»Sieh dir das an!« Farodin winkte seinen Gefährten herbei. Nuramon zögerte. Er führte Felbion am Zügel, über dessen Sattel sie Mandred gebunden hatten. Der Menschensohn war in tiefe Ohnmacht gesunken. Sein Herz schlug nur noch langsam, und sein Körper war viel zu warm. Höchstens einen Tag noch, hatte Nuramon am Morgen gesagt. Seitdem waren acht Stunden vergangen. Sie mussten Wasser finden, oder Mandred würde sterben. Und auch sie würden diese Hitze nicht mehr lange ertragen können. Nuramons Wangen waren eingefallen, und feine Fältchen hatten sich rings um seine rot entzündeten Augen gebildet. Es war unübersehbar, dass der Kampf um Mandreds Leben ihn an den Rand des eigenen Zusammenbruchs führte.
»Komm schon«, rief Farodin. »Es ist schön und erschreckend zugleich. Wie ein Blick in Emerelles Wasserspiegel.«
Nuramon trat zu ihm; jetzt, wo er an Farodins Seite stand, meinte dieser seine Erschöpfung fast körperlich zu spüren.
»Du musst dich ausruhen!«
Nuramon schüttelte matt den Kopf. »Er braucht mich. Es ist einzig meine Heilkraft, die seinen Tod hinauszögert. Wir müssen Wasser finden. Ich … Ich fürchte, ich kann nicht mehr lange durchhalten. Gehen wir noch auf dem Albenpfad?«
»Ja.« Farodin war die Aufgabe zugefallen, sie über den unsichtbaren Pfad zu führen. Sie hatten ausgelost, welchem der drei Pfade vom Albenstern sie folgen würden. Und seit Nuramon all seine Kraft aufbieten musste, um Mandred am Leben zu halten, war es Farodin, der sich darauf konzentrierte, dass sie nicht vom Pfad abwichen. Er musste irgendwohin führen. Und sei es nur zu einem weiteren Albenstern.
»Was wolltest du mir zeigen?«
Farodin deutete ein Stück voraus auf ein flaches Felsstück, das fast gänzlich im Sand verborgen war. »Dort im Schatten. Meine Spuren weisen dir die Richtung. Siehst du sie?«
Nuramon blinzelte gegen das helle Licht. Dann lächelte er. »Eine Katze. Sie schläft.« Freudig ging er ihr entgegen.
Farodin folgte ihm langsam.
Dicht an den Felsen geschmiegt, lag eine Katze, den Kopf auf die Vorderpfoten gebettet. Ihr Fell war von hellem Ocker und mit Sand verklebt, so wie Mandreds Zöpfe. Sie war ausgezehrt, ihr Leib abgemagert und das Fell ganz zerzaust. Sie schien zu schlafen.
»Siehst du, wo ihr Kopf leicht über den Fels hinausragt?«, fragte Farodin.
Nuramon blieb wie angewurzelt stehen.
Man musste recht nah an die Katze herankommen, um einen Blick auf ihren Hinterkopf zu erhaschen. Er war kahl. Der feine Sand hatte Fell und Fleisch abgetragen und den Schädelknochen poliert, sodass er in strahlendem Weiß leuchtete.
»Wie friedlich sie aussieht«, sagte Nuramon sanft. »Sie hat sich in den Schatten des Felsens gelegt, ist erschöpft eingeschlafen und dann im Schlaf verdurstet.«
Farodin nickte. »So wird es gewesen sein. Die trockene Hitze hat ihren Leib erhalten, und der Fels hat ihn vor dem Flugsand geschützt. Unmöglich zu sagen, ob sie seit Wochen tot ist oder seit Jahren.«
»Das ist der Blick in den Spiegel, meinst du? Unsere Zukunft?«
»Wenn wir nicht sehr bald Wasser finden. Und ich wage es kaum noch zu hoffen. Seit wir durch den Albenstern getreten sind, haben wir kein Tier gesehen, nicht einmal eine Fährte! Nichts, was lebt, verirrt sich in diese Wüste.«
»Die Katze hat gelebt«, entgegnete Nuramon überraschend heftig.
