Das Zwergenreich

Als sie nach einem Tag und einer Nacht endlich den Wald verließen, traute Nuramon seinen Augen kaum. Vor ihnen erhob sich eine gigantische Felswand – die Mauern des Zwergenreiches. Ein gewaltiges Eisentor bildete den Eingang. In die Felswand waren Fenster, Spalten und Scharten geschlagen. Am meisten jedoch beeindruckten Nuramon all die Türme, die wie Pilze aus dem Stein wuchsen und sich gen Himmel reckten. Wer immer dies erbaut hatte, war ein Meister seines Handwerks gewesen.

Nuramon stieg von Felbion ab; er konnte den Blick nicht von der Feste abwenden. »Das ist beeindruckend, nicht wahr?«, fragte Alwerich. »Ihr Elfen könnt so etwas gewiss nicht bauen.«

Nuramon starrte auf die Banner, die von den Türmen wehten. Gewaltige Stoffbahnen zeigten einen silbernen Drachen auf rotem Grund, so groß, dass man das Wappen auf viele Meilen erkennen konnte. Für wen waren diese Banner gedacht? Die Zwerge lebten so zurückgezogen, dass wohl kaum ein Fremder seinen Weg hierher fand. Offenbar ging es ihnen nicht um das Nützliche, sondern um den Anblick, der sich hier bot. In dieser Hinsicht waren die Zwerge den Elfen ähnlich, wenngleich dieses meisterliche Bauwerk alles andere als bescheidene Angemessenheit ausdrückte.

Nuramon folgte den Zwergen auf ihrem Weg zum Tor. Je näher sie diesem zweiflügeligen Ungetüm kamen, desto kleiner fühlte sich der Elf. Es war eine riesige Pforte für so kleine Geschöpfe wie die Zwerge. Doch vielleicht befand sich irgendetwas in ihrem Reich, das diese Größe verlangte. Er schaute zum Banner auf und musterte das Wappentier. Dieses Tor mochte genug Platz bieten, um einem Drachen den Eintritt zu erlauben.

Vor dem Tor befanden sich keine Wachen, doch Nuramon fielen die zahlreichen Schießscharten auf und auch der lang gezogene Balkon hoch über ihnen. An diesem Eingang brauchte man keinen weiteren Wächter. Ohne dass Nuramons Begleiter irgendetwas sagen mussten, knackte es nahe dem Tor, und quietschend und kreischend schoben sich die Flügel ihnen entgegen. Wie hatten die Zwerge es geschafft, ein so großes Tor aus Eisen zu schmieden? Wie hatten sie es bewegt, wie hatten sie es aufgerichtet? Nuramon fiel nur Zauberei als Antwort ein.

Auf dem Tor waren in groben Zierrahmen Jagdszenen, kämpfende Heldengestalten und Landschaften abgebildet. Das oberste Bild war wegen der Höhe des Tores nur vage zu erkennen. Es zeigte ein Gebirge, und Nuramon war sich sicher, dass es sich dabei um die Ioliden handelte. In das Tor waren Schriftzeichen eingeritzt. Schon auf den ersten Blick erkannte Nuramon, dass es sich um die gleiche Schrift wie an der Pforte des Orakels Dareen handelte.

Er hatte sich nicht getäuscht und war an den richtigen Ort gekommen. In solch einer gewaltigen Festung musste es einfach einen Zwerg geben, der bereit war, ihn zum Orakel zu begleiten!

Zwischen den sich öffnenden Torflügeln hindurch konnte Nuramon einen ersten Blick ins Innere des Zwergenreiches werfen. Jenseits der Schwelle öffnete sich eine gewaltige Halle, die von baumgleichen Säulen gestützt wurde. Sonnenlicht fiel durch schmale Lichtschächte hoch oben im Fels ins Innere und berührte an vielen Stellen den Boden. Barinsteine in den unterschiedlichsten Farben waren an den Säulen angebracht und spendeten dort Licht, wo die Sonnenstrahlen nicht hingelangten. In der Halle herrschte reges Treiben. Auch wenn zahlreiche Zwerge den Ankömmlingen neugierig entgegenblickten, schienen die meisten ihrer alltäglichen Wege zu gehen.

