Drei Gesichter

Das Tor zum Thronsaal stand offen. Nuramon sah am anderen Ende die Königin bei ihrer Wasserschale stehen. Er wollte eintreten, doch Meister Alvias stellte sich ihm in den Weg. »Wo willst du hin, Nuramon?«

»Ich möchte mit der Königin über Noroelle sprechen und sie um Milde bitten.«

»Du solltest diese Halle nicht im Zorn betreten!«

»Fürchtest du, ich könnte meine Hand gegen Emerelle erheben?«

Meister Alvias sah an ihm herab. »Nein.«

»Dann gib den Weg frei!«

Alvias blickte zur Königin, die kurz nickte. »Sie wird dich empfangen«, sagte er widerstrebend. »Doch bezähme deine Gefühle!« Mit diesen Worten trat er zur Seite.

Während Nuramon Emerelle entgegeneilte, hörte er, wie hinter ihm das Tor geschlossen wurde. Die Königin trat vor die Stufen zu ihrem Thron. In ihrem Antlitz spiegelten sich Ruhe und Güte. Nie hatte Emerelle für ihn so sehr die Mutter aller Albenkinder verkörpert.

Nuramon spürte, wie sein Zorn verebbte. Die Königin stand schweigend da und blickte ihn an wie in jener Nacht, da sie ihn in seinem Zimmer besucht und ihm Mut zugesprochen hatte. Er musste an den Orakelspruch denken, den sie mit ihm geteilt hatte und der ihm so viel bedeutete.

»Ich weiß, was du denkst, Nuramon. Ich schätze an dir, dass du noch nicht gelernt hast, deine Gefühle zu verbergen.«

»Und ich habe bislang deinen Sinn für Gerechtigkeit geschätzt. Du weißt, dass Noroelle niemals etwas Abscheuliches tun könnte.«

»Hat Obilee dir gesagt, was geschehen ist?«

»Ja.«

»Vergiss, dass Noroelle deine Geliebte war, und sage mir, dass sie keine Schuld auf sich geladen hat!«

»Sie ist mir das Liebste. Wie sollte ich das vergessen können?«

»Dann kannst du auch nicht verstehen, wieso ich es tun musste.«

»Ich bin nicht gekommen, um zu verstehen. Ich bin gekommen, um deine Gnade zu erflehen.«

»Noch nie hat die Königin ein Urteil zurückgenommen.«

»Dann verbanne auch mich an jenen Ort, an dem sich Noroelle befindet. Gewähre _mir_ zumindest diese Gnade.«

»Nein, Nuramon. Das werde ich nicht tun. Ich kann kein unschuldiges Albenkind verbannen.«

Und was war Noroelle? War sie nicht eher ein Opfer als eine Schuldige? Sie war getäuscht worden, und dafür musste sie büßen. Sollte Emerelle nicht all ihre Kraft daransetzen, den wahren Übeltäter zu bestrafen? »Wo ist der Devanthar?«

»Er ist in die Menschenwelt geflohen. Niemand kann sagen, in welche Gestalt er sich gekleidet hat. Nur eines ist gewiss: Er ist der Letzte seiner Art. Und er sinnt auf unseren Untergang. Denn sein Wesen ist die Rache.«

»Würde Noroelles Schuld gemildert, wenn wir den Dämon zur Strecke brächten?«

»Er hat sein Spiel gespielt. Nun wartet er ab, was daraus erwächst.«

Nuramon war verzweifelt. »Aber was können wir tun? Irgendetwas müssen wir doch tun können!«

»Es gibt etwas … Aber die Frage ist, ob du bereit dazu bist.«

»Was immer du auch verlangst, ich verspreche dir, alles zu tun, um Noroelle zu befreien.«

»Ein kühnes Versprechen, Nuramon.« Die Königin zögerte. »Ich nehme dich beim Wort. Suche dir Gefährten, und finde Noroelles Kind. Denk daran, es ist jetzt ein Mann. Viele haben vergeblich nach ihm gesucht. Du bist also nicht der Erste, der auszieht. Aber vielleicht ist dir mehr Glück beschieden, denn du hast den nötigen Ansporn, das Dämonenkind zu finden.«

