Als Kind hatte Nuramon oft an die Wüste und die sagenhafte Stadt Valemas gedacht. Er hatte sich ausgemalt, wie es dort wohl aussehen mochte, doch er war nie im alten Valemas gewesen. Diese Oase war ganz anders, als er sich die Stadt aus der Sage damals vorgestellt hatte. Gewiss, die Sonne von Albenmark oder die der Menschenwelt gab es hier nicht. Doch die Zauberer dieser Gemeinschaft hatten einen Schleier aus Licht gewoben und wie ein Zeltdach über die Siedlung und die umliegende Wüste gespannt. Sie hatten sogar an Tag und Nacht gedacht; das Licht verging in einer ungewöhnlich langen Abenddämmerung und kehrte Stunden später in einem kürzeren Morgengrauen zurück.
Die Verbundenheit zur Wüste war trotz all des Wassers, das es hier gab, deutlich zu sehen und zu spüren. Selbst der sanfte Wind, der hier wehte, schmeckte nach Wüste.
Nuramon folgte einem Pfad, der an den Rand der Siedlung führen sollte. Valiskar hatte ihm diesen Weg gewiesen; angeblich befand sich dort die Grenze dieser Gefilde. Die verbliebenen Orte in der Zerbrochenen Welt galten gemeinhin als Inseln in einem Meer aus Nichts. Und dieses Meer wollte Nuramon sich ansehen. Er hatte seine Gefährten an der Quelle bei den Pferden zurückgelassen, sie ruhten dort in einem der Lehmhäuser. Mandred kam trotz der Hilfe der Heiler von Valemas nur langsam wieder zu Kräften. In seinem Fieberschlaf rief er immer wieder nach Atta Aikhjarto. Farodin war bei ihm geblieben. Trotz der Gastfreundschaft, die ihnen letztlich doch gewährt worden war, misstraute er den Bewohnern der Oase.
Nuramon aber war viel zu neugierig, um dort zu verweilen. Er legte sogar noch einen Schritt zu, um möglichst bald an den Rand der Oase zu gelangen.
Plötzlich endete der Pfad, auf dem er ging, an einer Statue, welche Yulivee zeigte, die Begründerin der Oase. Ihr Abbild fand sich hier in Valemas an vielen Orten. Die Elfen der Wüste verehrten sie fast so wie Mandred seine Götter. Sie war eine schöne Frau gewesen. Ein zuversichtliches Lächeln lag auf ihren Lippen, und in die Augenhöhlen der Statue aus Sandstein waren zwei Malachite eingesetzt. Nuramon hatte am Hof der Königin gesehen, wie ein Bildhauer Edelsteine in eine Statue eingefügt hatte. Zuerst wurden die Steine in die Augenhöhle gesetzt, dann nahm man die steinernen Augenlider hervor, legte sie an und ließ sie durch einen Zauber an die Statue anwachsen. So überdeckten sie die Malachite, als wären sie echt und als könnten sie jeden Moment blinzeln. Die Figur deutete einladend auf einen Stein neben ihr.
Nuramon folgte der Geste und setzte sich. Der Anblick, der sich ihm bot, überraschte ihn. Er war hier zwar am Rand der Oase, doch nicht das Meer aus Nichts lag vor ihm – wie er es im Stillen erwartet hatte –, sondern die Wüste. Vielleicht musste man dort hinausgehen, immer weiter, um an den Rand dieser Gefilde zu gelangen. Doch mit einem Mal fiel Nuramon auf, dass etwas nicht stimmte. Der Wind wehte ihm in den Nacken, aber zugleich sah er, wie feiner Sand aufgewirbelt wurde und auf ihn zu wehte. Doch er erreichte ihn nicht, sondern verschwand plötzlich, als hätte es ihn nie gegeben. War es möglich, dass die Wüste, die sich vor ihm auftat, nichts als eine Illusion war? Ein Abbild jener Wüste, die auf der anderen Seite der Oase begann und bis zum Steinring führte? Es musste ein mächtiger Zauber sein …
Nuramon stand auf und machte einen Schritt auf die Wüste zu. Auf einmal konnte er die Macht des Zaubers spüren. Eine Barriere gleich einer Wand aus feinstem Glas trennte die Siedlung vom Trugbild dort draußen. Behutsam tastete Nuramon nach der unsichtbaren Wand.