»Das hat sie wohl. Doch hierher zu kommen war ein tödlicher Fehler, wie man sieht. Glaubst du, dass Mandred den nächsten Sonnenaufgang noch erleben wird?«
»Wenn wir Wasser finden …«
»Vielleicht sollten wir eines der Pferde töten und ihm das Blut zu trinken geben.«
»Ich denke, dass besser einer von uns die beiden kräftigsten Pferde nimmt und abwechselnd auf ihnen reitet. Er würde viel schneller vorankommen und könnte Wasser suchen.«
»Und wer sollte das sein?«
Nuramon blickte auf. »Ist das so schwer zu erraten? Ich kühle Mandred mit meiner Heilkraft und halte ihn am Leben. Du könntest das gar nicht. Also werde ich zurückbleiben. Die Pferde werden mindestens noch bis heute Abend durchhalten. Wenn du eine Wasserstelle findest, tränkst du sie, füllst die Wasserschläuche und kommst in der Kühle der Nacht zurück.«
»Und wenn ich bis Sonnenuntergang keine Wasserstelle finde?«
Nuramon sah ihn ausdruckslos an. »Dann hast du noch einen weiteren Tag, um zumindest dein Leben zu retten.« Sein Gefährte sah ihn abschätzend an. »Ein Tag zu Pferd wird deine Kräfte schonen. Ich bin sicher, du wirst noch einen weiteren Tag durchhalten. Nur macht es keinen Sinn, dann noch zu uns zurückzukehren.«
»Ein guter Plan!« Farodin nickte anerkennend. »Mit kühlem Kopf durchdacht. Doch braucht er einen mutigeren Mann, als ich es bin, um durchgeführt zu werden.«
»Einen mutigeren Mann?«
»Glaubst du, ich könnte Noroelle unter die Augen treten und ihr sagen, dass ich zwei meiner Gefährten in der Wüste im Stich ließ, um sie zu finden?«
»Du glaubst also noch, dass du Noroelle auf diese Weise finden kannst?«
»Warum nicht?«, fragte Farodin harsch.
»Wie viele Sandkörner hast du aufgespürt, seit wir in die Welt der Menschen zurückgekehrt sind?«
Farodin reckte herausfordernd das Kinn. »Keines. Ich habe aber auch nicht gesucht. Ich war … Die Hitze. Ich habe meine Zauberkraft gebraucht, um mir ein wenig Kühlung zu verschaffen.«
»Das wird dich wohl kaum deine ganze Kraft gekostet haben.« Nuramon deutete mit weit ausholender Geste zum Horizont. »Dies hier hat dir deine Kraft und deinen Mut genommen. Dieser Anblick. Ich glaube nicht, dass wir zufällig hier sind. Das Schicksal wollte, dass wir begreifen, wie sinnlos unsere Suche ist. Es muss noch einen anderen Weg geben!«
»Und welchen? Ich kann es nicht mehr hören, dein Gerede von einem anderen Weg. Wie sollte dieser Weg denn aussehen?«
»Wie willst du all die verlorenen Sandkörner finden?«
»Mein Zauber trägt sie zu mir. Ich muss nur nahe genug an sie herankommen.«
»Und wie nahe ist das? Hundert Schritt? Eine Meile? Zehn Meilen? Wie lange wird es dauern, bis du die Andere Welt abgesucht hast? Wie willst du dir jemals sicher sein, ob du alle Körner gefunden hast?«
»Je mehr Sandkörner ich finde, desto stärker wird mein Suchzauber.«
Nuramon deutete in die Wüste hinaus. »Sieh dir das an! Ich kenne nicht einmal eine Zahl, mit der man annähernd ausdrücken könnte, wie viele Sandkörner dort sind. Es ist aussichtslos … Und da du offensichtlich die Kraft hast, das Aussichtslose zu versuchen, bist du die richtige Wahl, um hier nach Wasser zu suchen. Wenn es jemand schafft, dann du! Verwende den Suchzauber, um das nächste Wasserloch zu finden!«
Das war genug! »Für wie dumm hältst du mich eigentlich? Es ist eine Sache, etwas so Winziges wie ein ganz bestimmtes Sandkorn inmitten einer Wüste zu finden. Ein Wasserloch aufzuspüren ist unendlich viel einfacher. Glaubst du, ich hätte meine Kräfte noch nicht genutzt, um nach Wasser zu suchen? Warum habe ich dir wohl die tote Katze gezeigt? Das ist unsere Zukunft. Es gibt kein Wasser im Umkreis von mindestens einem Tagesritt. Nur das Wasser in uns. Unser Blut … So einfach ist die Wahrheit. Kurz bevor ich die Katze sah, habe ich es erst versucht. Da ist nichts …«
Nuramon blickte angespannt nach Osten. Er schien ihm nicht einmal zuzuhören!
