Verlorene Heimat

Mandred war aufgeregt wie ein Jüngling auf dem Weg zum Mittsommerfest, bei dem er mit der Liebsten tanzen wollte und mehr … Er gab seiner Stute die Sporen und trieb sie den sanft ansteigenden Hang hinauf. Etwa drei Jahre mussten vergangen sein, seit er zum letzten Mal in Firnstayn gewesen war. Die vielen Reisen hatten sein Zeitgefühl durcheinander gebracht, sodass er nicht genau einschätzen konnte, wie lange es her war, dass er sich von Alfadas verabschiedet hatte. Ob sein Sohn wohl zum Jarl gewählt worden war?

Es war ein goldener Herbst, so wie damals, als Mandred Firnstayn verlassen hatte. Die beste Zeit zum Fliegenfischen.

Schnaubend erreichte die Stute den Hügelkamm. Von hier aus hatte man einen weiten Blick über den Fjord. Bis Firnstayn war es noch über eine Meile. Mandred beschirmte die Augen mit der Hand und blinzelte gegen die tief stehende Sonne. Unter ihm lag eine kleine Stadt. Eine feste, steinerne Mauer mit gedrungenen Türmen umgab die Siedlung. Landestege streckten die Arme weit in den Fjord hinaus. Etwa zwanzig größere Schiffe lagen dort vertäut. Das Ufer säumten Lagerhäuser, und auf dem Hügel, auf dem einst Ereks Langhaus gestanden hatte, erhob sich eine steinerne Halle, die einem Fürsten zur Ehre gereicht hätte. Hatte er in den Bergen womöglich einen falschen Weg eingeschlagen?

Verwirrt blickte Mandred zu der Steilklippe, die vom Steinkreis gekrönt wurde. Dies war das Hartungskliff, und dort unten musste sein Dorf liegen. Es half nichts, sich etwas vorzumachen.

Mandred hatte das Gefühl, als presste eine unsichtbare Hand ihm die Kehle zusammen. Er schluckte hart. Jetzt hatte auch Farodin die Hügelkuppe erreicht. Der Elf zügelte seinen Braunen und sah stumm zum Fjord hinab.

»Wir … wir müssen wohl sehr lange fort gewesen sein«, brachte Mandred stockend hervor. Er schloss die Augen und dachte an die Zeit mit Alfadas, die wenigen Jahre mit seinem Sohn. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte er sich daran, wie sie in Ereks Boot auf den Fjord hinausgerudert waren und wie Alfadas ihn übermütig ins Wasser gestoßen hatte. Er dachte an den zwanzig Pfund schweren Salm, den er gefangen hatte und der größer gewesen war als jeder Fisch, den sein Sohn an die Angel bekommen hatte. Sie hatten sich gemeinsam betrunken, hatten am Ufer gesessen, den Salm über dem Feuer gebraten und dazu altbackenes Brot gegessen.

Wie alt mochte Alfadas jetzt wohl sein? Wie lange dauerte es, um aus einem kleinen Dorf eine Stadt werden zu lassen? Zwanzig Jahre? Vierzig Jahre?

Sie waren von Westen her durch die Wildnis der Berge gekommen und hatten seit Wochen keine Menschenseele mehr gesehen. Niemanden, der an einem gemeinsamen Feuer Neuigkeiten und alte Geschichten erzählte. So wäre er vielleicht vorbereitet gewesen … Mandred biss sich auf die Unterlippe und versuchte verzweifelt Herr der Gefühle zu werden, die ihn zu übermannen drohten. Die Elfen hatten ihm von der Gefahr des Reisens durch die Tore erzählt. Nach dem Erlebnis in der Eishöhle hätte er es wissen müssen …

Damals aber waren sie von einem bösen Zauber des Devanthars durch die Zeit getragen worden! Farodin und Nuramon hatten doch gelernt, wie man Tore beherrschte. Wie hatte das nur geschehen können?