Plötzlich knisterte es unter seinen Fingern. Hastig zog er die Hand zurück. Die Wüste verschwamm vor seinen Augen, und es wurde finster am Horizont. Mit unheimlicher Schnelligkeit fraß sich die Dunkelheit durch das Land. Sie strebte ihm entgegen, verschluckte die Dünen, dann Schritt um Schritt den Sand und die Steine der Ebene. Kurz vor ihm aber ergraute die Finsternis im Schein von Valemas. Die Lichtstrahlen reichten weit hinab. Vor Nuramons Füßen tat sich ein Abgrund auf. Dort unten wallte blaugrauer Nebel, der sich kaum merklich bewegte. Das musste das Meer sein, auf dem die Inseln der Zerbrochenen Welt schwammen. Und die Finsternis darüber war der Himmel dieser trostlosen Welt.
Irgendwo da draußen war Noroelle. Und vielleicht schaute sie wie er nun in die Unendlichkeit. Gewiss hatte sie wie die Zauberer dieser Siedlung alles nach ihren Vorstellungen geformt. Nuramon blieb nur zu hoffen, dass es kein Ort der ewigen Trauer war, an dem sie sich befand. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, diesen Nebel zu überwinden, er würde sie nutzen und so weit gehen, wie es nötig war. Vielleicht gab es einen direkten Weg zu Noroelle, einen Weg, der die Barriere der Königin umging.
Nuramon setzte sich wieder auf den Stein neben der Statue. Und während er zusah, wie das Abbild der Wüste zurückkehrte, dachte er über den Einfall nach, der ihm gerade gekommen war. Vielleicht gab es hier eine Art Schiff, das auf dem Nebel fahren konnte wie ein gewöhnliches auf Wasser?
Eine Stimme schreckte ihn aus seinen Gedanken. »Du hast es gesehen?«
Nuramon führte die Hand instinktiv zum Schwert und wandte sich um. Neben der Statue Yulivees stand ein Mann in weiten hellgrünen und weißen Gewändern.
»Ho! Nicht so schnell, Fremder!«, rief er.
Da bemerkte Nuramon, dass der Mann keine Füße hatte, es wehten nur die Gewänder in der Luft. Doch sie bewegten sich viel zu heftig für den leisen Wind, der hier herrschte. Auch das grüne Haar wallte um den Kopf der Gestalt, als würde es Strähne für Strähne von unsichtbaren Händen zerzaust. »Du hast wohl noch nie einen Geist gesehen, oder?«
Nuramon konnte den Blick nicht von der Erscheinung abwenden. »Geister schon, aber keinen wie dich.« Sein Gegenüber wirkte fast wie ein Elf. Sanft stachen die spitzen Ohren durch das Haar, doch schienen sie fleischiger zu sein als Elfenohren. Seine Hände waren auffallend groß und unförmig; gewiss hätte er Nuramons Kopf mit einer Hand umfassen können. Der Kopf des Geistes hingegen war länglich, das Kinn spitz. Auch sein breites Grinsen konnte daran nichts ändern.
»Ich bin Nuramon. Wie ist dein Name?«
»Namen! Pah!«, sprach der Geist und winkte ab. »Das Leben wäre viel leichter ohne Namen. Namen sind nur Verpflichtungen. Da kennt einer deinen Namen, und schon ruft er ihn und sagt dir, du sollst dies tun, du sollst das tun.« Er hob die Augenbrauen, und seine blassgrünen Augen glitzerten. »Ich bin einzigartig hier. Es gibt in Valemas nur einen Dschinn. Und das bin ich. Selbst wenn ich mal hier und mal da bin …«, er deutete neben Nuramon und verschwand mit einem kühlen Luftzug, nur um dort zu erscheinen, wo er hingezeigt hatte, »… selbst dann bin ich immer noch derselbe.« Der Geist beugte sich zu ihm hinab. »Sag, was ist deine Lieblingsfarbe?«
Nuramon zögerte. »Blau«, antwortete er schließlich und dachte dabei an Noroelles Augen.
