Farodin und Nuramon schwiegen auf dem Weg zur Terrasse. Jeder war in seine Gedanken versunken. Nach all den Strapazen der letzten Tage fieberten sie danach, ihre Geliebte wiederzusehen und ihre Entscheidung zu hören. Farodin musste an all die Jahre denken, die er um Noroelle geworben hatte, während Nuramon sich auf den Augenblick freute, da er Noroelle sagen konnte, dass er sein Versprechen gehalten hatte.
Als sie durch das Tor in die Nacht hinaustraten, waren sie verwundert. Denn auf der Terrasse stand nicht Noroelle. Dort wartete eine blonde Elfe in einem hellgrauen Kleid und wandte ihnen den Rücken zu. Ihr Kopf war erhoben, sie schien zum Mond hinaufzublicken.
Zögernd näherten sie sich ihr. Die Elfe drehte den Kopf halb und schien zu lauschen. Dann seufzte sie und wandte sich um.
Nuramon erkannte sie sogleich. »Obilee!«
Farodin war verblüfft und erschrocken zugleich. Gewiss, sie wussten, dass sowohl in der Welt der Menschen als auch hier in Albenmark fast dreißig Jahre vergangen waren. Aber erst der Anblick Obilees machte ihm klar, was dies bedeutete.
»Obilee!«, sagte Nuramon noch einmal und musterte die Elfe, deren Lächeln nicht über die Schwermut in ihren Augen hinwegtäuschen konnte. »Du bist eine wunderschöne Frau geworden. Ganz so, wie Noroelle es gesagt hat.«
Farodin sah das Abbild der großen Danee vor sich. Früher hatte es nicht mehr als eine vage Ähnlichkeit gegeben, aber nun war sie kaum von ihrer Urgroßmutter zu unterscheiden. Zum ersten Mal hatte er Danee bei Hofe gesehen. Er war damals noch ein Kind gewesen, doch er erinnerte sich immer noch deutlich an die Ehrfurcht, die ihn erfasst hatte, als ihr Blick ihn gestreift hatte. »Nun sehe ich es auch. Etwas von Danees Aura haftet dir an, ganz so wie Noroelle es immer sagt.«
Obilee nickte. »Noroelle hat Recht behalten.«
Farodin schaute zum Obstgarten. »Ist sie dort unten?«
Die junge Elfe wich seinem Blick aus. »Nein, sie ist nicht im Obstgarten.« Als sie ihn wieder ansah, standen ihr Tränen in den Augen. »Sie ist nicht mehr hier.«
Farodin und Nuramon tauschten einen verunsicherten Blick. Farodin dachte an die dreißig Jahre, die verstrichen waren. Hatte Noroelle nicht glauben müssen, dass sie tot wären? Hatte sie deshalb den Hof verlassen und sich in die Einsamkeit zurückgezogen?
Nuramon musste an die Stille im Thronsaal denken. Alle dort hatten irgendetwas gewusst. Was konnte geschehen sein, dass Obilee so sehr trauerte? Der Tod war es nicht, denn auf den Tod folgte die Wiedergeburt. Es musste etwas Schmerzvolleres sein, und diese Vorstellung machte Nuramon Angst.
»Noroelle hat es gewusst«, sagte Obilee. »Sie hat gewusst, dass ihr zurückkehren würdet.«
Farodin und Nuramon schwiegen.
»Es sind Jahre vergangen, und ihr tragt noch immer die Sachen, mit denen ihr damals ausgezogen seid …«
»Obilee? Was ist geschehen?«, fragte Farodin geradeheraus.
»Das Schlimmste, Farodin. Das Allerschlimmste.«
Nuramon fing an zu zittern. Er musste an die zurückliegenden Prüfungen denken. Er hatte doch alles getan, um sein Versprechen zu halten!
