Das Mondlicht

Sie warteten auf die Ebbe. Farodin saß an einen Baum gelehnt, Nuramon auf dem Stein, an dem die Königin einst das Stundenglas zerschlagen hatte. Und beide ließen sie die zurückliegenden Jahre an sich vorüberziehen.

Farodin dachte an das letzte Mal, da er Noroelle gesehen hatte. Sie war so ängstlich gewesen und hatte gefürchtet, ihnen könnte etwas geschehen. Wer hätte damals schon geglaubt, dass sie es war, der etwas zustoßen könnte?

Nuramon blickte weit zurück auf die Anfänge seines Daseins, das so viele Leben gesehen hatte. Er erinnerte sich daran, ein Kampfgefährte der Königin gewesen zu sein, der Vater von Gaomee und der Freund Alwerichs und Wengalfs. Doch nichts bedeutete ihm mehr als dieses Leben. So glänzend manche der früheren Ereignisse auch schienen, nichts konnte ihn so sehr berühren wie die letzten Jahre.

Farodin strich mit der Hand über das Stundenglas, das neben ihm ruhte. »Wir waren so wenige Jahre unterwegs, und doch erscheint es mir wie eine Ewigkeit«, sagte er leise.

Nuramon lächelte. »Ich habe fünfzig Jahre auf dich und Mandred gewartet. Für mich war es eine viel längere Zeit, als du glaubst.«

»Mandred!«, sprach Farodin und ließ den Blick ins Leere fahren. »Ob die Königin Recht hat mit ihrer Vermutung?«

»Ich glaube, Mandreds Seele ist wie die eines Baumes ins Mondlicht gegangen. Ich wünschte, er wäre hier, am Ende unseres Weges. Ich vermisse ihn … und sein loses Mundwerk.« Nuramon würde nie vergessen, wie Mandred seinen Sohn Alfadas mit Axtübungen gequält hatte oder wie er in Iskendria den Weinkeller in Beschlag genommen hatte.

Nuramon seufzte und starrte ins Wasser. »Ich habe Angst. Was wird uns drüben erwarten?«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Farodin. »Ich kann nur hoffen, dass Noroelle nicht zu sehr gelitten hat, sondern ihr wundervolles Wesen den Ort jenseits des Tores zum Blühen gebracht hat.« Er hatte sich manches Mal ausgemalt, wie Noroelle wohl in ihrer kleinen Scherbe der Zerbrochenen Welt lebte. Gewiss wartete sie nicht auf sie, sondern hatte sich mit ihrer Lage abgefunden.

Nuramon starrte auf die Muscheln und dachte an das letzte Mal, da sie beide dort gestanden hatten. Sie waren jämmerlich an der Macht der Barriere gescheitert. Nun aber würde sie nichts mehr aufhalten.

»Es ist Ebbe!«, sagte Farodin und erhob sich.

Nuramon nickte und stand ebenfalls auf.

Sie gingen über den welligen Sand zu den Muscheln und verharrten dort lange. Nun, da sie so weit gekommen waren, hatten sie es nicht eilig, den Zauber zu wirken. Für Noroelle waren mehr als tausend Jahre vergangen. Was bedeutete da dieser eine Augenblick der Ruhe!

Schließlich tauschten die beiden Elfen einen Blick und machten sich ans Werk. Farodin legte das Stundenglas in den Muschelkreis. Dann fragte er: »Du oder ich?«

Nuramon reichte Farodin als Antwort seine Hand.

Farodin nickte. Sie würden das Tor gemeinsam öffnen.

Sie schlossen die Augen, und jeder sah auf seine Weise den Albenstern. Der Pfad nach Albenmark war für immer erloschen. Als sie den Zauber woben, spürten sie, dass Emerelles Barriere verschwunden war. Sie hatten so oft Tore geöffnet, dass es ihnen nicht schwer fiel, auch dieses aufzutun. Doch es war nicht das Gleiche. Nur um dieses eine Tor war es ihnen in all den zurückliegenden Jahren gegangen. Endlich gab es nichts mehr, was sie von ihrer Liebsten trennte.