»Hättest du etwas dagegen, wenn dein Reittier draußen auf dich wartet?«, fragte Alwerich.

Nuramon erklärte sich einverstanden und flüsterte Felbion etwas zu. Der Hengst trabte davon, um in der Nähe des Tors zu grasen. Er wirkte zufrieden damit, auf dieser saftigen Wiese zurückzubleiben.

Die Zwerge führten Nuramon ins Innere. Hier sah er nun zum ersten Mal eine Wache. Sie stand zu seiner Rechten und fragte Alwerich, wer der Elf sei und wohin der Zwerg ihn zu führen gedenke. Alwerich nannte den Namen und erklärte, dass Nuramon aus Albenmark komme. »Ich werde ihn zum König bringen«, setzte Alwerich nach.

Sie durften passieren. Nuramon bemerkte ein großes Rad, an dem mehrere Dutzend Zwerge angestrengt drehten. Das Tor schloss sich langsam.

»Hier entlang«, sagte Alwerich und deutete voraus.

Die Zwerge, die ihnen auf dem Weg durch die imposante Feste begegneten, trugen alle Metall am Körper, obwohl sie hier doch gewiss keine Gefahr erwartete. Anscheinend war das Metall für die Zwerge mehr Kleidung als Rüstung. Manche bevorzugten schwere Kettenhemden und wirkten darin ausnehmend wehrhaft; andere trugen grobmaschige Hemden über leichtem Stoff, die mit Metallplättchen besetzt waren. Offenbar gab es keine Kleidung, die ohne Metall auskam.

All die Zwerge, die ihren Weg kreuzten, musterten Nuramon, als hätten sie noch nie in ihrem Leben einen Elfen gesehen. Und das mochte wohl auch stimmen. Manche flüsterten, manche grüßten ihn zurückhaltend. Er begegnete ihnen freundlich und hoffte, dass seine Gesten richtig verstanden wurden.

Zum ersten Mal erblickte der Elf auch Zwergenfrauen, in deren Kleidung die ganze Kunstfertigkeit dieses Bergvolkes zum Ausdruck kam. Metallfäden und Schmuckstücke zierten die Kleider; selbst jene, die sich Gold oder Silber wohl nicht leisten konnten, trugen schön verzierte Arbeiten aus weniger edlem Metall. Besonders fiel Nuramon eine Zwergin auf, auf deren Kleid blattförmige Kupferplättchen angebracht waren. Obwohl sie von der Statur her klein und breit war, erinnerte sie ihn an eine Baumfee, wie er sie einmal als Gast bei Alaen Aikhwitan gesehen hatte.

Die Gesichter der Frauen wirkten weich und liebenswürdig. Sie trugen ihr Haar lang und meist zu Zöpfen geflochten. Die Frau mit dem Kupferkleid hatte blondes Haar, das in vier dicken Zöpfen auf ihre Schultern fiel. Dass Nuramon sie so eingehend betrachtete, machte sie offenbar verlegen. Sie lächelte ihn an, wandte dann die dunklen Augen ab und schaute zu Boden.

Als Alwerich und die Seinen ihn vom Hauptweg zwischen den Säulen nach rechts führten, fragte sich Nuramon, warum ihm als Elf diese Welt aus Stein so zusagte, obwohl er in den Zwergenhallen bisher nicht einmal Pflanzen gesehen hatte. Durfte er diese Gefilde schön finden? Oder war es einmal mehr sein besonderer Blick, über den seine Sippe daheim in Albenmark stets gespottet hatte? Er wusste es nicht zu sagen. Dennoch verhielt es sich so, dass er diese Umgebung als schön empfand, auch wenn sie ihm fremd war und er sich zwischen den gedrungenen Zwergen wie ein schlanker Riese vorkam.