»Hat die Sonne das letzte bisschen Höflichkeit aus dir herausgebrannt? Sag was! Hörst du mir überhaupt zu?«
Nuramon deutete voraus in die leere Wüste. »Dort. Da ist etwas.«
Eine Windbö trieb einen dünnen Sandschleier auf sie zu. Wie die Meeresbrandung eilte er dahin und brach sich an den wenigen Felsen, die aus dem Sand ragten. Nicht weit entfernt folgte eine zweite, blasse Sandwoge.
»Da! Es ist wieder geschehen!«, rief Nuramon aufgeregt.
»Was?«
»Wir stehen hier auf dem Albenpfad. Pfeilgrade läuft er durch die Wüste. Denke ihn von hier aus weiter geradeaus. Etwas mehr als eine Meile, würde ich schätzen … Beobachte, wie die Sandschleier über ihn hinwegziehen. Dort ist etwas!«
Farodin sah in die angegebene Richtung. Aber dort war nichts! Keine Felsen, keine Düne. Nur Sand. Zweifelnd blickte er Nuramon an. Wurde er verrückt? Brachte ihn die Hoffnungslosigkeit um den Verstand?
»Es ist wieder passiert! Verdammt noch mal … Jetzt schau doch hin!«
»Wir sollten uns ein wenig Schatten suchen«, sagte Farodin beschwichtigend.
»Es kommt ein neuer Sandschleier. Bitte sieh hin!«
»Du …« Farodin traute seinen Augen kaum. Der Sandschleier zerriss. Kaum einen Herzschlag lang, dann war die Lücke wieder geschlossen. Es war, als glitte der Flugsand über einen Felsen hinweg, der den Schleier kurz zerteilte. Nur dass dort kein Felsen war.
Farodins Rechte glitt zum Schwertgriff. »Was ist das?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Eine unsichtbare Kreatur vielleicht?« Wer hätte etwas davon, unsichtbar zu sein? Ein Jäger! Jemand, der auf Beute lauerte! Hatte er sie heimlich beobachtet und wartete nun auf dem Weg, dem sie zu folgen gedachten? Farodin zog blank. Das Schwert fühlte sich ungewöhnlich schwer in seiner Hand an. Die Sonne hatte ihm die Kraft aus den Armen geschmolzen.
Ganz gleich, was da war, sie mussten sich ihm stellen. Jeder Augenblick, den sie zögerten, würde sie nur weitere Kraft kosten. »Ich seh mir das an. Beobachte du, was geschieht.«
»Wäre es nicht besser …«
»Nein!« Ohne sich auf weiteres Gerede einzulassen, schwang sich Farodin in den Sattel. Das Schwert hielt er schräg vor der Brust.
Schon nach wenigen Augenblicken war er heran. Wieder hatte die Wüste ihn getäuscht, ihm eine weitere Entfernung vorgegaukelt. In den hellen Sand war ein Ring aus schwarzen Basaltsteinen gelegt. Sie sahen aus wie große Pflastersteine. Kein Sandkorn lag auf den flachen Steinen. War das ein steinerner Bannkreis? Farodin hatte so etwas nie zuvor gesehen.
Er lenkte sein Pferd um die Steine herum. Die Staubschleier teilten sich, als träfen sie auf eine gläserne Wand, sobald sie den Kreis erreichten. Er bemerkte eine kleine, grob aus Bruchstein geschichtete Pyramide, die etwas abseits des Kreises lag und halb vom Flugsand verweht war. Zuoberst ruhte ein menschlicher Schädel auf den Steinen. Farodin sah sich um und bemerkte noch weitere niedrige Hügel. Bei einem lagen sogar mehrere Schädel. Welch ein Ort war dies? Angespannt sah er sich um. Außer dem Steinring und den Hügeln gab es keine Anzeichen dafür, dass hier einmal Menschen oder Elfen gelebt hatten.