Als sie die Augen öffneten, sahen sie das Lichttor vor sich. Und wieder zögerten sie beide.

Nuramon schüttelte den Kopf. »So ein schwieriger Weg, und nun soll es nur einen Schritt kosten, und wir haben unser Ziel erreicht?«

Farodin fühlte dasselbe. »Lass uns Seite an Seite gehen… Freund.«

»Ja … Freund«, entgegnete Nuramon.

Gemeinsam schritten sie durch das Tor und hatten das Gefühl zu fallen. Dann aber spürten sie unter den Füßen den welligen Meeresgrund. Doch statt im Wasser standen sie im knöcheltiefen Nebel. Vor ihnen lag eine grüne Insel, die von dem Nebelmeer umgeben war, das weit in der Finsternis verschwamm. Auf der Insel war ein Wald, dessen Bäume mit Moos überwuchert waren. Leises Vogelgezwitscher drang bis ins Watt. Ein grünliches Licht lag über dem Wald, das wie ein dünner Schleier unter den Baumwipfeln im Wind zu schweben schien.

Langsam näherten sich Farodin und Nuramon der Insel. Ihre Schritte plätscherten auf feuchtem Boden.

Nuramon atmete tief ein. »Dieser Duft!«

Farodin wusste sogleich, was Nuramon meinte. Es duftete wie an Noroelles Quelle. »Sie ist hier!«, sagte er.

Kaum hatten sie die Füße auf den Sand des Strandes gesetzt, da vernahmen sie eine Stimme, die ein verträumtes, melancholisches Lied sang. Es war Noroelles Stimme! Wie oft hatten sie des Nachts unter freiem Himmel im Gras gesessen und dem Gesang ihrer Liebsten gelauscht.

Obwohl sie Noroelle in der Nähe wussten, gingen sie nicht schneller, sondern taten bedächtig Schritt um Schritt und sahen sich dabei um. Sie hatten zwar Vögel gehört, doch sehen konnten sie keine. Aus dem grünen Licht über ihnen senkten sich hauchdünne Nebelschwaden und verliehen dem Wald eine Aura des Geheimnisvollen. Die Bäume hier standen so dicht beieinander, dass ihre Wurzeln sich verschränkten. Knorrig ragten sie aus dem Erdreich hervor.

Sie kamen dem Gesang immer näher. Als sie schließlich an den Rand einer kleinen Lichtung traten, erstarrten sie in der Bewegung. Dort vor ihnen saß Noroelle auf einem weißen Stein. Sie wandte ihnen den Rücken zu und schien in den kleinen Teich zu ihren Füßen zu schauen. Ihr dunkles Haar fiel ihr weit über die Schultern. Es war gewachsen, seit Farodin und Nuramon sie zuletzt gesehen hatten.

Farodin war gebannt. In seinen Ohren hatte sich der Gesang verändert. Zwar war ihre Stimme noch die gleiche, doch sang sie die Melodie, wie Aileen es gern getan hatte, wenn sie sich allein wähnte. Sie sang ein paar Verse und summte dann nur noch die Melodie.

Endlich waren sie angekommen. Allein dieser Augenblick war ihnen all die Mühen und Nöte wert. Farodin fiel die Last eines ganzen Lebens von den Schultern.

Nuramon war es, der es wagte, das Wort an Noroelle zu richten. Er sprach: »_O schau nur, holdes Albenkind!_«

Noroelle fuhr zusammen. Eine Stimme, die sie nicht herbeigezaubert hatte? Sie lauschte, aber da kam nichts weiter. Doch dann spürte sie, dass da jemand war. Sie erhob sich. Und als sie sich umwandte, traute sie ihren Augen nicht. »Bei allen Alben! Ist das ein Trugbild? Ein Zauber meiner Sehnsucht? O süße Sehnsucht! Welch ein Geschenk!«

Farodin und Nuramon traf es wie ein Blitz, das wunderschöne Antlitz ihrer Geliebten wiederzusehen. Sie hatte sich nicht verändert. Sie sah noch aus wie an jenem Tag, da sie sich von ihr hatten trennen müssen, um auf die Jagd nach dem Manneber zu gehen. Sie trug ein weißes Kleid und um den Hals eine Kette aus geflochtenem Gras, in die ein Aquamarin eingefasst war.

