Der Ruf der Königin

Farodin hatte seine Gäste schon früh verabschiedet. Er wollte mit sich allein sein, um seine Gedanken zu ordnen. Doch dies war ihm kaum möglich, denn aus dem Nachbarzimmer schallte der Lärm eines Gelages. Der Menschensohn war wahnsinnig! Niemand von Vernunft betrank sich in der Nacht vor der Elfenjagd. Und das wiehernde Lachen verriet, dass ihm Aigilaos bei dieser Torheit noch Gesellschaft leistete.

Er legte sich auf das harte Bett, das ihm aus anderen Nächten wie dieser vertraut war. Stille Freude überkam ihn, als er an die Ereignisse des Abends zurückdachte. Endlich hatte er es gewagt, sich Noroelle zu offenbaren. Hatte es gewagt, in eigenen, unbeholfen gesetzten Worten von seiner Liebe zu sprechen. Und was tausend Lieder nicht vermocht hatten, hatten ihm einige wenige Sätze, die von Herzen gesprochen waren, schließlich beschert: Er war sich sicher, Noroelle an diesem Abend für sich gewonnen zu haben.

Ein leises Klopfen riss ihn aus seinen Gedanken. Ein Kobold mit einer großen Blendlaterne trat ein. »Entschuldige, dass ich deine Ruhe in der Nacht vor der großen Jagd störe, Ehrenwerter, doch die Königin wünscht dich zu sehen. Bitte folge mir.«

Überrascht streifte der Elf sein Gewand über. Was mochte geschehen sein?

Der Kobold spähte vorsichtig in den Gang hinaus. Seine Nasenflügel blähten sich, als nähme er Witterung auf wie ein Spürhund. »Die Luft ist rein, Ehrenwerter«, flüsterte er in verschwörerischem Tonfall. Mit weiten Sätzen eilte er den Gang entlang und öffnete eine Tür, die hinter einem Wandvorhang, der eine Hirschjagd zeigte, verborgen war. Er führte Farodin eine enge Stiege hinauf, die sonst nur von Kobolden und Gnomen benutzt wurde. Unter einem Treppenabsatz öffnete er eine zweite verborgene Tür, hinter der sich ein gekachelter Flur verbarg. Ab und an drehte sich der Kobold lächelnd zu Farodin um. Offensichtlich genoss er die Rolle, die ihm Emerelle zugewiesen hatte.

Sie gelangten zu einer Wendeltreppe, die im Innern einer großen Säule verborgen lag. Farodin vernahm schwach den Klang von Musik durch das Mauerwerk. Beklommen dachte er an das letzte Mal zurück, da Emerelle ihm einen geheimen Auftrag erteilt hatte. Wieder hatte er für sie töten müssen. Während der Trollkriege vor siebenhundert Jahren war etwas in ihm zerbrochen. Nur die Königin wusste darum. Und sie hatte es sich zu Nutze gemacht. Er verbarg diese dunkle Seite seiner Seele. Bei Hof kannte man nur den glatten, ein wenig oberflächlichen Minnesänger. Als er Noroelle zum ersten Mal begegnet war, war in ihm die Hoffnung aufgekeimt, wieder jener zu werden, der er einst gewesen war. Allein sie vermochte dieses Wunder zu vollbringen.

Der Kobold verharrte am Ende der Treppe vor einer Pforte aus grauem Holz. »Weiter darf ich dich nicht geleiten, Ehrenwerter.« Er gab Farodin die Laterne. »Du kennst den Weg. Ich werde hier warten.«

Farodin spürte einen leichten Luftzug auf seinem Gesicht, als er die Pforte durchschritt. Die Melodie eines altvertrauten Liedes schwang in der Luft. Seine Mutter hatte es ihm oft vorgesungen, als er noch ein Kind gewesen war. Es erzählte vom Auszug der Alben.

Der Gang führte Farodin zur Rückseite des Standbildes einer Dryade. Mit Mühe zwängte er sich durch einen schmalen Spalt zwischen der Statue und dem Mauerwerk und fand sich auf jenem kleinen Balkon hoch über dem Saal der fallenden Wasser wieder. Ein Blick hinauf zeigte ihm ein Turmdach, das wie ein Meeresschneckenhaus in sich gedreht war.

»Es freut mich, dass du meinem Ruf so schnell gefolgt bist, Farodin«, erklang eine wohl vertraute Stimme. Der Elfenkrieger drehte sich um. Hinter ihm war Emerelle auf den Balkon getreten. Sie trug ein schlichtes weißes Nachtgewand und hatte sich einen dünnen Schal um die Schultern gelegt.

»Ich bin in großer Sorge, Farodin«, fuhr Emerelle fort. »Eine Aura des Unheils umgibt den Menschensohn. Er hat etwas an sich, das sich meiner Magie entzieht, und mich ängstigt, auf welche Weise er hierher gelangt ist. Er ist das erste Menschenkind, das wir nicht gerufen haben. Nie zuvor ist eines von ihnen aus eigener Kraft durch die Pforten nach Albenmark gekommen.«

»Vielleicht war es nur ein Zufall«, wandte Farodin ein. »Eine Laune der Magie.«

Emerelle nickte bedächtig. »Das mag sein. Vielleicht steckt aber auch mehr dahinter. Da ist etwas jenseits des Steinkreises … etwas, das sich vor meinem Blick verbirgt. Und Mandred ist damit verbunden. Ich bitte dich, Farodin, sei besonders wachsam, wenn du in die Andere Welt reitest. Mandreds Geschichte kann nicht stimmen! Ich habe mich lange mit den Ältesten beraten. Niemand von ihnen hat je zuvor von einem Manneber gehört.« Emerelle hielt inne, und als sie fortfuhr, klangen ihre Worte nicht länger besorgt, sondern kühl und befehlsgewohnt. »Wenn der Menschensohn ein Betrüger ist, Farodin, dann töte ihn, so wie du den Fürsten von Arkadien und all die anderen Feinde von Albenmark für mich getötet hast.«

Загрузка...