Schließlich stieg Farodin ab. Der Boden war durchtränkt von Magie. Aus allen Richtungen liefen Albenpfade in dem Kreis zusammen. Vorsichtig streckte der Elf die Hand nach der unsichtbaren Barriere aus. Er spürte ein leichtes Kribbeln auf der Haut. Zögernd trat er in den Kreis. Nichts hielt ihn zurück. Offenbar hielt der Bannzauber des Kreises nur den Flugsand fern. Doch wozu die Schädel? Die Steinhaufen passten nicht zur schlichten Eleganz des Ringes. Hatte man sie später errichtet? Sollten sie ein Warnzeichen sein?
Der Kreis, den der Ring aus Basalt umschloss, durchmaß fast zwanzig Schritt; der Ring selbst war kaum einen Schritt breit. In seinem Innern war der Boden sandig und unterschied sich in nichts von der Wüste, die ihn umgab.
Farodin schloss die Augen und versuchte sein Denken ganz auf die Magie der Albenpfade zu lenken. Sechs Wege waren es, die sich innerhalb des Steinkreises kreuzten. Es wäre leicht, hier ein Tor zu öffnen. Und ganz gleich, wohin es sie verschlug, alles war besser als diese Wüste.
Er winkte Nuramon zu; dieser kam mit den beiden Pferden und Mandred.
»Ein Albenstern!«, rief er erleichtert. »Wir sind gerettet. Öffne das Tor!«
»Du kannst das besser.«
Nuramon schüttelte verärgert den Kopf. »Ich bin zu erschöpft. Was glaubst du, wie viel Kraft es kostet, Mandreds Lebensfunken nicht verlöschen zu lassen? Du hast es gelernt! Tu du es!«
Farodin räusperte sich. Er wollte widersprechen, doch dann schwieg er. Fast wünschte er, hier hätte ein unsichtbares Ungeheuer gelauert. Der Weg des Schwertes, das war sein Weg! Die Pfade der Magie waren ihm trotz der Lehrstunden der Fauneneiche fremd geblieben.
Er legte das Schwert in den Sand und setzte sich im Schneidersitz nieder. Sodann versuchte er, alle Gedanken und Ängste hinter sich zu lassen. Er musste seinen Geist leeren, musste eins werden mit der Magie. Ganz langsam entstand vor seinem inneren Auge ein Bild von Lichtpfaden, die sich in der Finsternis kreuzten. Dort, wo sie aufeinander trafen, verzerrten sie sich. Die Linien krümmten sich und formten einen Strudel. Jeder Albenstern unterschied sich durch das Muster der verwobenen Linien in seinem Herzen von allen anderen Sternen. Erfahrenen Zauberern diente dies zur Orientierung.
Farodin stellte sich vor, wie er mit den Händen mitten in die Lichtpfade hineinlangte. Wie ein Gärtner, der Blumenranken hochband, zerrte er sie auseinander, bis ein immer größeres Loch und schließlich ein Tor entstand. Eine dunkle Anziehungskraft ging von dort aus. Dieser Weg führte nicht nach Albenmark.
Verunsichert schlug er die Augen auf. Er blickte zu dem blank polierten Schädel auf dem Steinhaufen. Wovor wollte er warnen?
»Du hast es geschafft.« Der Zweifel, der in seiner Stimme mitschwang, strafte Nuramons Worte Lügen.
Farodin drehte sich um. Hinter ihm war ein Tor entstanden, doch es sah völlig anders aus als jenes, das Nuramon erschaffen hatte. Lichtbänder in allen Regenbogenfarben umflossen eine dunkle Öffnung, die ins Nichts zu führen schien. Eine pfeilgerade Linie aus weißem Licht führte durch die Finsternis, doch sie vermochte das Dunkel, das sie umgab, nicht zu erhellen.
»Ich gehe vor«, sagte Farodin. »Ich …«
»Dieses Tor führt in die Zerbrochene Welt, glaube ich.« Nuramon betrachtete es mit offensichtlichem Unbehagen. »Deshalb sieht es anders aus. Es ist so, wie die Fauneneiche es beschrieben hat.«
Unruhig fuhr sich Farodin mit der Zunge über die Lippen. Er griff nach seinem Schwert und schob es in die Scheide. Mit der flachen Hand klopfte er Sand von den Falten seiner Hose und wurde sich im selben Augenblick bewusst, dass er all dies nur tat, um eine Entscheidung hinauszuzögern. Mit einem Ruck stand er auf. »Das Tor ist weit genug. Wir können nebeneinander durchgehen, wenn wir die Pferde am Zügel führen.«
Als sie an der Schwelle des Tores standen, verharrte Nuramon. »Entschuldige«, sagte er leise. »Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um mit dir über Sandkörner zu streiten.«
»Lass uns diesen Streit ein anderes Mal führen.«
Nuramon entgegnete nichts. Stattdessen zog er am Zügel seines Pferdes und schritt voran.