Voller Unrast trieb er die Stute den Hügel hinab. Er musste zu Alfadas! Wie würde sein Sohn nun aussehen? Ob er wohl Kinder hatte? Vielleicht sogar schon Enkel?

Ohne von den Wachen aufgehalten zu werden, passierten sie das schwer befestigte Stadttor. Es musste Markttag sein. Die Straßen waren voller Menschen. Überall drängten sich Stände dicht an die Häuser. Ein herrlicher Duft nach Äpfeln lag in der Luft. Mandred war abgesessen und führte seine Stute am Zügel. Jedem, der ihm entgegenkam, stierte er ins Gesicht und suchte nach bekannten Zügen.

Selbst die Kleider der Leute hatten sich in der Zeit seiner Abwesenheit verändert! Fast alle hier trugen gutes Tuch. Es herrschte Festtagsstimmung. Firnstayn war reich geworden. Doch er fand sich nicht mehr zurecht. Kein Haus, das er gekannt hatte, stand noch.

Schließlich hielt Mandred die Ungewissheit nicht länger aus. Er hielt einen grauhaarigen Mann an. Der Alte trug ein weißes Hemd mit bunten Stickereien auf den Schultern. Ein schwerer Halsreif mit silbernen Pferdeköpfen an den Enden wies ihn als bedeutend aus.

»Wo finde ich Jarl Alfadas?«, fragte Mandred aufgeregt. »Was ist hier geschehen?«

Der Alte runzelte die Stirn. Er kniff ein wenig die blauen Augen zusammen und versuchte ganz offensichtlich abzuschätzen, mit was für einem Schelm er es zu tun hatte. »Jarl Alfadas? Ich kenne keinen Jarl, der diesen Namen trägt.«

»Wer herrscht in dieser Stadt?«

»Du kommst wohl von weit her, Krieger. Hast du nie von König Njauldred Klingenbrecher gehört?«

»König?« Mandred verschluckte sich fast. »In Firnstayn herrscht ein König?«

»Veralber mich nicht!«, schimpfte der Alte ärgerlich und wollte schon gehen, als Mandred ihn am Ärmel festhielt.

»Sieh mich an! Hast du mich schon einmal gesehen?« Mandred schüttelte den Kopf, sodass ihm die dünnen Zöpfe ins Gesicht schlugen. »Ich bin Mandred Torgridson, und ich bin gekommen, um nach meinem Sohn Alfadas zu sehen.«

Rings herum waren Leute stehen geblieben. Einige Männer hatten die Hand am Schwert, offenbar bereit einzugreifen, falls der Fremde den Alten noch mehr bedrängte. Dieser indes war leichenblass geworden. Hätte er ein Gespenst gesehen, er hätte nicht erschrockener wirken können. »Mandred Torgridson«, wiederholte er tonlos.

Der Name wurde von den Umstehenden aufgegriffen. Wie ein Lauffeuer eilte er durch das Gedränge und war bald in aller Munde.

»Du bist gewiss gekommen, die verwundete Elfe zu holen«, stieß der Alte schließlich hervor. »Sie ist im Langhaus des Königs. Er hat Heiler und Hexen von weither herbeigerufen …«

»Ich bin hier wegen Alfadas, meinem …« Farodin legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter.

»Von welcher Elfe sprecht Ihr?«

»Jäger haben sie am Larnpass gefunden. Sie war mehr tot als lebendig. Man hat sie hierher in die Königsstadt gebracht, weil niemand ihr zu helfen vermochte.« Der Alte kniff die Augen zusammen. Plötzlich streckte er die Hand vor und strich Farodin über die Wange. »Du bist… Ich meine, Ihr seid … Ihr seid auch ein …«

»Wo finden wir die Halle des Königs?«, fragte Farodin höflich, aber bestimmt.

Der Greis ließ es sich nicht nehmen, sie persönlich durch die Stadt zu geleiten. Irgendwo in der Menge rief jemand: »Jarl Mandred ist zurückgekehrt!« Darauf wurde das Gedränge und Geschiebe ringsherum noch größer. Manche gafften ihn und Farodin nur an. Andere versuchten Mandred zu berühren, so als wollten sie sich davon überzeugen, dass er kein Geist war.

