Abseits der Siegesfeier

Es war Nacht, und Nuramon schritt an der Seite Obilees den Strand entlang. Überall am Fjord brannten Lagerfeuer, Laternen und Barinsteine. Firnstayn, die Schiffe und selbst die Wälder waren hell erleuchtet. Die Menschen feierten gemeinsam mit den Elfen, nur die Trolle blieben unter sich und hatten ihre Schiffe nicht verlassen. Ihre Pauken aber waren bis hierher zu hören, und der Geruch von gebratenem Fleisch zog das Ufer entlang.

Sie hatten einen großen Sieg errungen. Manche feierten ausgelassen, andere hatten Verwandte und Freunde verloren und trauerten um diese. Die Leichen der Menschen waren im Luthtempel und den angrenzenden Hallen aufgebahrt worden. Die toten Elfen waren bereits verbrannt. Die zusammengesunkenen Scheiterhaufen glühten noch jenseits der Stadt.

»Willst du es wirklich wagen?«, fragte Obilee.

»Ja«, sagte Nuramon. »Der Devanthar hat Noroelle ins Unglück getrieben. Er ist es, der für die Menschen hier und auch für Albenmark zu einer Gefahr geworden ist. Außerdem hat er einen Albenstein.«

»Aber denke an das Wagnis!«

»Würdest du für Noroelle weniger wagen?«

»Nein. Aber ein Devanthar! Wie wollt ihr ihn besiegen?«

»Es wird sich ein Weg finden. Jedenfalls rechnet er gewiss mit allem, nur nicht mit uns.«

»Vielleicht sollte ich euch begleiten? König Liodred hat sich auch angeschlossen.«

»Liodred handelt aus Abenteuerlust und aus Bewunderung für Mandred. Ein König, der mit dem Ahnherr auf dessen legendäre Reisen geht! Nein, Obilee. Es ist nicht dein Schicksal. Dein Platz ist bei der Königin. Begib dich nicht auf unseren traurigen Pfad. Vielleicht erreichst du durch Treue das, was wir durch Ungehorsam erreichen wollen. Vielleicht befreit die Königin Noroelle einst dir zuliebe.«

»Nun gut, Nuramon. Ich werde bleiben.« Sie lächelte. »Und ich werde Yulivee sagen, dass wir gemeinsam auf dich warten müssen. Sie wird dich sehr vermissen.«

»Ich fürchte, sie könnte eine Dummheit begehen.«

»Das wird die Königin nicht zulassen. Sie liebt die Kleine ebenso sehr wie du.«

Nuramon wusste, dass Obilees Fähigkeiten ihnen bei der Suche nach dem Devanthar von unschätzbarem Nutzen wären, doch allein der Gedanke, dass alle, die Noroelle die Treue hielten, zugleich sterben mochten, war ihm unerträglich. Vielleicht war es selbstsüchtig, Obilee von seinem Pfad fern zu halten, doch die Gewissheit, dass sie als große Kriegerin an der Seite der Königin bliebe, würde ihm Kraft verleihen.

Sie näherten sich dem Feuer, wo sie zuvor mit Farodin und Mandred gesessen hatten. Nomja, Yulivee und Emerelle waren mit ihren Wachen hinzugekommen. Zu Nuramons Überraschung hatte sich auch Ollowain hinzugesellt. Den Elfenkrieger hatte er heute nur aus der Ferne gesehen. Er hatte seinem Ruf alle Ehre gemacht und wie ein Drache gekämpft. Yulivee kam Nuramon entgegengelaufen. Er ging in die Hocke und schloss das Kind in die Armee. »Ich will mitkommen«, sagte sie.

»Das geht nicht. Die Königin braucht dich hier«, entgegnete er.

»Sie kommt auch ohne mich aus.«

»Nein, Yulivee. Sie wäre gewiss sehr enttäuscht.«

»Ich dachte, wir wären Bruder und Schwester.«

»Mein Haus steht schon zu lange leer, und Felbion wird sich gewiss einsam fühlen. Irgendjemand muss sich um ihn und auch um die Pferde von Mandred und Farodin kümmern. Und ich möchte das Haus und die Pferde in den besten Händen wissen. Ich habe dir doch von Alaen Aikhwitan erzählt. Er ist einsam.«

»Aber da bin ich ja allein.«

Obilee strich Yulivee über den Kopf. »Nein, ich werde da sein und dir Gesellschaft leisten. Und vergiss Emerelle nicht.«

Die kleine Zauberin wirkte besorgt und blickte Nuramon mit großen Augen an. »Und wenn du nicht zurückkommst? Was geschieht mit mir, wenn du stirbst?«

»Dann wird dir irgendwann ein kleiner Bruder namens Nuramon geboren. Für den musst du dann sorgen.«

Yulivee lächelte und küsste Nuramon auf die Stirn. »Dann werde ich bleiben … und von Obilee und der Königin einige Zauber lernen.« Sie wandte sich an die Kriegerin. »Wir könnten große Abenteuer erleben. Yulivee und Obilee! Das klingt schön. Wir könnten Freundinnen sein. Ich hatte noch nie eine beste Freundin. Ich habe nur davon gelesen und mir immer eine gewünscht.«

Obilee drückte die Kleine an sich. Sie flüsterte ihr etwas ins Ohr. Yulivee nickte. Gemeinsam begaben sie sich zu den anderen.