Farodin hatte das Gefühl, als würde er von dem Tor regelrecht aufgesogen. Mit einem Ruck war er inmitten der Dunkelheit. Er hörte ein Pferd wiehern, ohne es zu sehen. Der Lichtpfad war verschwunden. Er hatte das Gefühl zu fallen, eine Ewigkeit lang. Dann war weicher Boden unter seinen Füßen. Die Finsternis zerrann. Blinzelnd sah Farodin sich um. Eisiger Schrecken griff nach seinem Herzen. Der Zauber war fehlgeschlagen! Sie standen noch immer inmitten des schwarzen Basaltrings, und um sie herum erstreckte sich die Wüste bis zum Horizont.
»Vielleicht sollte ich es noch einmal …«
»Unsere Schatten!«, rief Nuramon. »Sieh nur! Unsere Schatten sind verschwunden.« Er blickte zum Himmel empor. »Die Sonne ist fort. Wo immer wir hier sind, es ist nicht mehr die Welt der Menschen.«
Ein schriller Schrei klang vom Himmel herab. Über ihnen zog ein Falke seine Runden. Er schien sie zu beobachten. Schließlich drehte er ab und flog davon.
Farodin legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel war von strahlend hellem Blau, das zum Horizont hin langsam blasser wurde. Es gab keine Wolken und keine Sonne. Der Elf schloss die Augen und dachte an Wasser. Sein Mund fühlte sich trockener an, je intensiver er den Gedanken formte. Dann konnte er es spüren, gerade so, als wäre er kurz in einen Quell aus frischem Bergwasser getaucht.
»Dort entlang!« Er deutete auf eine große Düne am Horizont. »Dort werden wir vor Sonnenuntergang …« Er hielt inne und blickte zum nackten Himmel. »Bevor es dunkel wird, werden wir dort Wasser finden.«
Nuramon sagte nichts, er folgte ihm einfach. Jeder Schritt kostete eine Winzigkeit mehr an Kraft. Sie waren so erschöpft, dass sie nicht mehr auf dem weichen Sand zu gehen vermochten, sondern wie Menschen bei jedem Schritt bis zu den Knöcheln einsanken.
Der Düne, die ihr Zielpunkt war, schienen sie kaum näher zu kommen. Oder bildete Farodin sich das nur ein? Dehnte sich die Zeit ins Unendliche, wenn keine Sonne als Maß der verstreichenden Stunden über den Himmel zog? War eine halbe Stunde oder aber ein halber Tag vergangen, als der Himmel schließlich Ton um Ton dunkler wurde?
Als sie endlich die Düne erreichten, waren sie am Rand des Zusammenbruchs. »Wie geht es Mandred?«
»Schlecht.« Nuramon setzte Fuß vor Fuß, ohne innezuhalten oder aufzublicken.
Farodins Schweigen war fordernder als jede Frage.
»Er wird sterben, bevor die Nacht herum ist.« Nuramon blickte immer noch nicht auf. »Selbst wenn wir Wasser fänden, wüsste ich nicht, ob es ihn noch retten könnte.«
Wasser, dachte Farodin. Wasser! Er konnte es fühlen. Es war nicht mehr fern. Müde ging er voran. Die Düne war noch schlimmer als die Ebene. Mit jedem Schritt sanken sie nicht nur tief im Sand ein, sondern rutschten auch ein wenig zurück, als wollte die Düne ihnen verwehren, bis zu ihrem Kamm zu gelangen. Leichter Wind trieb ihnen Sand entgegen, der in den Augen brannte.
Als sie endlich oben ankamen, waren sie zu erschöpft, um sich über den Anblick freuen zu können. Vor ihnen lag ein tiefblauer See, der von tausenden Palmen gesäumt wurde. Seltsame Hallen standen nahe dem Ufer.