»Du irrst dich, Noroelle«, sagte Farodin mit weicher Stimme. »Wir sind es selbst!«

»Wir sind gekommen, um dich zu befreien«, setzte Nuramon nach.

Noroelle schüttelte ungläubig den Kopf. Das war nicht möglich! Die Königin hatte ihr vor all den Jahren klar gemacht, dass es keine Hoffnung gab. Und nun sollten ihre Liebsten doch einen Weg zu ihr gefunden haben? Ängstlich näherte sie sich den beiden, dann hielt sie inne und starrte die beiden lange an, ehe sie die zitternden Hände nach ihnen ausstreckte. Sie fuhr ihnen übers Gesicht und hielt dabei den Atem an. Ihr Blick wanderte zwischen ihren Händen hin und her. Sie konnte einfach nicht glauben, dass sie wahrhaftig die Gesichter ihrer Liebsten berührte. Sie strich Nuramon durch die einzelne weiße Strähne in seinem Haar. Er hatte sich verändert. Farodin aber sah genauso aus wie damals.

»Was habt ihr auf euch genommen, um hierher zu gelangen?« Sie ließ von ihren Liebsten ab und wich einen Schritt zurück. »Welche Schrecken habt ihr hinter euch gelassen, um mich zu retten?« Sie begann zu weinen.

Nuramon und Farodin fassten ihre Hände, wagten es aber nicht, etwas zu sagen. Sie schauten Noroelle nur an, und es schmerzte sie, ihre Tränen fließen zu sehen.

»Verzeiht«, sagte die Elfe. »Ihr seid zu mir gekommen, und ich weine, als wäre es ein Verhängnis.« Sie lächelte gequält. »Aber versteht, dass ich nie und nimmer …«

Nuramon legte sanft einen Finger auf ihren Mund. »Wir verstehen dich, Noroelle!«

Sie küsste Nuramons Hand und danach auch die Farodins. Dann lächelte sie befreit. »Führt mich hinaus in die Andere Welt, meine Liebsten! Bringt es zu Ende!«

Farodin und Nuramon nahmen Noroelle in die Mitte und schritten langsam durch den Wald.

Plötzlich blieb Nuramon stehen.

»Was ist mit dir?«, fragte Farodin.

Nuramon schaute Noroelle in die Augen. »Unsere Suche ist am Ende.« Langsam zog er das Schwert der Gaomee. »Diese Waffe trage ich seit jener Nacht vor dem Auszug der Elfenjagd. Sie hat mich unsere ganze lange Reise begleitet. Doch nun beginnt ein neuer Weg.« Er stieß die Waffe in den Boden. Dann kehrte er an die Seite von Noroelle und Farodin zurück, und sie gingen weiter, dem Albenstern entgegen.

Noroelles Blick wanderte zwischen ihren beiden Liebsten hin und her. So viel Zeit war vergangen, und doch erschien es ihr so, als hätten sie alle drei vor kurzem noch an ihrem See im Schatten der Linden gesessen.

Nuramon konnte sein Glück kaum fassen. Seine Liebste nach all den Jahren wieder zu berühren, ihre Stimme zu hören, ihr Antlitz zu sehen und ihren Duft zu atmen! Auch wenn er fest daran geglaubt hatte, eines Tages hier zu sein und genau das erleben zu dürfen, was nun geschah, war ihm plötzlich so, als könnte dies nur ein Traum sein.