Der Geist wirbelte im Kreis, und als er Nuramon wieder entgegenlächelte, hatte er blaues Haar, blaue Augen und trug blaue und weiße Gewänder. »Auch in Blau bin ich noch immer derselbe und der Einzige hier. Wozu also einen Namen? Nenn mich einfach _Dschinn_.«
Nuramon konnte es nicht fassen. Vor ihm schwebte ein leibhaftiger Dschinn! Er hatte von ihnen gehört, es hieß, sie seien verschollen, und einige von ihnen würden sich in den wenigen Wüsten Albenmarks verbergen. Manche behaupteten gar, Dschinnen hätten niemals existiert.
»Nun, Dschinn … Vielleicht kannst du mir helfen.«
Der Geist machte ein ernsthaftes Gesicht. »Endlich! Endlich jemand, der meine unendliche Weisheit zu schätzen weiß.«
Nuramon musste lächeln. »Du bist wahrhaft bescheiden.«
Der Dschinn verbeugte sich. »Gewiss. Ich würde nie etwas über mich sagen, das nicht der Wahrheit entspricht.« Er kam nah an Nuramon heran und flüsterte: »Du musst wissen, dass ich einst …« Er schaute sich um. »Einst lebte ich an einem anderen Ort. Es war eine Oase des Wissens in der allgegenwärtigen Wüste der Unwissenheit.«
»Hm. Und welches Wissen wurde dort gehütet?«
Der Dschinn schnitt eine verständnislose Miene. »Selbstverständlich alles: das Wissen, das _war_, das Wissen, das _ist_, und jenes, das kommen wird.«
Dieser fröhliche Geist hielt ihn wohl zum Narren. Selbst Emerelle konnte die Zukunft nur verschwommen sehen. Aber dennoch … Wenn dieser Dschinn nicht nur ein Trugbild seiner überreizten Sinne war und vielleicht gar ein Fünkchen Wahrheit in seinen Worten steckte, dann mochte er ihm bei der Suche nach Noroelle helfen. »Wo ist dieser Ort?«, fragte er den Geist.
»Du musst ihn dir wie eine riesige Bibliothek vorstellen. Und diese steckt in dem Feueropal der Krone des Maharadschas von Berseinischi.«
»Eine Bibliothek? In einem Stein?«
»Gewiss.«
»Das ist kaum zu glauben.«
»Würdest du eher glauben, dass der Feueropal ein Albenstern ist, der sich bewegt?«
Nuramon schwieg. Der Dschinn hatte Recht, ein Albenstern, der nicht an einen Ort gebunden war, erschien ihm noch unglaubwürdiger als ein Stein, in dem Geister alles Wissen sammelten.
Der Dschinn sprach weiter. »Der Feueropal war unser Geschenk an den Maharadscha Galsif. Wir waren ihm zu großem Dank verpflichtet. So vertrauten wir ihm den Feueropal an und wurden seine Berater. Und wir waren gute Berater.« Er verschwand wieder und tauchte links neben Nuramon auf. »Galsif war ein kluger Mann und hütete unser Wissen mit großer Weisheit. Und in dieser Weisheit verschwieg er seinem Sohn unsere Anwesenheit. Denn dieser war ein Tyrann und ein Narr und unseres Wissens nicht würdig. Wir Geister gingen im Opal ein und aus, ohne dass irgendjemand es bemerkte. Einen Ort, der sicherer ist als die Krone eines mächtigen Herrschers, kann es nicht geben.«
Nuramon überlegte. Das klang alles sehr phantastisch. »Könnte ich in jener ›Bibliothek‹ herausfinden, wie man durch diese Welt von Insel zu Insel reist?«
»Das könntest du, wenn die Bibliothek noch da wäre. Aber sie ist schon seit langem verschwunden. Viele Herrschergenerationen nach Galsif unterwarf der Maharadscha Elebal seine Nachbarreiche und stieß dann nach Osten vor. Zuletzt kämpfte er in den Wäldern von Drusna, wo er mitsamt seinem Heer verschwand. Ohne ihn löste sich sein Reich auf, und die Krone, die in Drusna verloren ging, ist bis heute verschollen. Früher konnte ich von jedem Ort in der Menschenwelt aus den Opal spüren und zu ihm gelangen. Doch seit damals nehme ich ihn nicht mehr wahr, wenn ich durch die Welt der Menschen schwebe. Vielleicht sind die Krone und der Feueropal zerstört. Vielleicht sind sie aber auch von Magie umgeben und behütet. Es mag sein, dass sie eines Tages wieder auftauchen, aber bis dahin wirst du auf das Wissen der Bibliothek verzichten müssen. Allerdings kann ich dir deine Frage beantworten, denn mein Wissen ist umfassend. Die Antwort wird dir allerdings nicht gefallen.