Auf den Spuren einer vergangenen Nacht

Nuramon wandelte durch den Obstgarten der Königin. Wie schon in seiner Kammer musste er an die Nacht vor dem Auszug der Elfenjagd denken. Damals hatten die Bäume ihm zugewispert, nun aber schwiegen sie. Nuramon tastete nach den Zweigen der Feentanne, doch die Wärme, die sie stets verströmt hatte, war vergangen. Enttäuscht zog er die Hand zurück.

Was war hier geschehen? Waren die Seelen der Bäume etwa ins Mondlicht gegangen? Der Zauber, der diesem Ort anhaftete, schien noch zu wirken, denn all die Bäume trugen zugleich ihre Früchte. Doch die Zeit schien so manche Veränderung gebracht zu haben.

Nuramon kam an der Linde vorüber, an der er Noroelle zum ersten Mal gesehen hatte, und er gelangte zu den beiden Maulbeerbäumen, die ihm damals ihre Früchte geschenkt hatten. Wie die Schlacht morgen auch ausging, all das würde Noroelle nie wiedersehen. Ihren See, die Fauneneiche und ihr Heim würde sie nur mehr in ihrer Erinnerung finden.

Nuramon erreichte die Linde und den Ölbaum am Rande des Gartens. Hier hatte er als Baumgeist zu Noroelle gesprochen, und sie hatte sich auf das Spiel eingelassen. In jener Nacht hätte er nie und nimmer geglaubt, dass das Schicksal sie alle auf so einen schweren Pfad führen würde. Er schaute auf und sah dort zwei Gesichter, die zu ihm hinabblickten.

»Na, belauschst du uns?«, fragte Yulivee lächelnd.

Obilee legte der Zauberin die Hand auf die Schulter. »Lass ihn!«

»Komm doch zu uns«, setzte Yulivee nach.

Nuramon antwortete nicht, sondern stieg über die schmale Treppe zur Terrasse hinauf. Die beiden Elfen boten einen bezaubernden Anblick. Yulivee war in graue Gewänder aus leichtem Stoff gekleidet. In ihr dunkelbraunes Haar hatte sie weiße Bänder geflochten. Obilee trug ein fließendes blaues Kleid und hatte das Haar hochgesteckt. Niemand hätte geglaubt, sich einer Kriegerin gegenüberzusehen.

»Yulivee und Obilee!«, sagte Nuramon. »Seid ihr beste Freundinnen geworden?«

»Seit der Nacht, da du fortgingst«, bestätigte Yulivee.

Er trat vor sie.

Yulivee schaute ihm in die Augen. »Es ist seltsam, nicht mehr zu dir aufzublicken.« Sie war genauso groß wie Nuramon. »Du warst damals ein Riese für mich. Und ich war für dich gewiss nur ein törichtes Mädchen.«

»Nein, eine kleine Zauberin von großer Macht warst du … und ein liebenswürdiger Quälgeist.«

Obilee lächelte. »Das ist sie auch noch eine Weile geblieben, nachdem du fort warst.«

»Dafür möchte ich mich entschuldigen«, sagte Yulivee.

Nuramon schüttelte den Kopf. »Das musst du nicht … Schwester.«

»Ich habe es nicht vergessen … Bruder«, sagte Yulivee. »Und ich habe getan, worum du mich gebeten hast. Ich habe auf Felbion aufgepasst, und ich lebe in deinem Haus. Du wirst es noch wiedererkennen, auch wenn Alaen Aikhwitan fort ist.«

»Er ist nicht mehr da?«, fragte Nuramon und dachte dann an die Feentanne.

»Es gibt im ganzen Herzland keinen beseelten Baum mehr«, antwortete Obilee.