Farodin musste daran denken, wie unterschiedlich er und Noroelle die Zeit erlebt hatten. Für ihn waren nur wenige Jahre vergangen, für Noroelle Jahrhunderte. Es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie sich verändert hätte. Doch zu seiner Überraschung hatte er das Gefühl, dass sie noch immer dieselbe war wie damals beim Abschied vor der Elfenjagd.

Sie verließen die Insel, schritten durch das Nebelmeer und erreichten den Albenstern. Nuramon und Farodin wollten gerade das Tor wieder öffnen, da hielt Noroelle ihn zurück. »Lasst mich diesen Zauber sprechen.« Sie erinnerte sich an das letzte Mal, dass sie es getan hatte. Damals war sie mit ihrem Sohn in die Menschenwelt geflohen.

Farodin und Nuramon traten zurück und betrachteten ihre Liebste. Die Fauneneiche hatte ihnen viel von den Künsten Noroelles erzählt.

Sie schaute auf. Eine Sonne gab es hier nicht. Sie war auf sich allein gestellt. So schloss sie die Augen, sah die Albenpfade und ließ ihre eigene Zauberkraft in deren Strom einfließen. Sie konnte spüren, wie sich die Magie auf den Pfaden in der Umgebung verbreitete. Dann schlug Noroelle die Augen auf und lächelte.

Farodin und Nuramon waren verwundert, als sie merkten, wie alles um sie herum sich wandelte. Es wurde heller, der Nebel schwand, und der Boden verformte sich leicht. In der Ferne drangen die Wälder und die Berge aus der Finsternis, und die Insel im grünen Licht verwandelte sich in die Insel der Menschenwelt. Der Himmel wurde dunkelblau. Es dämmerte, und die Sterne gingen auf. Nuramon und Farodin standen da und staunten. So mächtig war der Torzauber ihrer Liebsten!

Noroelle atmete die Luft tief ein. »Es ist wunderschön.« Sie sah das Stundenglas, das im Muschelkreis stand, nahm es auf und ging voraus zur Insel. Am Stein blieb sie stehen und schaute zum Albenstern zurück. »Hier stand die Königin, als sie das Tor öffnete und mich fortschickte.« Sie zerschlug das Stundenglas an dem Stein. Das Glas zerbrach, und der Sand verteilte sich. »Nun schließt sich auch dieser Kreis.« Sie deutete zum Wald. »Dort auf der kleinen Lichtung hat Emerelle mir gesagt, dass ich jede Hoffnung vergessen soll. Ich würde alles verlieren, selbst das Mondlicht. Und sie hat es so liebevoll gesagt, als wäre nicht sie es, die das Urteil über mich sprach. Lasst uns dort hingehen!« Sie schritt voran. Ihre Liebsten nahmen die Taschen auf, die am Waldrand lagen, und folgten ihr.

Sie erreichten die Lichtung auf der anderen Seite der Insel. Hier hatten Farodin und Nuramon mit ihren Gefährten vor langer Zeit ein Lager aufgeschlagen. Nichts erinnerte mehr daran.

»Lasst uns hier sitzen«, sagte Noroelle. Sie fasste ihre Liebsten bei den Händen, und gemeinsam ließen sie sich im hohen Gras nieder. »Erzählt mir alles, was ihr erlebt habt. Alles. Ich möchte es wissen.«

Nuramon holte zwei Barinsteine aus seiner Tasche, die ihm Wengalf letzte Nacht geschenkt hatte, und legte sie ins Gras. Er sah Farodin fragend an, und dieser nickte. Dann begann er mit den Worten: »Als wir durch das Tor bei Atta Aikhjarto schritten und in die Andere Welt kamen, da erkannte ich, wie sehr sich diese Gefilde von unserer Heimat unterscheiden. Die Luft war trübe, und die Dinge schienen auf den ersten Blick nicht zueinander zu passen. Wir fanden die Spur des Mannebers, und als die Nacht kam, da lagerten wir in einem Wald. Und dort begann das Verhängnis …«