Endlich erreichten sie den Hügel, auf dem die Königshalle stand. Eine breite Treppe, flankiert von Löwenstatuen, führte hinauf zum Sitz des Herrschers. Erst als die beiden die Stufen hinaufstiegen, blieb die Menge zurück.

Mandred fühlte sich zerrissen zwischen widerstreitenden Gefühlen. Es ärgerte ihn, dass der Alte ihm nicht gesagt hatte, was mit Alfadas war. Auf der anderen Seite war er aber auch stolz. Er war berühmt! Jeder in der Stadt schien seinen Namen zu kennen. Sicher gab es ein Heldenlied über seinen Kampf mit dem Manneber!

Sie hatten beinahe die Festhalle erreicht, da drehte sich Mandred um und blickte auf den Platz. Jeder dort unten schien zu ihm hinaufzusehen. Jeglicher Handel war zum Erliegen gekommen.

Der Jarl zog die Axt und streckte die Arme gen Himmel. »Ich grüße das Volk von Firnstayn! Hier steht Mandred Torgridson, der zurückgekehrt ist, um seinen Erben zu besuchen!«

Jubelrufe brandeten ihm entgegen. Er genoss das Geschrei und die Begeisterung. Als er sich schließlich abwandte, erwartete ihn eine stämmige Gestalt am Ende der Treppe, ein Krieger mit wildem rotem Bart, in dem breite graue Strähnen nisteten. Ein Gefolge gut bewaffneter junger Männer umgab ihn.

»Du also willst Mandred sein«, sagte der ältere Krieger herausfordernd. »Warum sollte ich dir das glauben?«

Der Jarl legte die Hand auf seine Axt. Er hatte nicht übel Lust, dem Kerl ein wenig Respekt einzubläuen. Dann musste er schmunzeln. Der Dickschädel des Alten… Das musste in der Familie liegen. Allerdings …

»Ihr erkennt Mandred Torgridson unschwer daran, dass er in Gesellschaft eines Elfen reist«, mischte sich Farodin ein. Er strich sein langes blondes Haar zurück, sodass man seine spitzen Ohren besser sehen konnte.

Der König runzelte die Stirn. Er wirkte plötzlich ernst, ja, erschrocken, so als hätte er soeben eine schreckliche Nachricht erhalten.

Mandred stand wie versteinert. Wenn dieser alte Mann dort oben sein Enkel war, dann musste Alfadas längst tot sein.

»Bist du Faredred oder Nuredred?«, fragte der König höflich.

»Farodin«, entgegnete der Elf.

Mandred spürte, wie seine Knie zu zittern begannen. Er versteifte sich, versuchte still zu stehen, aber er hatte keine Gewalt mehr über sich. »Alfadas«, sagte er leise. »Alfadas.«

Der König kam die Treppe hinab und schloss Mandred in die Arme. Wieder erklangen laute Jubelrufe vom Platz.

»Fehlt dir etwas?«, fragte Njauldred leise.

Mandred schüttelte den Kopf. »Was ist mit Alfadas?«

Der König schob Mandred einen Arm unter die Achseln und stützte ihn. Für alle anderen musste es wohl wie eine Geste der Freundschaft aussehen. »Wir reden in meiner Halle, nicht hier.«

Langsam stiegen sie die letzten Stufen hinauf. Die Tore der Königshalle standen weit offen. Ihr Inneres wurde von hellem Fackellicht erleuchtet, das sich in goldbeschlagenen Säulen spiegelte. Erbeutete Banner hingen von der hohen Decke. Am gegenüberliegenden Ende der Halle stand auf einem Postament ein Thronsessel aus dunklem Holz.

Mandred bestaunte die Pracht. Nicht einmal die goldene Halle von Horsa Starkschild war so eindrucksvoll gewesen. Eine der Wände war mit türgroßen Schilden geschmückt und mit Steinäxten, die viel zu schwer wirkten, um für Menschenhände gemacht zu sein.