Nuramon folgte Alwerich in eine weitere Halle, die nicht minder beeindruckend war als der Eingang in das Reich der Zwerge. Die Säulen gruppierten sich hier auf breiten Sockeln zu Pfeilern, die gewaltige Bogen stützten. Breite Treppen schufen kleine Plätze und verbanden sie miteinander. Man bewegte sich über die jeweiligen Stufen von Platz zu Platz und stieg so Ebene um Ebene auf. Viele der Plätze wurden von Zwergen genutzt. Da standen Tische und Bänke, auf denen unterschiedlichste Waren feilgeboten wurden. Dies war ein Markt, und hier ging es laut zu. Das Gerede der Zwerge wurde von einem Rauschen untermalt. Irgendwo in der Nähe musste ein Wasserfall sein.

Am Rande der Halle erreichten sie eine Treppe, die rasch anstieg, aber von mächtigen Säulen geteilt wurde. Davor fand sich ein eindrucksvoller Brunnen. Zwei riesige Zwergenfrauen aus Stein hielten Gefäße, aus denen das Wasser floss und in das große Becken unter ihnen stürzte. Das Rauschen würde jedes Gespräch verschlingen, das in seiner Nähe geführt wurde. Die Luft über dem Brunnen schimmerte in der Lichtsäule, die durch eine breite Öffnung in der Decke hinabfiel. Es wirkte nicht wie Sonnenlicht, denn es hatte eine bläuliche Färbung. Gischt wehte ihnen entgegen, als sie den Brunnen passierten. Sie schmeckte frisch und ein wenig salzig.

Kaum hatten sie die Treppe und die Säulengruppe hinter sich gelassen, durchquerten sie eine weitere Halle und gelangten zu einer breiten Wendeltreppe, die zunächst im Fels verschwand und sie in die Höhe führte, um sich dann linker Hand zu öffnen und einen freien Blick auf die Treppenhalle zu gewähren. In der Ferne sah Nuramon die Säulen der großen Halle nahe dem Eingang.

Alwerich bedeutete ihm weiterzugehen, und schließlich hielten sie vor einem breiten Gang, der von zwei Kriegern bewacht wurde. Diese wollten Nuramon nicht passieren lassen. So beschloss Alwerich, voranzugehen und sein Anliegen am Hof vorzubringen. Nuramon sollte indessen hier warten.

Der Elf betrachtete die nähere Umgebung. Auch hier schien das Licht unter der Decke zu schweben. Er hätte viel darum gegeben, das Geheimnis dieses Lichtes zu kennen. Obwohl er hier fremd war, fühlte er sich wie in Albenmark. Wie Yulivee in Valemas hatten die Zwerge sich ihre Heimat neu erschaffen. Offenbar hatten sie auch Kristalle gezüchtet. Links an der fernen Wand wucherte Jeschilit und glitzerte wie Gras im Morgentau. Zu seiner Rechten erhoben sich deckenhohe Bergkristalle, die von innen heraus leuchteten und Waldlandschaften zu enthalten schienen.

Nuramon beobachtete die Zwerge, die auf den hoch gelegenen Steinstraßen und Holzbrücken unterwegs waren. Für sie musste diese Pracht so alltäglich sein, wie es der Anblick von Emerelles Burg für ihn war. Und doch gab es gewiss Zwerge, die ähnlich empfanden wie er und diese Hallen in all ihrer Pracht bestaunten.

Nach einer Weile kehrte Alwerich zurück und schickte seine Gefährten fort. Er machte ein misstrauisches Gesicht. »Folge mir bitte! Meister Thorwis will dich sprechen.«

Nuramon hatte den Namen noch nie gehört. Er folgte dem Zwerg ohne ein weiteres Wort. Sie passierten die beiden Wachen und liefen einen ruhigen Gang entlang, vorbei an einzelnen Wachen und edel gekleideten Männern und Frauen, die Nuramon betrachteten, als wäre er ein leuchtender Geist. Er versuchte, die Orientierung zu behalten, was ihm schwer fiel ohne den Himmel oder zumindest ein Baumdach über sich.