Farodin lauschte den Worten Nuramons und wurde ganz in ihren Bann geschlagen. Sein Gefährte besaß eine Erzählstimme, die mit keiner anderen zu vergleichen war. Er beneidete ihn ein wenig darum. Nuramon schreckte nicht davor zurück, Noroelle die Geschehnisse und Gräuel jener Nacht in allen Einzelheiten zu beschreiben. In Noroelles Gesicht konnte Farodin lesen, wie nahe ihr die Erzählung ging. Sie umfasste den Aquamarin, den sie an der geflochtenen Kette trug, und immer wieder stockte ihr der Atem. Die Erzählung von Farodins Heilung durch Nuramons Hände ließ sie zittern. Und Farodin spürte, wie sehr sein Herz klopfte. Er hatte diese Geschichte so noch nie aus dem Munde seines Gefährten vernommen. Als er von der Rückkehr nach Albenmark sprach und von Obilee und ihrem Empfang auf der Terrasse, fragte Nuramon, wie Farodin diesen Moment wahrgenommen hatte. Und fortan wurde ihre Geschichte ein Wechselspiel zwischen den beiden Gefährten.

Noroelle hing an jedem Wort, das ihre Liebsten sprachen. Sie lösten einander bald so harmonisch ab, als hätten sie in den letzten Jahrhunderten Tag für Tag ein großes Epos gelernt. Wenn sie von den Leiden erzählten, standen ihr die Tränen in den Augen. Wenn sie von den Eskapaden Mandreds erzählten, da musste sie lachen, selbst wenn sie derb waren und ihre Geliebten Wörter in den Mund nahmen, die sie früher wohl schockiert hätten. Sie erzählten bis spät in die Nacht hinein.

Nuramon endete mit den Worten: »Die Königin sagte uns, wir drei wären die letzten Albenkinder in der Anderen Welt. Dann schritten wir durch das Tor. Der Pfad nach Albenmark löste sich auf, und mit dem Schritt in die Zerbrochene Welt endete unsere Suche. Und das ist die Geschichte von Noroelle der Zauberin, von Farodin dem großen Recken, von Nuramon der alten Seele und von Mandred Torgridson, dem Menschensohn.«

Sie schwiegen lange und sahen einander an.

Noroelle wünschte sich, dieser Augenblick könne ewig währen. Sie ließ die Geschehnisse, die ihre Liebsten geschildert hatten, noch einmal an sich vorüberziehen. »Ich wünschte, ich könnte Mandred danken! Ich habe ihn nur so kurz gesehen, aber eure Worte haben ihn auch zu meinem Gefährten gemacht. Vielleicht steht den Menschen das Mondlicht tatsächlich offen. Und ihr, meine beiden, ihr habt mehr getan, als irgendwer von euch erwarten konnte. Ich gab euch die Steine, um euch vor dem Devanthar zu schützen. Nie und nimmer hätte ich erwartet, dass ihr nach mir suchen und mich befreien würdet.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Ich freue mich für euch, denn ihr werdet in Albenmark auf immer Helden sein. Besonders für dich freue ich mich, Nuramon. Du hast deine Erinnerung gefunden, und nun weißt du, was ich immer gespürt habe: dass du mehr bist, als du scheinst. In all den Jahren in meiner kleinen Welt habe ich gelernt, in mich hineinzublicken. Und auch ich bin mehr, als ich scheine. Denn auch ich trage die Seele einer gestorbenen Elfe in mir.«

Damit hatte Nuramon nicht gerechnet. »Auch du erinnerst dich an deine früheren Leben?«

»Ja. Früher hieß ich Aileen. Wie so viele starb ich in den Trollkriegen bei der Shalyn Falah. Dolgrim, der Herzog der Trolle, hat mich einst erschlagen.«

Farodin wich den Blicken Noroelles aus. Seine Liebste erinnerte sich an ihr früheres Leben! Dann musste sie sich auch an ihn erinnern.