»Noroelle fürchtete um das Leben ihres Sohnes. Müssen wir das auch?«

Emerelle schwieg lange und musterte Nuramon. »Noroelle hatte die Wahl. Sie wählte die Verdammnis, weil sie das Kind eines Devanthars schützte.«

»Wie soll ich übers Herz bringen, was sie nicht vermochte?«

»Währen deine Versprechen so kurz?«, hielt Emerelle dagegen. »Wenn ich Noroelle freigeben soll, dann müssen du und deine Gefährten das Kind töten.«

»Wie kannst du mir eine solche Qual auferlegen?«, entgegnete Nuramon leise.

»Bedenke deine Schuld und die deiner Gefährten. Weil ihr gescheitert seid, konnte der Devanthar zu Noroelle gelangen. Er hat deine Gestalt angenommen, hat Noroelle benutzt und dieses Kind gezeugt. Und Noroelle konnte es deswegen nicht aufgeben, weil sie die ganze Zeit über dachte, du wärest der Vater und das Kind trüge deine Seele. Sie hat ihm sogar deinen Namen gegeben. Du tust es nicht allein für Noroelle, sondern auch für dich und deine Gefährten.«

Nuramon zögerte. Der Wahrheit ihrer Worte konnte er sich nicht verschließen. Er war sich sicher, dass er niemals ein Kind ermorden könnte. Doch Noroelles Sohn war längst ein Mann. Gewiss hatte sich sein wahres Wesen bereits offenbart. »Ich werde Noroelles Sohn finden und ihn töten.«

»Und ich werde dir unter den besten Kriegern Gefährten erwählen. Was ist mit Farodin? Er wird dich doch gewiss begleiten.«

»Nein. Die Hilfe deiner Krieger werde ich annehmen, aber ich werde Farodin nicht bitten, mich zu begleiten. Wenn Noroelle zurückkehrt, dann darf sie mich hassen, weil ich ihr Kind getötet habe. An Farodins Händen aber wird kein Blut kleben. In seinen Armen wird sie die Liebe finden, die sie verdient.«

»Nun gut, es ist deine Entscheidung. Doch gewiss wirst du zumindest den Pferden aus meinem Stall nicht abgeneigt sein. Wähle dir jene, die zu dir und deinen Gefährten passen.«

»Das werde ich, Königin.«

Emerelle trat an ihn heran. Sie betrachtete ihn jetzt voller Mitgefühl. Ein besänftigender Duft umwehte sie. »Wir alle müssen unserem Schicksal folgen, wohin es uns auch führt. Doch wir bestimmen, wie wir diesen Pfad gehen. Glaube an die Worte, die ich dir in jener Nacht riet. Sie gelten noch immer. Was immer man auch einst über dich sagen mag, niemand kann sagen, du hättest deine Liebe verraten. Nun geh und ruhe dich in deiner Kammer aus. Die Elfenjagd ist zurückgekehrt, ihr sollt euch in den Gemächern erholen. Entscheide selbst, wann du aufbrechen magst. Diesmal werdet ihr nicht als Elfenjagd reiten, sondern allein im Auftrag der Königin.«

Nuramon dachte an die Ausrüstung, die Emerelle ihm gewährt hatte. »Ich möchte dir die Rüstung, den Mantel und das Schwert zurückgeben.«

»Ich sehe, die Drachenrüstung und der Mantel haben dir gute Dienste geleistet. Lass sie in deiner Kammer zurück, wie es Brauch ist. Das Schwert aber soll deines sein. Es ist ein Geschenk.« Emerelle stellte sich auf ihre Zehenspitzen und küsste ihn auf die Stirn. »Nun geh und vertraue deiner Königin.«

Nuramon befolgte ihre Worte. Er blickte noch einmal zu ihr zurück, bevor er den Saal verließ. Sie lächelte freundschaftlich. Als er draußen vor den anderen stand, konnte er nicht fassen, welche Wendung das Gespräch genommen hatte. Emerelle hatte ihn wie eine wohlwollende Mutter empfangen, wie eine kaltherzige Königin über ihn gerichtet und ihn wie eine gute Freundin entlassen.

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