« Der Dschinn schwebte zum Rand des Oase, und von einem Augenblick zum anderen war die Finsternis wieder da. »Du hast es ja vorhin gesehen. Schau es dir an! Wer außer den Alben könnte auf diesem grauen Nebel wandeln? Es wäre verhängnisvoll, dort hinauszugehen. Das da draußen gehört im Grunde nicht zu dieser Welt. Es ist viel mehr der Hintergrund der Zerbrochenen Welt, das, was bleibt, wenn eine Welt verschwindet. Die einzelnen Inseln liegen unvorstellbar weit voneinander entfernt. Natürlich gibt es hier in der Oase Albenpfade und auch Albensterne. Aber wir können nur den einen Weg nutzen, der in die Menschenwelt führt. Alle anderen reichen in die Finsternis und enden irgendwo zwischen den Inseln. Nimmst du einen dieser Pfade, bist du auf immer verloren. Sich abseits der Albenpfade zu bewegen ist auch keine Lösung. Ich kann fliegen. Ich bin sogar einmal dort draußen gewesen, aber bald zurückgekehrt, ehe ich das Licht von Valemas aus den Augen verlor. Selbst wenn du fliegen könntest, würdest du ohne Essen und Trinken nicht weit kommen. Glaube mir, Nuramon: Sogar ich würde dort draußen zugrunde gehen. Denn jedes Wesen nährt sich von irgendetwas, aber dort gibt es nichts! Es führt kein Weg durch die Leere von Insel zu Insel.«
Damit war Nuramons Idee zunichte. Wenn es nicht einmal einem Geist möglich war, in der Zerbrochenen Welt zu reisen, konnten sie die Barriere der Königin auf diesem Wege nicht umgehen. Sie würden sich ihr in der Menschenwelt stellen müssen.
»Ich sehe, es bekümmert dich. Aber das Leben ist zu lang, um es mit Trauer auszufüllen. Sieh mich an! Ich habe hier ein neues Heim gefunden und lebe vergnügt unter Elfen.«
»Verzeih mir, Dschinn. Aber für mich ist das keine Lösung. Ich muss eine Barriere um einen Albenstern brechen, um zu einem Ort in der Zerbrochenen Welt zu gelangen. Und ich weiß nicht einmal, wo in der Anderen Welt dieser Albenstern liegt.«
»Aber finden wirst du ihn doch, oder?«
»Ich werde auf Elfenweise danach suchen und ihn eines Tages finden. Doch was dann? Wie soll ich die magische Barriere überwinden, die den Albenstern schützen wird?«
»Ich weiß, was dich plagt. Die Königin von Albenmark ist diejenige, welche die Barriere geschaffen hat.«
»Woher weißt du das?«, fragte Nuramon erstaunt.
»Weil man ihrer Macht nicht gleichkommen kann. Deswegen scheint für dich und deine Gefährten alles verloren.« Der Dschinn schwebte um Nuramon herum. »Donnerwetter! Ein Elf, der einen Zauber seiner Königin brechen will. So etwas habe ich noch nie gehört. Es heißt, ihr seid alle so brav und folgsam in Albenmark.«
»Ich bitte dich inständig, niemandem etwas von meinen Plänen zu sagen.«
»Ich werde es so verborgen halten wie meinen eigenen Namen. Und weil ich Albenkinder mit Mut bewundere, werde ich dir helfen. Du sollst wissen, dass es schon mehrfach gelungen ist, eine Barriere um einen Albenstern zu durchbrechen. Auch wenn der Feueropal verschollen ist und ich leider nur bescheidenes Wissen auf dem Gebiet der Bannmagie besitze, kann ich dich an einen weiteren Ort verweisen, an dem seit Jahrtausenden das Wissen der Welten gesammelt wird. Das Tor dorthin liegt in Iskendria. Natürlich ist diese Bibliothek nicht mit derjenigen der Dschinnen zu vergleichen, aber wozu das ganze Wissen dieser Welt in Händen halten, wenn man nur einen Zipfel davon braucht!«
Iskendria! Der Name hatte einen Klang, der Nuramon gefiel. »Wo liegt dieses Iskendria?«, fragte er den Geist.