Noroelle strich Farodin über die Wange. »Warum hast du es mir nicht gesagt? Warum hast du nicht gesagt, dass ich die Seele Aileens in mir trage?«

»Ich wollte nicht, dass du mich wegen einer alten Verpflichtung liebst.«

»Dann hast du aus dem richtigen Grund geschwiegen… Ich habe dir damals die ewige Liebe versprochen. Doch ich war Aileen, und als Noroelle habe ich euch beiden neue Versprechen gegeben. Ich habe euch gesagt, dass ich meine Entscheidung treffen würde, wenn ihr von der Elfenjagd zurückkehrt. Und dann habe ich sie offen gelassen, weil ich dachte, ich würde euch nie wiedersehen. Ich wünschte, ich könnte euch beide wählen. Und nun, da wir die einzigen Albenkinder in dieser Welt sind, wäre das gewiss ein kluger Pfad. Doch mir ist offenbar geworden, wem mein Herz gehört und was geschehen wird, wenn ich mich zu ihm bekenne.«

Farodin wurde unruhig. Sie hatten sich so lange um Noroelle gesorgt, dass ihre Entscheidung für eine Weile unwichtig geworden war. Doch nun kehrten sie auf ihrem Pfad dorthin zurück, wo sie damals am Beginn der Elfenjagd gestanden hatten. Und es gab jetzt keine Geheimnisse mehr zwischen ihnen. Nun würde sich entscheiden, ob seine Suche nach Aileen und dann die Suche nach Noroelle, ja, ob sein ganzes Leben Früchte trug.

Nuramon war noch immer überrascht, dass Farodin Noroelle als Aileen kannte. Er musste an den Streit in Iskendria denken, wo er Farodin viele Vorwürfe gemacht hatte, weil er sich Noroelle lange Zeit nicht hatte offenbaren können. Nun verstand er, warum sein Gefährte es so gehalten hatte.

»Ich sehe, wie sehr euch meine Worte aufwühlen«, sagte Noroelle. »Ihr beide hättet eine erfüllte Liebe verdient. Wer wäre jemals so weit gegangen wie ihr? Welche Minneherrin hat jemals einen solchen Dienst empfangen? Doch ich kann nicht aus Dankbarkeit lieben.« Sie fasste Farodins Hand. »Du bist der Mann, den ich einst liebte, als ich Aileen war. Du warst alles, wonach ich mich damals sehnte. Doch ich bin schon seit langem Noroelle. Und Noroelle ist viel mehr, als Aileen einst war. Betrachte mich wie eine Elfe, die sich über die Jahrhunderte verändert hat und nicht dieselbe geblieben ist. Selbst du hast dich verändert, seit wir uns bei der Elfenjagd verabschiedeten. Du versteckst deine Gefühle nicht mehr.« Nun nahm sie Nuramon bei der Hand. »Und du bist gewachsen, wie ich es mir immer gewünscht habe. Wie ich selbst bist du so viel mehr als damals. Ich kann begreifen, wie du dich fühltest, als die Erinnerung emporkam … Die Frage ist: Waren Farodin und ich damals füreinander bestimmt? Oder hatten wir bereits unsere Zeit? Und war Aileen die Liebste Farodins, und ist Noroelle die Liebste Nuramons? Ich kenne die Antwort. Nach all diesen Jahren, die für mich vergangen sind, sollt ihr sie hören.«

Sie schaute sich auf der Lichtung um. »Hier hat mir die Königin offenbart, dass einer von euch mein Schicksal ist. Sie sagte mir: _Wen auch immer du gewählt hättest, mit ihm wärst du ins Mondlicht gegangen. Doch dies wird nun nimmermehr geschehen_. Ich weiß nicht, ob die Königin damals schon wusste, wie es enden würde. Doch nun seid ihr hier, und das, was mir verwehrt schien, kann nun geschehen. Ich habe meine schwere Wahl getroffen. Du bist es …«

Sie blickte Farodin an, und dieser wusste nicht, ob das gut oder schlecht war. _Du bist es!_ War er nun derjenige, den sie erwählt hatte, oder der, den sie abwies? Sein Herz pochte.