Nurmehr zwei niedrige Dünen trennten sie noch von dem Palmhain. Halb rutschend gelangten sie von ihrem Aussichtspunkt hinab. Die Pferde wieherten ungestüm. Nun waren sie es, die die Elfen an den Zügeln hinter sich her zogen. Die Tiere hatten das Wasser gewittert.
Plötzlich schlug etwas neben Farodin in den Sand. Im Reflex wich er zur Seite aus. Ein schwarz gefiederter Pfeil hatte ihn nur knapp verfehlt. Doch nirgends war ein Schütze zu sehen! Nur der Falke war zurückgekehrt, um erneut seine Kreise über ihnen zu ziehen.
Dann war die Luft von einem Sirren erfüllt. Eine ganze Wolke von Pfeilen kam über den Kamm der Düne geflogen. Wenige Schritt entfernt schlugen die Geschosse in den Sand. Sie bildeten eine fast gerade Linie, so als zeigten sie eine Grenze an, die nicht überschritten werden durfte.
Als Farodin wieder aufblickte, erschienen auf dem Dünenkamm vor ihnen Reiter. Es waren mindestens drei Dutzend.
Sie ritten Tiere, wie der Elf sie nie zuvor gesehen hatte. Mit ihren langen Beinen und dem merkwürdig geformten Kopf, der auf einem gebogenen Hals saß, waren sie von so ausgesuchter Hässlichkeit, dass es ihm den Atem verschlug. Sie alle hatten ein weißes Fell, und aus ihrem Rücken wuchs ein gewaltiger Buckel.
Die Reiter trugen lange, weiße Mäntel. Ihre Gesichter waren verschleiert. Manche hatten Säbel gezogen, andere waren mit langen Speeren bewaffnet, von deren Stichblättern bunte Troddeln herabhingen. Am auffälligsten waren jedoch ihre Lederschilde. Sie waren geformt wie ein Paar riesiger, weit aufgespannter Schmetterlingsflügel und ebenso farbenprächtig. Schweigend blickten die Reiter auf die Fremden hinab.
Endlich löste sich einer aus der Gruppe. Geschickt lenkte er sein Reittier die Düne hinunter. Hinter der Linie aus Pfeilen hielt er an.
»Boten, die Emerelle schickt, sind hier nicht willkommen«, erklang eine gedämpfte Frauenstimme. Sie sprach Elfisch!
Verblüfft sahen die Gefährten einander an. »Wer mag das sein?«, fragte Nuramon leise.
Die Reiterin hatte die geflüsterten Worte offenbar verstanden. »Wir nennen uns die Freien von Valemas, denn Emerelles Wort hat in diesem Teil der Zerbrochenen Welt keine Macht. Eine Nacht dürft ihr hier außerhalb der Oase verweilen. Morgen werden wir euch zurück zum Tor bringen.«
»Ich bin Farodin von Albenmark, aus der Sippe des Askalel«, rief er aufgebracht zurück. »Einer meiner Gefährten ist dem Tode näher als dem Leben. Ich weiß nicht, welchen Groll ihr gegen Emerelle hegt, doch eins weiß ich sicher. Wenn ihr uns nicht helft, dann opfert ihr das Leben meines Freundes eurem Zorn. Und ich verspreche euch, ich werde in seinem Namen Blutrache nehmen, wenn er um euretwillen stirbt.«
Die verschleierte Reiterin blickte hinauf zu den anderen Kriegern. Farodin war es unmöglich, unter ihnen einen Anführer zu erkennen. Sie waren fast gleich gekleidet, und auch ihre Waffen verrieten nichts über ihre Stellung. Schließlich streckte einer von ihnen den Arm hoch und stieß einen schrillen Pfiff aus. Der Reiter trug einen dick gepolsterten Falknerhandschuh. Hoch über ihnen antwortete der Falke mit einem Schrei. Dann legte er die Flügel an und schoss im Sturzflug hinab, um auf der ausgestreckten Hand zu landen.
Als wäre dies ein Friedenszeichen gewesen, nickte die Reiterin ihnen zu. »Kommt. Doch denkt daran: Ihr seid nicht willkommen. Ich bin Giliath von den Freien, und wenn du dich mit jemandem schlagen willst, Farodin, dann nehme ich deine Herausforderung hiermit an.«