Die Überraschung auf den Gesichtern der Zwerge konnte Nuramon sich gut erklären. Er war wahrscheinlich der erste Elf, der dieses Weges kam. Er konnte nur hoffen, dass die Zwerge ihn nicht als einen Abgesandten Emerelles betrachteten. Im Grunde wusste er nicht, ob die Zwerge den Elfen überhaupt wohlgesonnen waren. Was, wenn sie im Streit aus Albenmark fortgegangen waren? Womöglich schritt er dann seinem Verderben entgegen.

»So, hier sind wir«, sagte Alwerich und trat in eine Halle mit gut zwei Dutzend hoher Türen ein, von denen einige bewacht waren. Zielstrebig trat Alwerich an einen alten Zwerg mit weißem Haar heran, der vor einer der Türen wartete. »Dies ist der Fremde, Meister«, sagte er und verbeugte sich.

Der Alte musterte Nuramon mit starrer Miene. »Du hast deinen Auftrag gut erledigt, mein junger Krieger. Nun geh!«

Alwerich warf Nuramon einen letzten Blick zu und nahm dann den Weg, den sie gekommen waren.

»Sieh mich bitte an!«, ertönte die Stimme des Alten.

Nuramon folgte dem Wunsch und schaute dem Zwerg direkt in die graugrünen Augen. Thorwis schien jede Einzelheit seines Gesichtes zu prüfen. Dieser alte Zwerg war der Zauberei mächtig, das spürte Nuramon. Das schlichte graue Gewand sprach zudem dafür, dass er kein Krieger war. Er war der einzige Zwerg hier, der kein Metall trug. Selbst sein Ring war aus Jade.

»Folge mir!«, sagte der greise Zwerg schließlich. Er öffnete die Tür und trat ein. Jenseits der Schwelle erstreckte sich ein schmaler Gang. Nachdem Nuramon eingetreten war, schloss Thorwis die Tür und schob einen Riegel vor.

Nuramon folgte dem Alten durch eine Folge von Gängen, die nicht recht zu dem Glanz der anderen Räume passen wollten. Hier waren die Wände schlicht und ohne jeden Zierrat.

Allein die Türen waren kunstvoll geschmückt, und keine glich der anderen. Offenbar passten sie sich an die Gegebenheiten des Raumes an, in den sie führten.

»Diese Flure bekommen nur wenige zu sehen«, erklärte Thorwis. »Kein Elf hat seinen Fuß …« Er brach plötzlich ab und starrte auf Nuramons Schwert. Dann schmunzelte er. »Verzeih! Was ich sagen wollte, ist: Du kannst dich glücklich schätzen, hier zu sein.«

»Das tue ich«, war alles, was Nuramon darauf sagte. Er wunderte sich über das Gebaren des Zauberers. War es wohl unüblich, ein Schwert in diese Flure zu führen?

Sie trafen bald auf breitere Gänge, auf denen auch wieder Zwerge zu sehen waren. Diese trugen kostbare Kleidung und schienen nicht minder verwundert als jene, die Nuramon zuvor erblickt hatten. Manche erschraken gar, als er mit Thorwis um die Ecke bog.

»Bei so einem großen Königreich müssen sich diejenigen, welche die Entscheidungsgewalt tragen, schnell und unauffällig zwischen den wichtigen Orten bewegen können«, erklärte der Alte.

Nuramon spürte, dass die Gänge nicht willkürlich gebaut worden waren. Viele folgten einem Albenpfad. Wer immer schnell von einem Ort des Zwergenreiches zu einem anderen gelangen wollte, mochte sich womöglich eines Albensterns bedienen.

Am Ende eines langen Ganges blieb Thorwis stehen, öffnete eine Tür zu seiner Rechten und trat ein. Nuramon folgte ihm und fand sich in einem leeren Saal wieder, der gemessen an den Hallen und Gängen recht klein war. Zur Linken fehlte die Wand, sodass man von hier aus das Tal überblicken konnte. Das Tageslicht warf seinen Schein bis auf das gegenüberliegende Wandmosaik aus Edelsteinen, welches ein Abbild des Tales zeigte.