»Wir waren füreinander bestimmt, vom ersten Tag an«, setzte Noroelle nach. »Wir werden Hand in Hand ins Mondlicht gehen.«

Eine schwere Last fiel von Farodin ab. Dies war der Augenblick, auf den er sein Leben lang gewartet hatte. Ihm kamen die Tränen. Er schaute zu Nuramon und sah den leeren Blick seines Gefährten.

Noroelles Worte hallten in Nuramons Gedanken nach. Sie würde mit Farodin ins Mondlicht gehen? Und er würde hier allein zurückbleiben, auf immer von Albenmark getrennt? Er würde gefangen sein in einer riesigen Welt. Seine Gefühle übermannten ihn. Verzweiflung und Angst trieben ihm die Tränen in die Augen.

Noroelle trat zu ihm und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Es tut mir Leid, Nuramon«, sagte sie leise.

Es fiel ihm schwer, sie anzuschauen. Als er aber aufblickte und in ihre blauen Augen sah, kehrten all die Erinnerungen an die Tage an ihrem See zurück. Er hatte zwanzig Jahre mit ihrer Zuneigung gelebt, und er hatte seine Liebste gemeinsam mit Farodin gerettet.

Noroelle wischte ihm die Tränen fort. »Ich bin nicht dein Schicksal, Nuramon. Ich bin nicht dein Weg ins Mondlicht. Ich liebe dich, wie ich Farodin liebe. Doch du bist nicht meine Bestimmung. Und es schmerzt mich zu wissen, dass du diesen ganzen Weg auf dich genommen hast, um am Ende allein dazustehen. Du hast mir von Obilee erzählt. Und ich danke dir für den Augenblick, den du ihr geschenkt hast, und für die süßen Worte, die du für sie gefunden hast. Es ist wie ein Dolch in meinem Herzen, zu wissen, wie sehr sie dich liebt und vermisst. Nun trennen euch Welten, die nie wieder zusammenfinden werden. Und das alles meinetwegen! Das kann ich nie wieder gutmachen.«

Nuramon strich Noroelle durchs Haar. »Das hast du bereits getan. Allein dich noch einmal sehen zu dürfen war alles wert, was ich durchlebt habe.«

»Du musst auf dem Pfad gehen, der nur dir bestimmt ist. Schau in dich hinein! Dann wirst du sehen, dass es dein Schicksal ist, durch die Jahrhunderte zu wandern. Nicht wir drei sind die letzten Albenkinder in dieser Welt, sondern du wirst es sein.«

Sie küsste ihn und streichelte ihm über die Wangen. Dann hauchte sie: »Bald werde ich nur noch Erinnerung sein, genau wie alles andere.« Sie küsste ihn erneut. »Ich liebe dich. Vergiss das nie, Nuramon!«

Sie löste sich von ihm und wandte sich an Farodin. »Du hast so lange auf mich gewartet«, sagte sie. »Und nun bin ich erwacht und erinnere mich an alles, was einst gewesen ist.« Sie schaute auf. »Da! Das Ende ist nahe! Der Mond scheint hell! Und ich spüre, wie er uns ruft, Farodin. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Komm!« Sie fasste ihn bei den Händen und zog ihn auf die Beine.

Nuramon erhob sich ebenfalls. Nun wusste er, wie sich Obilee gefühlt hatte. Auch er hatte ihr gesagt, sie sei nicht seine Bestimmung. Und sie hatte ihn gehen lassen. Das Gleiche musste er nun tun.