Yulivee holte aus einem kleinen Beutel eine Eichel hervor. »Diese gehört Alaen Aikhwitan. Wenn wir morgen siegen, dann werden die Seelen der Bäume wiedergeboren. Ich weiß nur noch nicht, wo ich diese Eichel pflanzen soll.«

»Was ist mit Atta Aikhjarto geschehen?«

»Xern wird ihn neu pflanzen.« Die Zauberin deutete zum Obstgarten hinab. »Die meisten Seelen der Bäume sind ins Mondlicht gegangen. Nur einige der Großen haben ihre Seelen gebunden. Alaen Aikhwitan, Atta Aikhjarto, die Feentanne, die Fauneneiche und wenige andere. Sie werden die Urväter und Urmütter neuer Seelenbäume sein. Emerelle sagte, sie wolle die Feentanne bei den Auenfeen pflanzen.«

Nuramon musste an Noroelles See denken, der an die Wiese der Auenfeen grenzte. Alles würde sich ändern, zu etwas Neuem werden. Noroelles See würde im neuen Albenmark gewiss seinen Platz im Gefüge behalten.

»Du wirst tatsächlich gehen?«, fragte Yulivee und riss Nuramon aus seinen Gedanken.

»Ich muss es tun«, antwortete er.

Yulivees Lächeln verging. »Ich würde viel dafür geben, der Frau zu begegnen, für die du ein solches Opfer bringen willst. Obilee hat mir von ihr erzählt.«

»Bist du enttäuscht?«

Yulivee schüttelte den Kopf. »Nein. Du wirst immer mein Bruder sein. Ich würde niemals erwarten, dass du die Liebe zu Noroelle meinetwegen aufgibst. Ich bin so froh, dass ihr den Devanthar besiegt habt und dass ich dich noch einmal sehen darf. Ich hatte solche Angst um dich.« Sie fiel ihm in die Arme. »Jetzt bin ich glücklich.«

»Wird es dir sehr wehtun, wenn ich Albenmark hinter mir lasse?«, fragte er sie leise.

Die Zauberin löste den Kopf von seiner Schulter und schaute ihn mit großen Augen an. Er strich ihr über die Wange, und schon entfaltete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht, das ihn an das des Kindes erinnerte, das er in Iskendria in seine Obhut genommen hatte. »Nein«, antwortete sie. »Wir hatten unsere Zeit miteinander. Unsere Reise von Iskendria bis hierher war das Schönste, was ich je erlebt habe.« Sie küsste ihn auf die Stirn. »Sei stark morgen!« Sanft befreite sie sich aus seiner Umarmung. »Ich muss nun in den Großen Wald zurück«, sagte sie und ging.

Nuramon blickte ihr nach. Er hatte so viel verpasst! Aus dem kleinen Mädchen an seiner Seite war unversehens eine mächtige junge Zauberin geworden. Der Sieg über den Devanthar hatte einen hohen Preis gehabt.

Obilee trat an seine Seite. »Sie hat dich sehr vermisst.«

»Für mich ist das alles schwer zu begreifen … Bei dir war es damals ähnlich. Du warst ein Mädchen, als wir mit der Elfenjagd auszogen. Als Frau hast du uns hier erwartet und Noroelles Worte gesprochen … Und hier habe ich Noroelle zum ersten Mal berührt.«

»Sie erzählte es mir in jener Nacht.« Obilee machte ein trauriges Gesicht. »Sie schwärmte so von dir und Farodin.«

»Du siehst mich so betrübt an. Hat die Königin dir nicht gesagt, dass Hoffnung besteht, solange wir morgen die Schlacht gewinnen?«

»Für wen besteht Hoffnung, Nuramon?«

»Natürlich für Noroelle.«

Obilee nickte. »Die Königin hat mir alles gesagt. Und ich weiß es schon seit Jahren. Sie sagte mir, wie weit sie gehen würde, damit diese Hoffnung nicht versiegt.«

»Wieso bist du dann so traurig?«

»Du weißt es nicht, Nuramon? Hast du es denn nie bemerkt?«

Im ersten Augenblick verstand Nuramon nicht, doch die gequälte Miene, die funkelnden Augen und die bebenden Lippen verrieten ihm, was Obilee bewegte. Sie liebte ihn! Verlegen wich er ihrem Blick aus. »Ich Narr!«, sagte er leise. »Verzeih mir!«

»Weswegen? Du gehst in großen Schritten durch die Jahrhunderte. Für dich bin ich noch das Mädchen, das von Noroelle vor die Königin geführt wurde.«

»Nein. Bei der Seeschlacht erkannte ich, dass du eine Frau bist. Doch seit wann …?« Er zögerte, die Frage ganz zu stellen.

