpferd führte sie weiter durch Flure und Hallen, und mit der Zeit empfand selbst Mandred die Menge des Wissens, das hier lagern musste, als einschüchternd. Er konnte nicht fassen, womit man so viele Schriftrollen, Bücher, Tonscheiben und beschriebene Wände füllen mochte. Stand am Ende überall dasselbe, nur mit anderen Worten? War es mit diesen Büchern wie mit den Weibern, die sich zum Waschen am Bach trafen und dabei endlos über dieselben Belanglosigkeiten redeten, ohne dass es ihnen jemals langweilig wurde? Wenn wirklich alles, was man in dieser Bibliothek fand, wichtig und wissenswert wäre, dann müsste man als Mensch daran verzweifeln. Selbst zehn Menschenleben würden nicht ausreichen, um sämtliche Aufzeichnungen hier zu lesen. Vielleicht nicht einmal hundert. Also könnten die Menschen die Welt niemals begreifen, weil sie sich in ihrer Vielfältigkeit jeder Erklärbarkeit entzog. Der Gedanke hatte etwas Befreiendes. So gesehen war es egal, ob man ein Buch gelesen hatte oder hundert oder tausend – oder aber gar keins, so wie Mandred. Man würde die Welt ohnehin nicht besser verstehen.
Langsam kamen sie in Bereiche der Bibliothek, in denen man auch Besucher sah: Kobolde, einzelne Elfen, einen Faun. Mandred bemerkte eine seltsame Kreatur, die einen Stierleib hatte und den Oberkörper eines Menschen; außerdem wuchsen ihr noch Flügel aus den Flanken. Dann sah er eine Elfe, die aufgeregt auf ein Einhorn einredete, und darauf einen Gnom, der mit einem Korb voller Bücher auf dem Rücken ein Regal erklomm. Die anderen Besucher nahmen keine Notiz von ihnen, während sie vorübergingen. Zwei Elfen, ein Mensch und ein Kentaur, das schien hier kein Aufsehen erregender Anblick zu sein.
Schließlich brachte Chiron sie in einen Saal mit bunt bemalten Kreuzgewölben, in dem etliche Lesepulte standen. Hier hielt sich nur ein einziger Studierender auf, eine schlanke Gestalt, die eine sandfarbene Kutte trug. Sie hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und las in einem Buch mit purpurfarbenen Seiten, die mit goldener Tinte beschrieben waren. Neben dem Pult standen merkwürdigerweise einige Körbchen mit welkem Laub. Ein seltsamer Geruch hing in der Luft, etwas Beklemmendes und zugleich Vertrautes. Es roch nach Staub und Pergament. Selbst den Geruch des Laubes konnte Mandred erkennen. Aber da war noch etwas … mehr eine Ahnung als Wirklichkeit.
Chiron räusperte sich leise. »Meister Gengalos? Bitte verzeiht, wenn ich Euch störe, aber drei Besucher sind durch das Tor über der Albengalerie in die Bibliothek gekommen. Sie hatten sich in den Granitfluren verirrt. Und dieser dort hat versucht, mich mit seiner Axt zu erschlagen.« Der Kentaur bedachte Mandred mit einem abfälligen Blick. »Ich habe mir gedacht, es sei besser, sie zu Euch zu bringen, Meister, bevor sie noch wirklichen Schaden anrichten.«
Die Gestalt in der Kutte hob das Haupt, doch die tief ins Gesicht gezogene Kapuze ließ ihr Antlitz im Schatten. Mandred war einen Moment lang versucht, diesem Meister mit einer flinken Bewegung die Kapuze zurückzustülpen. Er war es gewohnt zu sehen, mit wem er sprach.
»Daran hast du wohlgetan, Chiron, und ich danke dir.« Gengalos’ Stimme klang warm und freundlich; sie stand in drastischem Gegensatz zu der Unnahbarkeit, die er ausstrahlte. »Ich werde dir die Last der Sorge um die Neuen nun abnehmen.«
Chiron neigte kurz sein Haupt, dann zog er sich zurück.
»Wir möchten …«, begann Farodin, doch Gengalos schnitt ihm mit einer knappen Geste das Wort ab.