Farodin trat mit Schuldgefühlen vor Nuramon. Obwohl er am Ziel seines Lebens war, schmerzte es ihn, seinen Freund so traurig zu sehen und einsam zu wissen. »Ich wünschte, es müsste nicht hier und jetzt enden. Ich wünschte, wir hätten ein Jahrhundert, in dem wir drei dieses Land dort draußen erkunden könnten.«

»Schau dir Noroelle an«, entgegnete Nuramon. »Und dann sage mir, dass du dir irgendetwas anderes wünschst als das, was euch bevorsteht.«

»Du hast Recht. Doch ich werde dich vermissen.«

Nuramon reichte Farodin die Hand zum Kriegergruß.

Farodin schlug ein. »Leb wohl, Nuramon! Denk immer daran, was uns verband.«

»Ich werde es niemals vergessen«, erwiderte er.

»Wir werden uns einst im Mondlicht sehen. Da werden Noroelle und ich auf dich warten. Und ich hoffe, Mandred ist bereits dort.«

Nuramon musste schmunzeln. »Wenn es so ist, dann sage ihm, dass seine Tat die Firnstayner zu Albenkindern machte.«

Sie umarmten sich.

Dann kam Noroelle und schloss ihrerseits Nuramon in die Arme. »_Eine Reise endet hier, eine neue beginnt_. Für uns alle! Leb wohl, Nuramon!«

Noroelle und Farodin küssten sich, und Nuramon bemerkte, wie sich etwas veränderte. Er wich zurück und betrachtete seinen Freund und seine Liebste. Sie umfingen und küssten einander. Und wie er sie betrachtete, wurde ihm klar, dass Noroelle Recht hatte. Farodin war die richtige Wahl. Fast war es ihm, als erwachte er aus einem langen, süßen Traum.

Blütenduft wehte über die Lichtung. Nuramon sah, wie sich Silberschein verbreitete und Farodin und Noroelle umhüllte. Sie lächelten ihm entgegen und wirkten wie Lichtgestalten, wie höhere Wesen, wie Alben. Dann vergingen sie mit allem, was sie am Leib trugen. Sie verblassten einfach vor dieser Welt; ebenso, wie Albenmark vor seinen Augen verblasst war. Zurück blieb nur er.

Er war nun allein. Und doch konnte er nicht weinen. Noroelle hatte ihm die Trauer genommen. Zu wissen, dass sie ihre Bestimmung gefunden hatte, beruhigte ihn. Dass sie sich für Farodin entschieden hatte, schmerzte nun weit weniger als zuvor.

Nuramon schaute zum Vollmond hinauf. Ob es wirklich das Mondlicht war? Ob die Toten wirklich dort oben lebten?

Bis zum Morgen stand er da und folgte der leuchtenden Scheibe mit dem Blick. »Ich werde das Mondlicht nie vergessen«, sprach er leise vor sich hin. Als die Dämmerung kam, nahm er seine Sachen und ging zum Stein, an dem Noroelle das Stundenglas zerschlagen hatte, und setzte sich. Die Flut war während der Erzählung der Nacht gekommen und hatte Scherben und Sandkörner fortgespült. Schon näherte sich wieder die Ebbe.

Er musste an Noroelles Worte denken: »Eine Reise endet hier, eine neue beginnt.« Ja, für ihn begann nun wirklich etwas Neues. Er war der Letzte, der letzte Elf dieser Welt, das letzte Albenkind. Dort jenseits des Wassers lag ein fremdes Land, das es zu erkunden galt. Dort herrschte noch nicht der Schwefelgeruch. Und vielleicht würde der Glauben an Tjured niemals bis dorthin vordringen. Dort gab es neue Wege, neue Erfahrungen und neue Erinnerung zu finden. Die Unendlichkeit lag vor ihm, doch ewig würde er sich an Noroelle und Farodin, an Obilee und Yulivee, an Mandred und Alwerich, an Emerelle und all die anderen erinnern. Und nie würde er Albenmark vergessen.

Als die Ebbe zurückkehrte, schritt er über den welligen Boden dem Festland entgegen. Und er betrachtete die Landschaft, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen. Diese Welt würde niemals aufhören, ihn zu faszinieren.

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