»Entschuldige mich!«, sagte Thorwis und verschwand durch eine Tür, die sich in das Edelsteinbild einfügte.

Nuramon fragte sich, wie die Zwerge ihn wohl einschätzten. Offenbar glaubten sie, dass er etwas von ihnen wollte, das es rechtfertigte, ihn in diesem prachtvollen Teil des Königreiches zu empfangen. Ihm hätte es ausgereicht, unten in der Haupthalle jemanden zu finden, der den Mut hatte, sich gemeinsam mit ihm auf die Reise zum Orakel zu begeben.

Er trat an die offene Wand und blickte hinab ins Tal. Die Wolken flogen niedrig über den blauen Himmel, und Nuramon hatte das Gefühl, dass sie Gesichter darstellten, die ihn anlachten. Vom Wind, der die Wolken dort draußen anschob, spürte Nuramon hier nur einen sanften Hauch. Er hielt seine Hand ins Freie und spürte, wie er durch etwas Unsichtbares hindurchgriff. Draußen streifte der Wind seine Finger. In seinem Haus in Albenmark wirkte ein ähnlicher Zauber. Alaen Aikhwitan sorgte dort dafür, dass kein Luftzug durchs Haus wehte, und in der Burg der Königin wirkte dieser Zauber in der Decke ihres Thronsaals. Wieder hatte er eine Ähnlichkeit zwischen den Zwergen und den Elfen entdeckt.

Plötzlich öffnete sich die Tür in der Edelsteinwand, und herein kam ein Zwerg in einem edlen Kettenhemd und einem grünen Mantel. Er trug eine schmale Krone. Ihm folgten Thorwis und einige andere vornehme Zwerge, manche davon Krieger.

Der König hatte Nuramon noch nicht gesehen, sondern sprach mit seinen Kriegern. »Ich möchte, dass dort nicht länger gegraben wird! Und sag ihnen, dass ich…« Der König hielt inne und betrachtete Nuramon.

Thorwis trat an die Seite seines Herrn. »Dies ist der Gast, von dem ich dir berichtet habe.«

Der König wandte sich halb zu den Kriegern, behielt Nuramon aber im Blick. »Geht und tut, was ich gesagt habe!«, befahl er. Dann wandte er sich zu Thorwis. »Du hast mir nicht gesagt, dass es ein Elf ist.«

»Ich wollte dich überraschen. Schau doch!«

Der Zwergenkönig trat gemessenen Schrittes an Nuramon heran. Er hatte graues Haar und trug einen Bart mit kunstvoll geflochtenen Zöpfen. Dicht vor Nuramon blieb er stehen und sah ihn mit großen Augen an.

Nuramon verbeugte sich vor dem König und kam sich dabei merkwürdig vor, musste er doch noch immer zum Herrscher der Zwerge hinabblicken. »Mein Name ist Nuramon. Ich komme aus Albenmark und bin in dieser Welt auf Reisen.«

Der König wandte sich an Thorwis. »Hast du das gehört?« Er schien es nicht fassen zu können, einen Elfen vor sich zu haben.

»Ja, mein König.« Der Alte wandte sich an Nuramon. »Dies ist Wengalf, König der Zwerge und Herrscher von Aelburin.«

»Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich wusste nur nicht, wann«, erklärte König Wengalf.

Nuramon war darüber nicht allzu verwundert. Wie Emerelle oft wusste, was sich zugetragen hatte, was sich gerade anderswo zutrug und was sich einst irgendwo zugetragen haben mochte, so blickte vielleicht auch der König der Zwerge in ferne Zeiten und sah, was geschehen mochte.

»Was führt dich zu uns?«, fragte Wengalf.

»Ich bin auf der Suche nach einer Elfe und hoffte, dass mir das Orakel Dareen dabei helfen könnte. Doch der Weg zu ihr ist mir versperrt. Nur mit der Hilfe eines Zwerges vermag die Pforte geöffnet zu werden.« Nuramon beschrieb Dareens Pforte im Einzelnen und erzählte, wie es ihm dort ergangen war.