»Mein Gefühl zu dir wuchs aus einer Zuneigung, die ich schon verspürte, als Noroelle mit mir über dich und Farodin sprach. Du warst mein Liebling. Und je länger ihr fort wart, desto größer wurde meine Zuneigung. Erinnerst du dich an eure Abreise, damals, als ich dir vom Hügel aus zuwinkte?«

»Ja.«

»Da liebte ich dich bereits.« Sie biss sich auf die Lippen und schien insgeheim auf eine Regung Nuramons zu warten. Dann sprach sie weiter. »Ich wusste von Emerelle, dass du mit deinen Gefährten Großes vollbringen würdest. Und ich durfte euch nicht von eurem Pfad abbringen. Schließlich will auch ich, dass ihr Noroelle rettet. Und es beruhigt mich, dass Hoffnung für sie besteht, gleich, was morgen geschieht. Doch ich weiß auch, dass es für mich keine solche Hoffnung gibt. Selbst dein Tod und deine Wiedergeburt könnten mir diese nicht schenken. Denn Emerelle sagte mir, dass du dich nun an deine früheren Leben erinnerst. Was für ein Schicksal ist das, welches mir zuerst Noroelle nimmt und dann unsere Liebe unmöglich macht? Soll ich denn immer die sein, die zurückstehen muss? Ich habe manchmal das Gefühl, selbst eine Gefangene zu sein. Doch da ist niemand, der mich rettet.« Sie fing an zu weinen, und dieser Anblick schmerzte Nuramon. Obilee wirkte auf einmal so zerbrechlich und nicht wie die starke Kriegerin, die er von der Seeschlacht her kannte.

Behutsam schloss Nuramon sie in die Arme. Er strich ihr durch das Haar und über den Rücken. In ihr Ohr flüsterte er: »Obilee! Wenn wir morgen siegen, dann bricht für Albenmark ein goldenes Zeitalter an. Und ich weiß, dass du dann dein Glück finden wirst, deine Bestimmung. Doch ich bin es nicht. Es liegt nicht an dir, sondern an meiner Liebe zu Noroelle. Du bist bezaubernd, und wüsste ich nichts von Noroelle, dann würde ich deinem Glanz erliegen, deinem goldenen Haar, deinen Augen, so grün wie die See in Alvemer, und deinen lieblichen Lippen. Es wäre einfach zu sagen, dass du für mich nur eine Schwester oder eine Freundin bist. Doch es wäre eine Lüge. Denn ich empfinde mehr für dich als das … Aber noch mehr empfinde ich für Noroelle.«

Sie löste sich von ihm. »Das ist alles, was ich hören wollte, Nuramon. Ich weiß, dass ich neben Noroelle nicht bestehen kann. Ich weiß, dass es keine Hoffnung für meine Liebe gibt. Aber die Gewissheit, dass ich mehr als eine Freundin bin, ist ein Geschenk, das ich mir nicht zu wünschen wagte. Es ist wie ein Augenblick, der nur mir gehört.«

Nuramon fasste Obilees Hände. »Ja, dieser Augenblick ist dein.« Er strich ihr über die Wange und legte wieder die Arme um sie. Dann küsste er ihre Lippen. Er spürte, wie sie sich geradezu in seinen Armen fallen ließ. Sie hatte sich gewiss noch nie einem Mann ausgeliefert. Als er die Lippen von ihr löste, blieb Obilee so nahe vor seinem Gesicht, dass er ihren sanften Atem schmecken konnte. Eine Geste von ihr, ein betörendes Wort, und er könnte der Versuchung nicht widerstehen …

Sie lächelte und biss sich auf die Lippen. »Ich danke dir, Nuramon«, sagte sie leise. Schließlich wich sie vor ihm zurück.

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