Da Obilee nicht wagte weiterzusprechen, fragte Farodin: »Hat sich Noroelle von uns abgewendet? Ist sie nach Alvemer zurückgekehrt? Ist sie enttäuscht?«
Obilee machte einen Schritt zurück und holte tief Luft. »Nein … Hört meine Worte! Denn diese sprach Noroelle in der Nacht, in der sie fortging.« Obilee hob den Blick. »_Ich wusste, dass ihr wiederkehren würdet. Und nun seid ihr da und erfahrt, was mir widerfahren ist_.« Sie sprach die Worte so, als wäre sie Noroelle. Jede Gefühlsregung spiegelte sich in der Melodie ihrer Stimme wider. »_Denkt nicht schlecht von mir, wenn ihr nun erfahrt, was ich getan habe und wohin mich mein Schicksal gebracht hat. Kurz nachdem ihr ausgezogen wart, hatte ich einen Traum. Du, Nuramon, hast mich besucht, und wir haben uns geliebt. Ein Jahr später gebar ich einen Sohn. Ich dachte, es wäre dein Kind, Nuramon, aber ich habe mich geirrt. Denn nicht du warst bei mir in jener Nacht, sondern der Devanthar, den ihr in der Anderen Welt gejagt habt_.«
Farodin und Nuramon stockte der Atem. Allein der Gedanke, dass der Devanthar in Noroelles Nähe hatte gelangen können, war ihnen unerträglich.
Farodin musste an den Kampf in der Höhle denken. Der Dämon hatte es ihnen zu leicht gemacht. Nun wusste er, warum. Hatte er vielleicht immer nur einen Weg zu Noroelle gesucht?
Nuramon schüttelte fassungslos den Kopf. Der Devanthar hatte sich seiner Gestalt bedient, um Noroelle zu verführen. Er hatte ihre Liebe ausgenutzt. Sie hatte von ihm geträumt, während der Devanthar sich ihr näherte und sie …
Obilee fasste Nuramons Hand und holte ihn damit aus seinen schmerzvollen Gedanken. »_Nuramon, mach dir keine Vorwürfe. Der Dämon trug dein Gesicht, und ich ließ mich von deinem Antlitz und deinem Körper verführen. Aber denke nicht, dass ich deswegen Verachtung oder Ekel verspüre. Ich liebe dich mehr noch als zuvor. Verachte nicht dich, sondern den Devanthar! Er hat das, was wir füreinander fühlten, gegen uns gewandt. Nur wenn wir zu dem stehen, was wir sind und was wir fühlen, kann seine Tat verblassen. Sie wird unwichtig. Gib nicht dir die Schuld_.« Obilee schaute ihn an, als wartete sie auf eine Reaktion seinerseits. In ihren Augen lag ein Flehen, dem er sich nicht widersetzen konnte. Er atmete tief aus und nickte dann.
Obilee fasste nun Farodins Hand. »_Und du, Farodin, glaube nicht, dass ich meine Wahl schon getroffen hatte. Ich hatte mich nicht insgeheim schon für Nuramon entschieden. Der Dämon ist nicht deshalb zu mir gekommen_.«
»Aber wo bist du, Noroelle?«, fragte Farodin. Er war verwirrt. Für einem Moment war ihm wirklich so, als könnte seine Liebste ihn hören.
Obilee lächelte und legte dabei den Kopf zur Seite, wie Noroelle es oft getan hatte. Ihre Augen aber konnten ihre Trauer nicht verbergen. »_Ich wusste, dass du diese Frage stellen würdest, Farodin. Dieser eine Funke, den du mir in jener Nacht gewährt hast, dieser eine Blick in dein Innerstes, hat ausgereicht, um dich so kennen zu lernen, wie ich es mir immer gewünscht habe. Ich kann in deinem Innern genauso lesen wie in Nuramons Gesicht. Wo bin ich also? Nun, es wird euch schmerzen, das zu vernehmen. Denn ich bin an einem Ort, an dem mich niemand je erreichen kann. Die Königin hat mich für immer aus Albenmark verbannt. Uns trennen nun Barrieren, die ihr nicht überwinden könnt. Mir bleibt nur die Erinnerung; die Erinnerung an die Nacht vor eurem Aufbruch, da ihr mir beide so viel gegeben habt. Du, Farodin, zeigtest mir den Glanz deines Wesens. Und du, Nuramon, berührtest mich zum ersten Mal_.«
Obilee hielt inne, sie schien zu zögern. Schließlich sagte sie: »_Ihr sollt auch erfahren, warum ich verbannt wurde. Das Kind, das ich gebar, hatte runde Ohren, und die Königin erkannte es als Dämonenkind, als Kind des Devanthars. Ich sollte mit meinem Sohn drei Nächte nach der Geburt bei Hofe erscheinen, aber die Königin sandte Dijelon und seine Krieger noch in der Nacht aus, um das Kind zu töten. Ich brachte es in die Andere Welt, an einen Ort, an dem die Königin meinen Sohn nur schwer finden würde. Und als ich vor Emerelle stand, weigerte ich mich, seine Zuflucht zu verraten. Vergebt mir, wenn ihr könnt, denn ich sah nichts Böses in den Augen des Kindes. Nun kennt ihr meinen Makel. Aber er soll nicht eurer sein. Verzeiht mir, dass ich so töricht gehandelt habe_.« Obilee fing an zu weinen, denn auch Noroelle hatte einst die Tränen nicht länger zurückhalten können. »_Bitte erinnert euch an jene schönen Jahre, die wir miteinander verbracht haben. Denn an ihnen war nichts Schlechtes; nichts ist geschehen, was wir bereuen müssten. Was immer auch kommen mag, bitte vergesst mich nicht … Bitte vergesst mich nicht_ …« Obilee konnte ihre Gefühle nicht länger zurückhalten. »Das waren die Worte Noroelles!«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme und vergrub ihr Gesicht an Nuramons Schulter, während dieser Farodin ansah und dessen gefrorene Miene gewahrte. In seinen Zügen fand er keine Träne, keine Regung, kein noch so kleines Zeichen der Trauer. Nuramon selbst konnte kaum fassen, was Obilee gesagt hatte. Es war zu viel, um es auf einmal zu verkraften.