Wengalf tauschte einen Blick mit Thorwis, was der Alte als Zeichen nahm, das Wort an Nuramon zu richten. »Wir kennen das Orakel der Dareen. In jener Zeit, da wir Albenmark verließen, gingen auch andere Albenkinder fort, um in dieser Welt ihren Platz zu finden. Zwerge und Elfen begegneten sich eines Tages und entdeckten Dareen jenseits eines Tores, das an einen fernen Ort in dieser Welt führt. Und sie sagte uns, wie wir die Pforte schließen sollten. In alten Tagen nutzten wir dieses Tor oft. Doch die Elfen zogen sich zurück. Manche versteckten sich in verzauberten Wäldern, andere schufen sich ihr Reich in der Zerbrochenen Welt. Die meisten aber kehrten nach Albenmark zurück. Wir konnten die Pforte allein nicht öffnen. Und die Not oder die Neugier waren nie so groß, dass wir das Orakel in Anspruch nehmen wollten.«

Nuramon musste an Yulivee denken. Sie musste eine der Elfen gewesen sein, die einst die Zwerge getroffen hatte. »Wäre denn ein Zwerg bereit, mich zu begleiten?«, fragte er hoffnungsvoll.

»Ein Zwerg wird einem Elfen zur Seite stehen, ebenso wie ein Elf einst den Zwergen zur Seite stand«, sagte Wengalf feierlich.

Nuramon wusste nicht, was der Zwergenkönig damit sagen wollte. Vielleicht spielte er auf die Zeit an, da die Zwerge noch in Albenmark gelebt hatten und mit den Elfen Bündnisse eingegangen waren.

»Du erinnerst dich nicht«, sagte der König.

»Nein. Ich bin zu jung. Ich habe nicht gesehen, wie Elfen und Zwerge in Albenmark Seite an Seite lebten.«

»Aber du hast dich kaum verändert. Ich erkenne dich immer noch. Und auch Thorwis hat dich gleich erkannt. Wie viele Jahre ist es her? Gewiss mehr als dreitausend Jahre.«

»Genau dreitausendzweihundertsechsundsiebzig«, erklärte Thorwis.

Mit einem Schlag wurde Nuramon klar, worauf der Zwerg anspielte. »Du musst mich mit einem meiner Vorfahren verwechseln!«

»Nein, wir meinen dich«, sagte Thorwis. »Ich habe dich erkannt. Du bist Nuramon. Es gibt keinen Zweifel.«

»Wir nannten uns einst Freunde«, setzte der König nach.

Nuramon konnte es nicht fassen. Er war an einen Ort gekommen, an dem man sich an einen seiner Vorfahren erinnerte und bereit war, über ihn zu sprechen. Und der Zwergenkönig hatte diesen Vorfahren einst als Freund betrachtet!

»Es war zu jener Zeit, da ich noch auf meine Königswürde wartete, als wir Freundschaft pflegten. Du bist an unserer Seite aus Albenmark fortgegangen. Unser Volk hat gemeinsam mit dir eine große Queste bestanden und diesen Ort ausfindig gemacht. Wir haben zusammen gejagt, gekämpft und gefeiert. Und wir haben gleichermaßen den Tod gefunden.«

»Ich bin hier gestorben?«, fragte Nuramon.

Wengalf deutete hinaus ins Tal. »Dort haben hundert Zwerge gegen den Drachen Balon gekämpft. Doch nur wir beide haben ihn besiegt und es mit unserem Leben bezahlt. Du bist dort draußen gestorben, ich wenige Tage später. Auf dem Sterbebett hat man mich zum König gekrönt.«

Nuramon konnte kaum glauben, was er da hörte. Wengalf dachte tatsächlich, dass er derselbe Elf sei wie damals. Doch er hatte vielmehr das Gefühl, einer Sage zu lauschen, konnte er sich doch an nichts dergleichen erinnern.