»›Wir möchten‹ gibt es hier nicht! Wer immer in die Bibliothek kommt, der muss ihr zunächst dienen, bevor er etwas von ihrem Wissen geschenkt bekommt.«
»Entschuldigt.« Nuramon hatte einen diplomatischen Ton angeschlagen. Auch verneigte er sich vor dem Hüter des Wissens. »Wir sind …«
»Das interessiert mich nicht«, winkte Gengalos ab. »Wer immer hierher kommt, der unterwirft sich den Gesetzen der Bibliothek. Fügt euch oder geht!« Er machte eine kurze Pause, wie um seine harsche Antwort zu unterstreichen. »Wenn ihr bleiben wollt, dann werdet ihr zunächst euren Dienst erweisen.« Er deutete zu den Körben, die neben seinem Lesepult standen. »Dies sind Gedichte von Blütenfeen, niedergeschrieben auf Eichenblätter und Birkenrinde. Da wir auch nach Jahrhunderten noch keinen befriedigenden Weg gefunden haben, die Blätter zu konservieren, müssen die Gedichte abgeschrieben werden. Wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass Schrift und Blattadern eine Harmonie bilden, die nachempfunden sein muss, wenn die tieferen Bedeutungsebenen der Gedichte nicht verloren gehen sollen.«
Mandred dachte an die übermütigen kleinen Feengeschöpfe, die er bei seinen Besuchen in Albenmark gesehen hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, was diese Plappermäuler Erhaltenswertes dichten mochten.
Gengalos drehte den Kopf in seine Richtung. »Der Schein trügt, Mandred Torgridson. Kaum jemand vermag wie sie zarte Gefühle in Worte zu fassen.«
Der Jarl schluckte. »Du … du siehst in meinen Kopf?«
»Ich muss wissen, was die Besucher bewegt, die hierher kommen. Wissen ist kostbar, Mandred Torgridson. Man kann es nicht jedem überlassen.«
»Was ist unsere Aufgabe?«, fragte Farodin.
»Du und Nuramon, ihr beide werdet einen Korb nehmen und die Gedichte auf Pergament übertragen. Wenn ich mit eurer Arbeit zufrieden bin, dann werde ich euch bei eurer Suche helfen. In dieser Bibliothek finden sich Antworten auf fast jede denkbare Frage, wenn man an der richtigen Stelle zu suchen weiß.«
»Und was ist mit mir?«, fragte Mandred verlegen. »Womit soll ich mir das Recht verdienen, hier zu sein?«
»Du wirst einem Schreiber dein Leben erzählen. In aller Ausführlichkeit. Ich habe den Eindruck, dass dies eine Geschichte ist, die es verdient, aufgeschrieben zu werden.«
Der Jarl blickte verlegen zu Boden. »Das ist … Mein Leben soll aufgeschrieben werden?« Er hatte ein ungutes Gefühl, fast so, als wollte man ihm etwas entreißen.
»Möchtest du nicht nach einem Zipfel der Unsterblichkeit greifen, Mandred Torgridson? Man wird die Geschichte noch lesen, wenn du längst Staub geworden bist. Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Wann hat man je gehört, dass zwei Elfen wie Farodin und Nuramon einen Menschen wie dich zu ihrem Gefährten erwählt haben?«
Mandred nickte zögernd. Noch immer hatte er das Gefühl, etwas Kostbares aufzugeben, wenn er von seinem Leben erzählte. Aber vielleicht war das nur abergläubische Furcht? Er durfte sich seinen Gefährten nicht in den Weg stellen. Sie hatten so vieles auf sich genommen, um hierher zu gelangen. »Ich stimme dem Handel zu.«
»Ausgezeichnet, Menschensohn! Ich danke dir für das Geschenk, das du der Bibliothek machst.« Gengalos’ Worte vermittelten Mandred ein wohltuendes Gefühl. So wie Branntwein, der einen in einer Winternacht von innen heraus wärmte. »Ich werde euch nun eure Quartiere zeigen. Die Bibliothek ist so groß wie eine kleine Stadt. Eine Stadt des Wissens, gebaut aus Büchern! Es gibt drei Küchen, die Tag und Nacht offen sind, und zwei große Speisesäle. Wir haben sogar Thermen in einem abgelegenen Seitenflügel.« Er wandte sich wieder an Mandred. »Und wir haben einen sehr gut bestückten Weinkeller. Manche der Hüter des Wissens, zu denen auch ich gehöre, halten nicht viel von Askese. Wie soll der Geist frei sein, wenn wir unseren Körper in Fesseln schlagen? So ist jeder unserer Studierenden bestens versorgt.«