»Folge dem Albenpfad, der vom Steinkreis aus nach Norden führt. Gehe bis ans Meer.« Der Dschinn wirbelte um sich selbst und zeigte dann zur Seite. »Dann wende dich nach Westen und gehe die Küste entlang. Du kannst Iskendria nicht verfehlen.« Der Geist verschränkte die Arme vor der Brust.
»Ich danke dir, Dschinn.«
»Oh, Dank bedeutet uns sehr viel. Ich war viele Jahre in der Welt der Menschen. Wie viele Wünsche habe ich dort erfüllt, und wie selten hat jemand danke gesagt!«
»Kann ich etwas tun, um dir zu helfen?«
»Du könntest dich mit mir auf diesen Stein setzen und mir erzählen, was dir widerfahren ist. Glaube mir, in dieser Oase sind deine Geheimnisse sicher. Keiner hier wird nach Albenmark laufen und der Königin von dir berichten.«
Nuramon nickte und setzte sich zu dem Dschinn auf den Stein. Dann fing er an zu erzählen. Die Geschichte wurde mit jedem Mal länger, da er sein Herz ausschüttete.
Der Dschinn hörte geduldig zu und machte dabei ein Gesicht, das gar nicht zu seiner fröhlichen Art passen wollte. Als Nuramon geendet hatte, begann der Dschinn zu weinen. »Das war wohl die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe, Elf.« Der Dschinn sprang auf, wischte sich übers Gesicht und grinste ihn plötzlich breit an, dass seine Zähne blitzten. »Aber es ist noch nicht vorüber. Du kannst weinen oder aber lachen.« Das Gesicht des Dschinns veränderte sich, die eine Hälfte wurde fröhlich, die andere betrübt. Und es schien, als kämpften die beiden Hälften miteinander. »Du musst dich entscheiden. Du musst dich fragen, ob es Hoffnung gibt oder aber nicht.« Er schlug sich mit der flachen Hand auf die fröhliche Wange, und das Lächeln und die Freudenfalten wuchsen über die andere Gesichtshälfte. »Du solltest zuversichtlich sein, Elf. Geh nach Iskendria! Gewiss wirst du einen Weg finden. Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, hast du noch genug Zeit, um zu verzweifeln.«
Nuramon nickte. Selbstverständlich hatte der Dschinn Recht, wenngleich ihm dessen Frohsinn fremd war. Er wusste nicht, ob er dem Geist böse sein sollte, weil dieser seine traurige Geschichte so leichtfertig zur Seite geschoben hatte. Doch ein Lächeln auf dem Gesicht dieser merkwürdigen Gestalt genügte, und er konnte nicht umhin, seinerseits zu lächeln.
Als sich Nuramon erhob, schwebte der Dschinn wieder neben der Statue. »Gehe mit Zuversicht nach Iskendria. Yulivee war oft dort. Und sie war sehr weise. Sie schuf das Tor, durch welches die Elfen des alten Valemas Albenmark verließen. Sie schuf den Steinring dort draußen, und ihr verdanken die Elfen hier die Zauber des Lichtes, die Barriere dort und das Bild der Wüste, welches dahinterliegt. Yulivee hat immer gesagt, das Reisen sei der beste Lehrmeister. Und sie war eine gute Schülerin. Was sie dort draußen in der Welt der Menschen und auch in der Zerbrochenen Welt lernte, das mag dir auch einst offen stehen.« Mit diesen Worten löste sich der Dschinn auf. Aus dem Wind erklangen die Worte: »Leb wohl, Nuramon!«
Nuramon trat vor die Statue der Yulivee und schaute ihr in die schimmernden Augen. Er wusste zwar immer noch nicht, ob der Dschinn überhaupt ernst zu nehmen war und dort draußen in der Menschenwelt wirklich eine Stadt namens Iskendria existierte. Doch ein Blick in das Gesicht Yulivees genügte, und er wusste, dass er seinen Gefährten von dieser Stadt erzählen und sie überreden würde, dorthin zu gehen.
