Dem Todeshauch Nahe

Nuramon lief mit Nomja unter dem Deck der Galeere dem Heck entgegen. Der Anblick all der toten Ruderer auf der Steuerbordseite entsetzte ihn. Die Männer und Frauen lagen einfach da, manche waren vorwärts über die Ruder gefallen, manche zurück hinter die Ruderbank. Es waren keine Wunden zu sehen, und in ihren Gesichtern lag nicht der geringste Schrecken. Sie hatten wohl keinen Schmerz empfunden und das Ende nicht einmal kommen sehen.

Was Nuramon aufwühlte, war die Frage, ob die Toten wiedergeboren wurden. Durch Nomja wusste er, dass Elfen, die in der Menschenwelt starben, in Albenmark wiedergeboren werden konnten. Und die Zwerge waren ein Beispiel dafür, dass den Albenkindern sogar innerhalb der Menschenwelt ein neues Leben bevorstand. Doch der Zauber der Priester mochte die Wiedergeburt unterbinden. Das hatte er nicht bedacht, als er Emerelle und Obilee seinen Plan unterbreitet hatte. Wenn es keine Wiedergeburt gab, dann könnte mit einem Hauch des Todeszaubers seine Suche beendet sein. Doch dann dachte er an Meister Alvias. War er nicht vor seinen Augen ins Mondlicht gegangen? War das nicht der Beweis, dass die Priester die Seelen nicht vernichten konnten? Es stellte sich nur die Frage, wer Kinder zeugen oder gebären sollte, wenn alles verloren war …

Sie erreichten die Heckluke und stiegen vorsichtig die breite Leiter hinauf. Nuramon hob den Kopf ein Stück aus der Luke, um zu sehen, wie es am Vorderkastell der Galeere stand. Zu seiner Überraschung war dort niemand mehr. Die Elfen mussten die Ordensritter überwunden haben! Obilee und die Königin waren gewiss schon auf den Langbooten in Sicherheit. Er stieg aus der Luke und hielt sich geduckt. Über die Reling hinweg sah er, dass die Fjordländer noch immer das Vorderkastell der Kogge besetzt hielten und so verhinderten, dass die Ordensritter der fliehenden Königin nachsetzen konnten.

Sobald Nomja aus der Luke geklettert war, schlichen sie gemeinsam zur Reling. Sie hielten sich gebeugt und hoben ihre Köpfe nur ein wenig, um den Kampf zwischen den Ordensrittern und den Mandriden beobachten zu können.

Es stand nicht gut um die Fjordländer. Sie hatten zwar bis auf das feindliche Schiff vorstoßen können, doch dort endete ihr Weg.

Da war Mandred! Er kämpfte in der ersten Schlachtreihe. Dass er sich immer so weit vorwagen musste! Seinem Trupp standen gewiss fünfzig Ordensritter gegenüber. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Mandriden unterlagen.

»Da ist der Priester!«, flüsterte Nomja. »Umringt von Leibwachen mit Visierhelmen.«

Nuramon sah den Mann. Er stand nur wenige Schritt von Mandred entfernt nahe der Reling des Hauptdecks, und doch war er unerreichbar für den Jarl. All die Schildträger würden ein Durchkommen nicht zulassen. Und ihre Kurzschwerter waren bei einem Kampf auf engstem Raum gegenüber den großen Äxten und langen Klingen der Mandriden im Vorteil.

Nuramon holte tief Luft und blickte die Reling entlang zum Bug. Da lagen zahlreiche Elfen, die der Zauber des Priesters getötet hatte. Er und Nomja befanden sich nun in dem Kreis, der den Tod bedeuten mochte. Nuramon reichte Nomja vier Zwergenpfeile. »Hier, nimm sie!«

Die Kriegerin betrachtete die glitzernden Pfeilspitzen mit großen Augen. »Danke, Nuramon«, sagte sie leise, nahm aber nur zwei der Geschosse.

Sie hatte Recht. Mehr als zwei Pfeile würden sie nicht brauchen. Denn wenn der Priester nach zwei Schüssen noch am Leben war, dann wären sie gewiss des Todes.

Nuramon legte einen Pfeil auf die Sehne und wartete, bis auch Nomja angelegt hatte. Tief atmete er durch. »Jetzt!«, flüsterte er, und sie standen auf.

Nuramon zielte auf den Priester in den dunkelblauen Gewändern, dann ließ er die Sehne vorschnellen und schickte den Pfeil auf seinen Weg. Nomjas Schuss folgte nur einen Augenblick später.

Nuramon traf einen der Leibwächter in die Schulter, als dieser zufällig in den Weg trat, Nomja verfehlte den Priester nur um ein Haar. Schnell legten sie neue Pfeile auf die Sehnen. Nuramon sah, dass die Krieger um den Priester ihre Schilde hoben und ihn in Deckung zerren wollten. Es musste schnell gehen, sonst würde der Tjuredpriester seinen Zauber wirken.

Nomja kam zuerst zum Schuss, doch ihr Pfeil wurde von einem Schildbuckel abgelenkt. Nuramons Geschoss traf gerade auf einen Schild und durchschlug diesen. Der Krieger dahinter schrie auf, fiel nach vorne und gab den Blick auf den Priester frei. Dieser stand ein wenig vorgebeugt, hielt aber die Hände erhoben. Er zauberte. Nur noch einen Schuss! _Einen Schuss!_ Sobald die Lücke geschlossen wäre, die der gefallene Krieger hinterlassen hatte, wäre alles vergebens.

Mit fliegender Hast legte Nuramon einen neuen Pfeil auf die Sehne. Auch Nomja zog einen Pfeil aus seinem Köcher. Nuramon zielte und schoss. Der Pfeil flog dicht am Kopf des Priesters vorbei. Die Ordensritter um den Tjuredpriester rückten enger zusammen und waren im Begriff, die Lücke zu schließen. Einer deutete mit ausgestrecktem Arm in ihre Richtung und rief etwas.

Da! Nomjas Pfeil! Es kam auf einen Augenblick an. Nur ein schmaler Spalt klaffte noch im Schildwall. Nuramon erwartete bereits, dass sich der Pfeil in einen der Schilde bohrte. Da geschah das Unfassbare. Das Geschoss verschwand zwischen den beiden Schilden. Nuramon sah den Priester die Arme emporreißen. Dann stürtzte er zwischen die Ritter.

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