Farodin aber sah in Nuramons Zügen all das, was er im Innersten spürte, all die Tränen und all die Qual. Ihm schien es so, als wären seine Gefühle vom Körper getrennt. Er stand da und wusste nicht, wieso er nicht weinen konnte.
Es dauerte lange, bis Obilee die Fassung wiedergewann. »Verzeiht mir! Ich hatte nicht gedacht, dass es so qualvoll sein würde. All die Jahre trug ich diese Worte in mir; Worte, die Noroelle zu einem Kind sprach und die ihr nun von einer Frau vernahmt.« Obilee wandte sich von den beiden ab und trat zum Rand der Terrasse. Dort nahm sie etwas von der Brüstung und kehrte dann zu ihnen zurück. »Ich habe ein letztes Geschenk von Noroelle für euch.« Sie öffnete die Hände und zeigte ihnen einen Almandin und einen Smaragd. »Es sind Steine aus ihrem See. Sie sollen euch an sie erinnern.«
Farodin nahm den Smaragd und dachte an den See. Noroelle hatte ihm einmal gesagt, die Steine würden unter dem Zauber der Quelle wachsen.
Nuramon tastete nach dem Almandin in Obilees Hand. Er zögerte und strich mit den Fingerspitzen über die glatte Oberfläche des rotbraunen Steins. Er spürte Magie. Es war Noroelles Zauberkraft.
»Ich spüre sie auch«, sagte Obilee. »Auch mir hat sie ein solches Geschenk gemacht.« Die Elfe trug einen Diamanten an einer Kette am Hals.
Nuramon nahm den Almandin in die Hand und fühlte dessen sanfte Magie. Das war alles, was ihm von Noroelle geblieben war: die Wärme und der Zauberhauch dieses Geschenks.
Obilee zog sich zurück. »Ich muss nun fort«, sagte sie. »Verzeiht mir! Ich muss mit mir allein sein.«
Farodin und Nuramon blickten ihr nach, als sie die Terrasse verließ.
»Dreißig Jahre hat sie diesen Schmerz in sich getragen«, sagte Nuramon. »Wenn uns diese wenigen Tage wie eine Ewigkeit vorkamen, dann hat sie tausende von Ewigkeiten durchlebt.«
»Das also ist das Ende«, sprach Farodin. Er konnte es nicht fassen. Alles in seinem Leben war auf Noroelle gerichtet gewesen. Er hatte sich viel vorstellen können: Dass er sterben würde, dass Noroelle Nuramon wählte, aber nie und nimmer hätte er damit gerechnet …
»Das Ende?« Nuramon schien nicht bereit, es hinzunehmen. Nein, dies war nicht das Ende. Es war der Anfang, der Anfang eines unmöglichen Weges. Auch wenn es hieß, dass man sein Schicksal nicht zu oft herausfordern sollte, würde er alles tun, um Noroelle zu finden und zu befreien. »Ich werde mit der Königin sprechen.«
»Sie wird dich nicht anhören.«
»Das werden wir sehen«, erwiderte Nuramon und wollte gehen.
»Warte!«
»Warum? Was habe ich noch zu verlieren? Und du solltest dich fragen, wie weit du für sie zu gehen bereit bist!« Mit diesen Worten verschwand Nuramon in der Burg.
»Bis ans Ende aller Welten«, flüsterte Farodin vor sich hin und dachte an Aileen.