Hinter einer der Säulen trat eine junge, rothaarige Frau hervor. Sie trug ein langes Kleid aus Hirschleder, das ganz mit Knöchelchen, Federn und steinernen Amuletten besetzt war. »Herr, sie wird den Sonnenuntergang nicht mehr erleben. Wir sind machtlos.«

»Dann schafft eine Trage herbei. Wir werden sie hinauf zum Steinkreis bringen. Mandred und sein Gefährte Faredred sind gekommen, sie zu holen.«

»Sie ist auch dazu zu schwach. Selbst auf einer Trage und in warme Decken gehüllt, wird sie den Weg die Klippe hinauf nicht überstehen. Es ist ein Wunder, dass sie überhaupt so lange überlebt hat.«

»Bring mich zu ihr«, forderte Farodin. »Sofort!«

Der König nickte der Frau im Hirschlederkleid zu. Sie nahm Farodin bei der Hand und brachte ihn fort.

Mandred lehnte sich an eine der Säulen. Der Anblick der Halle hatte ihn einen Augenblick lang seine Schwäche vergessen lassen. »Alfadas?«, fragte er flehend und starrte auf die grauen Strähnen im Bart des Königs.

Njauldred klatschte in die Hände und machte eine weit ausholende Geste, die sein Gefolge umfasste. »Bringt Met und zwei Trinkhörner. Und dann lasst mich und meinen Ahnherren allein!«

_Ahnherr!_ Etwas in Mandred zog sich zusammen.

Die jungen Krieger zogen sich zurück. Eine Magd brachte die Trinkhörner und ließ einen großen Tonkrug mit Met zurück. Es waren schöne Hörner, von breiten, goldenen Bändern eingefasst.

»Wie lange ist Alfadas tot?«, fragte Mandred mit tonloser Stimme.

»Trink!«, entgegnete Njauldred nur. »Trink, und ich werde alle deine Fragen beantworten.«

Mandred setzte das Horn an. Der Met war süß und würzig zugleich. Er war köstlich. Als Mandred sich ein zweites Horn einfüllte, erklärte ihm Njauldred ohne Umschweife, dass er der elfte König des Fjordlandes aus der Sippe des Alfadas sei. Er legte Mandred tröstend eine Hand auf die Schulter und begann zu erzählen: »Schon bald nachdem du Firnstayn verlassen hattest, war Alfadas zum Jarl geworden, und nach wenigen Jahren stieg er zum Fürsten auf. Er wurde der Vertraute des Königs und dessen Heerführer in Kriegszeiten. Einige Jahre gingen ins Land, als kurz nach einem Mittsommerfest ein Elf nach Firnstayn kam und Alfadas um Hilfe bat. Ein Heer von Trollen war in Albenmark eingefallen, und es stand schlecht für die Elfen. Alfadas beriet sich mit dem König und den Fürsten des Fjordlandes und stellte schließlich das größte Heer auf, das der Norden jemals gesehen hat. Sie zogen durch ein Tor, das die Elfen ihnen öffneten, und fochten Seite an Seite mit Kentauren, Kobolden und Elfen. Der Krieg währte viele Jahre, und als man die Trolle zuletzt aus Albenmark vertrieb, begannen diese nun Städte und Dörfer im Fjordland anzugreifen. Sie eroberten Gonthabu und erschlugen den König und seine ganze Familie. Wenig später stellte Alfadas die Plünderer am Göndir-Fjord und brachte ihnen eine schwere Niederlage bei. Noch auf dem Schlachtfeld riefen die anderen Fürsten Alfadas zum neuen König aus. Gemeinsam mit den verbündeten Elfen trieb er die Trolle weit in den Norden zurück. Alfadas machte Firnstayn zur Hauptstadt, weil es an einem Tor nach Albenmark und zugleich so weit im Norden liegt, dass die Grenze zu den Trollen nah ist. Seit diesen Tagen besteht ein Bündnis zwischen den Elfen Albenmarks und den Menschen des Fjordlandes.«

»Und was geschah mit meinem Sohn?«, wollte Mandred wissen.