Die Gefährten Valeschars
Den großen Wüstenwanderer Valeschar kannten schon unsere Vorfahren. Wir sind ihm nur einige Male begegnet und wissen nicht, wie er in den Tiefen der Wüste überleben kann. Doch es heißt, er und die Wüste seien eins. Eines Tages lernten wir die Gefährten Valeschars kennen. In der Nacht zuvor hatten wir die Ghule in den Dünen heulen hören, und so fürchteten wir den Tag. Als wir zur Mittagsstunde die unerbittliche Ebene von Felech durchquerten, da erblickten wir einen Reiter in der Ferne. Wir glaubten, die Ghule hätten einen Dämon geschickt, uns zu holen. Doch dann sahen wir den feuerroten Umhang Valeschars.
Wir errichteten unser Lager an Ort und Stelle, auf dass wir den großen Wüstenherrn würdig empfangen konnten. Doch siehe da! Aus dem Schatten Valeschars lösten sich drei Gestalten mit ihren Pferden. Es waren zwei blasse Girat, wie Krieger bewaffnet. Der dritte aber war ein Girat des Feuers. Langes Flammenhaar loderte im Wind, und sein Antlitz war so rot wie Glut. Seine Waffe war eine große Axt, deren Schneide in der Sonne glühte. Die drei Girat ritten auf edlen, unermüdlichen Pferden.
Wir empfingen Valeschar gemäß unseres Brauches. Und wie immer war er ein guter Gast. Er trank und aß mit uns in Frieden und erfreute sich an unseren Geschenken. Valeschar stellte uns seine Gefährten vor. Die beiden blassen Girat hießen Faraschid und Neremesch, der Girat des Feuers aber Mendere.
Faraschid hatte Haar so hell wie die Sonne und Augen aus Jade. Neremeschs Haar aber war von der Farbe der Windberge, und seine Augen waren so braun wie die Wüste im Süden.
Mendere aber war ein Riese mit einem wilden Flammenbart. Seine blauen Augen wirkten wie zwei Oasen in der Wüste. Der Girat des Feuers hatte nicht die Manieren seines Herrn. Er fraß unaufhörlich, und zu unserer größten Verwunderung trank er ständig Wasser. Neremesch bedeutete uns, dass Mendere die Flammen löschen müsse, die in seinem Magen tobten. Da wurde uns klar, dass Mendere nur zu unserem Wohle handelte. Denn er wollte nicht, dass unsere Zelte in Flammen aufgingen.
Nach dem Mahl bat uns Valeschar darum, seine Gefährten ans Meer zu führen. Wir fürchteten uns zwar vor dem Girat des Feuers, doch aus Ehrfurcht gegenüber Valeschar nahmen wir uns der drei an. Die Girat sprachen nicht unsere Sprache, und wir kannten keine, derer sie mächtig waren. So tauschten wir nur wenige Worte. Wir bewunderten, mit welcher Aufopferung Mendere das Wasser für uns trank. Und auch dem Wein sprach er zu, um die Flammen zurückzuhalten. Als er darauf nach Raki verlangte, da fürchteten wir, Mendere werde seine Flammen damit nur anfachen. Doch wer widersetzt sich schon dem Wort eines Freundes Valeschars? So trank der Girat Raki. Zunächst geschah nichts. Doch in der Nacht erhob sich ein solches Gestöhn und Gejammer, dass wir zunächst aus dem Lager flohen und dachten, die Ghule seien gekommen. Als wir uns zurück in unser Lager wagten, entdeckten wir Mendere, der sich am Boden wand und gegen die Flammen ankämpfte, die der Raki in ihm entfacht hatte.
Je näher wir dem Meer kamen, desto feuriger wurde die Haut des Mendere. Nur die Hände Neremeschs vermochten das Feuer aus dem Gesicht und von den Armen Menderes zu verbannen. Seit jenem Tag heißt es bei uns: Gib einem Girat des Feuers niemals Raki zu trinken!
Schließlich erreichten wir das Meer, und die drei Girat verabschiedeten sich mit den wenigen Worten, die sie in unserer Sprache gelernt hatten. Sie gingen Iskendria entgegen und ließen uns neugierig zurück. Was mochten sie wohl in Iskendria wollen? Gewiss waren sie im Auftrag ihres Herrn unterwegs.
Denn die Völker der Wüste wussten schon seit langem, dass die Bewohner Iskendrias so töricht waren, Valeschar seinen Tribut zu verweigern. Nun aber ritt ihnen das Verderben in Gestalt seiner Gefährten entgegen.