»Ich weiß noch, wie du gestorben bist. Wir beide lagen im heißen Blut des Drachens. Du sagtest: ›_Das ist nicht das Ende. Ich werde zurückkehren_.‹ Das waren deine letzten Worte. Wie lange habe ich auf deine Rückkehr gehofft! Und ich muss gestehen, dass die Zeit so lang wurde, dass ich nur selten, jedoch immer am Gedenktag, daran dachte. Ich malte mir aus, wie irgendwo deine Seele wiedergeboren wurde, du dich aber nicht erinnern konntest, was du einst getan hattest. Schließlich war so viel Zeit verstrichen, dass ich dachte, du wärest längst ins Silberlicht gegangen. Doch ich habe mich geirrt.«

Nuramon ging aufs Knie, um auf der gleichen Augenhöhe wie Wengalf zu sein. »Ich wünschte, mit der Seele hätte ich auch die Erinnerung meiner Vorfahren erhalten. Doch dem ist nicht so. Was du mir erzählst, ist die Geschichte eines anderen. Ich kann sie nicht als Teil meiner selbst betrachten.«

Thorwis mischte sich ein. »Wieso kannst du das nicht? Wenn du dich schlafen legst und wieder aufwachst, bist du dann noch der Gleiche? Und wenn du der Gleiche bist, woher weißt du es?«

»Ich weiß es, weil ich mich an das, was zuvor war, erinnere«, entgegnete Nuramon.

Thorwis legte ihm die Hand auf die Schulter. »Dann betrachte das, was du von deinen Vorfahren erfährst, als Erinnerungen deiner Seele, als etwas, das du nur vergessen hast. Und wer weiß: Eines Tages mag die Erinnerung deiner Seele auch die deines Geistes werden.«

»Du meinst, ich kann mich vielleicht eines Tages an den Kampf gegen den Drachen und an meine Freundschaft zu Wengalf erinnern?«

»Ich kann es dir weder versprechen, noch kann ich dir Hoffnungen machen. Ich kann nur sagen, dass es schon so geschehen ist. Es gibt Albenkinder, die sich an ihre früheren Seelen erinnern. Die meisten davon sind Zwerge. Vielleicht findest auch du eines Tages den Pfad zu deinen früheren Leben. Die Zauberei ist dir nicht fremd, und deine Sinne sind sehr wach. Der erste Schritt auf diesem Weg ist es anzuerkennen, dass der Nuramon, der sich einst opferte, und der Nuramon, der vor uns steht, ein und dasselbe Albenkind sind.«

»Ich danke dir für den Rat, Thorwis. Und dir, Wengalf, danke ich für das, was du mir erzählt hast. Gestattest du mir eine Frage?«

»Nur zu«, forderte der König ihn auf.

»Kennt ihr eine Elfe namens Yulivee?«

Wengalf und Thorwis tauschten einen überraschten Blick. »Gewiss«, antwortete der König. »Aber das ist lange her. Seite an Seite setzten wir einen Bergkristall und einen Diamanten in das Tor zu Dareen, auf dass Elfen und Zwerge nur gemeinsam den Weg zu Dareen finden mögen.«

»Habe ich sie getroffen in meinem früheren Leben?«

»Nein, zu dieser Zeit bist du deine eigenen Wege gegangen und erst später wieder zu uns gestoßen.«

»Ich danke dir, Wengalf. Und auch dir, Thorwis. Ihr könnt euch nicht vorstellen, wie sehr mich all eure Worte berühren. Ich will euren Rat annehmen und die Erzählungen über mein früheres Leben zu meiner Erinnerung machen.«

Wengalf grinste und klopfte dem knienden Nuramon heftig auf die Schulter. »Dann sollte ich dir dringend von den Festen erzählen, damit du dich erinnerst, was wir getrunken und gegessen haben. Du konntest damals eine Menge vertragen. Komm! Lass uns feiern wie in alten Tagen!« Der Zwergenkönig schloss ihn in die Arme.

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