»Er starb als Held. Alfadas geriet in einen Hinterhalt und wurde von Trollen ermordet, die seinen Leichnam verschleppten. Doch sein Elfenfreund Ollwyn holte den toten Körper des Königs zurück und nahm blutige Rache für dessen Ermordung. Alfadas wurde in Firnstayn beigesetzt. An der Seite seiner Mutter unter der Mandredseiche fand er seine letzte Ruhe.«

Bitternis und Stolz, das waren die widerstreitenden Gefühle, die Mandred bewegten. Wie gern hätte er noch einmal ein paar unbeschwerte Wochen mit Alfadas verbracht, so wie damals, als sie gemeinsam nach Firnstayn gekommen waren! Er hob sein Trinkhorn zur Decke. »Mögest du an der Tafel der Götter auf immer einen Ehrenplatz an Luths Seite haben«, sagte er mit belegter Stimme. Dann vergoss er ein wenig von seinem Met als Opfer an den Gott und leerte sein Horn.

»Er wird gewiss an der Ehrentafel sitzen«, sagte der König. Njauldred war aufgestanden und deutete auf eine der goldbeschlagenen Säulen. In das Gold waren breite Figurenbänder gehämmert, die Krieger auf Pferden zeigten. Njauldred deutete auf einen der Reiter, der seine Lanze in den Leib eines Riesen getrieben hatte. »Siehst du? Das hier ist dein Sohn, wie er den Trollfürsten Gornbor tötet.« Der König deutete die lange Halle hinauf. »Auf fast jeder der Säulen wirst du ein Bild von Alfadas finden. Seine Heldentaten sind ohne Zahl. Oft ist er mit dem Elfen Ollwyn ausgeritten, um die Späher der Trolle zu jagen. Er ist unser Stolz und zugleich unser Fluch, denn niemand konnte es seither mit seinem Heldenmut aufnehmen.«

»Kämpft ihr denn noch immer gegen die Trolle?«

»Nein. Seit langem herrscht nun Frieden. Manchmal, wenn ein Boot im Sturm weit nach Norden abgetrieben wird, sehen die Fischer im Nebel eines der großen Trollschiffe. Auch finden Jäger im Winter hin und wieder Trollspuren im Schnee. Doch die Kämpfe sind vorbei.« Der König warf Mandred einen ernsten Blick zu. »Warum bist du gekommen, Mandred Torgridson?«

»Ich wollte Alfadas, meinen Sohn, noch einmal in die Arme schließen.«

Das Gesicht des Königs verfinsterte sich. »Dir muss doch klar sein, dass kein Mensch über Jahrhunderte lebt. Sag mir den wahren Grund, warum du hier bist.«

Der Tonfall des Königs überraschte Mandred. Er klang fast feindselig. »Wenn man mit Elfen reist, dann vergeht die Zeit anders. Schneller. Ich glaubte, seit meinem letzten Treffen mit Alfadas seien erst drei oder vier Jahre vergangen. Sieh mich an. Ich bin noch immer ein junger Mann, Njauldred, und das, obwohl ich der Vater von Alfadas bin.«

Der Herrscher strich sich nachdenklich über den Bart. »Ich sehe, dass dein Schmerz über den Tod von Alfadas echt ist, also will ich dir Glauben schenken. Dennoch versetzt mich deine Ankunft in Firnstayn in große Unruhe.«

Mandred war erstaunt und auch ein wenig verärgert. »Ich trachte nicht nach deinem Thron, Njauldred.«

»Den würde ich dir überlassen, wenn du ihn haben wolltest«, entgegnete der König gereizt. »Es geht um deine Saga. Und auch Alfadas hat es immer wieder gesagt.«

»Was?«

»Es heißt, du würdest in der Stunde der größten Not zu deinem Volk zurückkehren. Wir leben nicht in Not, Mandred. Also frage ich mich, was kommen wird. Erst finden wir eine schwer verletzte Elfe, nachdem über dreißig Jahre lang niemand im ganzen Königreich mehr einen Elfen gesehen hat. Und dann kommst du, mit einem Elfengefährten, so schön und unnahbar, als wäre er ein Sendbote des Todes. Ich bin in tiefer Sorge, Mandred. Wird es einen neuen Trollkrieg geben?«

Der Jarl schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Ich habe keine Fehde mit den Trollen. Ich habe noch nie einen gesehen.«

Njauldred deutete auf das Bild von Alfadas und Gornbor. »Sie sind schrecklich. Einer von ihnen ist so stark wie zehn Männer, heißt es. Sei froh, wenn du niemals einem begegnest. Ein Mann allein kann nicht gegen einen Troll bestehen. Nur Alfadas konnte das.«

»Was ist mit dieser Elfe? Woher kommt sie?«

Der König zuckte mit den Schultern. »Das kann niemand sagen. Sie ist schwer verwundet. Sieht aus, als hätte ein Bär sie angefallen. Als sie gefunden wurde, war sie fast erfroren. Sie hat hohes Fieber und spricht im Schlaf, aber wir verstehen sie nicht. Ich hoffe, dein Gefährte ist ein mächtiger Zauberer. Nur starke Magie kann die Elfe noch retten. Meine Tochter Ragna ist eine begabte Heilkundige. Sie hat der Elfe die Schmerzen genommen und das Fieber gesenkt. Doch die Wunden wollen nicht heilen, seit Wochen nicht. Sie ist schwächer und schwächer geworden. Ragna fürchtet, dass sie noch in dieser Nacht sterben wird. Aber jetzt ist ja dein Gefährte da.«

Mandred wünschte, es wäre Nuramon, der nun am Bett der Elfe säße. Er hätte sie selbst aus den Goldenen Hallen der Götter zurückholen können. Aber Farodin … Der blonde Elf war ein Krieger, kein Heiler. »Kannst du mich zu der Elfe bringen?«

»Gewiss.« Der König sah ihn mit großen Augen an. »Bist du auch ein Heiler?«

»Nein.« Mandred lächelte. Der König dachte wohl, wer die Jahrhunderte überdauerte, der müsste alles können.

Sie verließen die Halle und betraten einen Seitenflügel des Herrschersitzes. Mandred bewunderte die kunstvoll geknüpften Bildteppiche, die die kahlen Steinwände schmückten. Njauldred führte ihn eine enge Stiege hinauf zu einem Flur, von dem mehrere Türen abgingen. Eine flache Feuerschale vertrieb die Kälte, die sich in den Steinmauern eingenistet hatte. Vor der letzten Tür standen ein Krieger und die junge Frau im Lederkleid, die Mandred schon in der Festhalle gesehen hatte.

Ragna breitete in hilfloser Geste die Arme aus. »Er lässt niemanden hinein. Anfangs konnte man Stimmen hören. Jetzt ist es aber schon sehr lange still in der Kammer.«

»Und da war dieses Licht«, sagte der Krieger ehrfürchtig. »Warum erzählst du nicht davon, Ragna? Ein silbernes Licht fiel unter der Tür hindurch. Und es roch seltsam. Wie nach Blüten.«

»Seitdem kam kein Geräusch mehr aus der Kammer?«, fragte der König.

»Nichts«, bekräftigte der Wachsoldat.

Mandred trat an die Tür.

»Das solltest du nicht tun«, sagte Ragna. »Er hat sehr deutlich gemacht, dass er niemanden in der Kammer duldet. In den Sagas der Skalden sind Elfen höflicher.«

Der Jarl griff nach dem Türknauf. »Er wird mich neben sich dulden.« Ganz sicher war er sich nicht. »Von euch sollte aber keiner nachfolgen.«

Mandred trat ein und schloss sofort die Tür hinter sich. Er stand in einer kleinen Dachkammer. Ein großer Teil des Raumes wurde von der Bettstatt eingenommen. Ein schöner Bildteppich war über die Balken der Dachschräge gespannt. Er zeigte eine Jagdszene mit Keilern. In der Kammer duftete es nach Blumen.

Eine dicke Wolldecke und mehrere Schaffelle lagen auf dem Bett. Eine kleine Kuhle zeichnete sich in der Matratze ab. Farodin kniete vor dem Bett, das Gesicht in den Händen vergraben. Eine Elfe konnte Mandred nirgends sehen. Und es gab keinen Platz in der kleinen Kammer, wo sie sich hätte verbergen können.

»Farodin?«

Langsam hob der Elf den Kopf. »Sie ist ins Mondlicht gegangen. Es war ihre Bestimmung, die Nachricht weiterzugeben.«

»Du meinst, sie ist tot?«

»Nein, das ist nicht dasselbe.« Farodin richtete sich auf. Sein Gesicht war ausdruckslos. »Sie ist jetzt dort, wohin alle Albenkinder irgendwann gehen. Ihre Bürde hat sie mir überlassen.« Er zog sein Schwert und prüfte mit dem Daumen die Klinge.

Mandred hatte seinen Gefährten noch nie in einer solchen Stimmung erlebt. Er wagte es nicht, Farodin anzusprechen. Ein Blutstropfen rann über die Schneide des Elfenschwertes.

»Trolle!«, sagte Farodin schließlich nach einer langen Zeit des Schweigens. »Trolle. Es gab einen Krieg mit ihnen, der aber seit vielen Jahren vorüber ist. Ganz am Ende des Krieges haben sie einen großen Segler gekapert. Fast dreihundert Elfen waren an Bord. Man hat sie in Gefangenschaft verschleppt. Manche von ihnen leben noch heute. Yilvina ist unter ihnen.«

»Yilvina? Unsere Yilvina?« Mandred dachte an die junge blonde Elfe. Mit ihren beiden Kurzschwertern war sie ihm im Kampf immer unbesiegbar erschienen. Wie hatte sie in Gefangenschaft geraten können?

»Yilvina und noch ein halbes Dutzend anderer. Ja. Sie leben noch immer, nach mehr als zwei Jahrhunderten in Gefangenschaft. Orgrim, der Heerführer der Trolle, hat sie einfach behalten, obwohl längst Frieden geschlossen ist.« Farodin deutete auf das leere Bett. »Shalawyn ist ihnen entkommen. Sie haben sie gehetzt wie ein Stück Wild. Sie wollte zurück nach Albenmark, um Emerelle zu berichten.«

»Sollen wir jetzt stattdessen ihre Nachricht nach Albenmark bringen?« Mandred war die Vorstellung unangenehm, der Königin noch einmal unter die Augen treten zu müssen.

Farodin wischte mit der Decke das Blut von seinem Schwert und schob es dann in die Scheide zurück. »Das wäre sinnlos. Emerelle würde einen Gesandten an den Hof des Trollkönigs schicken und nach den Gefangenen fragen. Dieser würde dann Herzog Orgrim zur Rede stellen, und der Feldherr würde mit aller Entschiedenheit bestreiten, dass er noch Elfen gefangen hält. Eine lebende Zeugin dafür gibt es nun auch nicht mehr. Sollte Emerelle darauf beharren, dass Orgrim lügt, könnte das genügen, um einen neuen Krieg gegen die Trolle zu entfesseln. Diese Gefahr wird die Königin nicht eingehen. Es bliebe demnach alles, wie es ist.«

»Also ist Shalawyn vergebens geflohen.«

»Nein, Menschensohn. Was die Trolle den Gefangenen antun, muss gesühnt werden. Sie hat mir alles erzählt.«

Mandred wich einen Schritt zurück. Da war etwas in Farodins Blick, das zur Vorsicht gemahnte. »Was … was tun sie denn?«

»Frag nicht! Nur eins sollst du wissen. Herzog Orgrim wird dafür bluten! Ich werde meinen Weg zu ihm finden, und er wird bereuen, was er getan hat.«

Загрузка...