Farodin stand da und wirkte entschlossen. Mandred hielt Nomja an den Schultern. Offenbar hatte er sich gerade von ihr verabschiedet. Liodred erhob sich von seinem Platz am Feuer und legte den Waffengurt an.

Die Königin hatte ihnen allen die Ehre erwiesen, sie zu heilen. Gewiss musste Emerelle dabei keine Schmerzen leiden. Nun stand sie am Wasser und blickte zu den Schiffen draußen im Fjord. Sie schien tief in Gedanken zu sein. Der Wind zerrte an ihrem grauen Gewand und wirbelte ihr Haar.

»Bist du bereit, Nuramon?«, fragte Mandred und trat an ihn heran. »Hast du deine Waffen?«

»Ja.« Er holte seinen Bogen und den Köcher mit den restlichen Zwergenpfeilen. Das Langschwert mitsamt der Scheide und den Waffengurt wickelte er aus einem Tuch. Es waren die Waffen, die er bei den Zwergen erhalten hatte. In seinem früheren Leben hatte er mit ihnen einen Drachen getötet. Vielleicht mochten sie auch etwas gegen den Devanthar ausrichten.

Die Königin wandte sich um und trat ans Feuer. »Meine Albenkinder, die Zeit ist gekommen. Der Devanthar erwartet mich, die Schamanin Skanga oder einen anderen Träger eines Albensteins. All seine Sinne sind darauf gerichtet. Wenn ich ginge, dann würde er mich zu früh bemerken. Geht aber ihr, dann werdet ihr ihn vielleicht überraschen. Es ist nun alles vorbereitet. Einige Freiwillige aus meiner Leibwache werden euch begleiten, um euch die Ordensritter vom Leib zu halten. Doch gegen den Devanthar müsst ihr allein vorgehen.«

»Wo können wir ihn finden?«, fragte Farodin. »Sollen wir dem Pfad folgen, auf dem er entkam?«

»Nein, es ist eine Falle. Der Pfad bricht unterwegs einfach ab. Ihr würdet mitten in einem Berg erscheinen und sofort tot sein. Ich habe die verschiedenen Wege, die euch offen stehen, im Wasserspiegel betrachtet. Ganz gleich, wie ihr wählt, der Schatten des Todes liegt über euch. Ich habe auch das Netz der neuen Albenpfade hier in der Welt der Menschen studiert. Ihr müsst in ein Kloster in den Bergen bei Aniscans gelangen. Ich werde euch einen Weg dorthin öffnen. Doch euch bleibt nicht viel Zeit. Ihr werdet an einem Albenstern herauskommen, an dem ihr sogleich ein Tor in die Zerbrochene Welt öffnen müsst. Dort findet ihr den Devanthar.«

»Aber können wir ihn mit unseren Waffen überhaupt besiegen?«, fragte Liodred.

»Haltet eure Waffen ins Feuer!«, entgegnete die Königin.

Farodin führte sein Schwert und seinen Parierdolch in die Flammen, Liodred seine Axt. Als Mandred und Nuramon ihre Waffen hoben, sprach die Königin: »Nuramon, Mandred! Ihr beiden nicht!«

Er ließ das Schwert stecken. Er wusste, dass sein altes Langschwert magisch war, das hatte er schon bei den Zwergen gespürt. Und auch seinem Bogen und den Pfeilen haftete Magie an. Er fragte sich, ob auch die Waffe der Gaomee von Magie erfüllt war.

Nuramon tauschte einen Blick mit Mandred. Der Jarl machte ein verwundertes Gesicht und schaute Ollowain an. Dem Krieger stand ein Schmunzeln auf dem Gesicht. Er hatte gewiss die ganze Zeit über gewusst, dass Mandreds Axt von Magie durchwoben war. Nuramon hatte nichts davon gespürt. Offenbar war der Zauber gut versteckt, was im Kampf gegen den Devanthar ein Vorteil sein mochte.

Die Königin winkte Obilee zu sich. »Du musst den Zauber auf die Waffen legen. Deine Magie ist ihm fremd.«

Die Kriegerin trat ans Feuer und zog ihr Schwert. Die Waffe beeindruckte Nuramon noch immer. Die Klinge war über und über mit Runen verziert, und die Bügel des Messingkorbs schienen ein verschlungenes Zauberzeichen zu bilden. Obilee hielt das Schwert zu Farodins und Liodreds Waffen ins Feuer. Es zischte leise, und die Flammen leuchteten hell auf. Dann wurden sie hellblau und leckten gierig nach den Klingen. Obilee blickte konzentriert auf ihr Schwert. Es knisterte, und blitzende Lichtfäden spannten sich von ihrer Klinge zu denen der beiden Krieger. Die Runen auf Obilees Waffe fingen an zu glühen. Auch der Korb, der ihre Hand umgab, leuchtete auf. Mit jedem Herzschlag schoss die Kraft aus Obilees Klinge durch die Lichtfäden, die nun zu Strängen anschwollen, und fuhr in die Schwerter der beiden Gefährten. Die Macht war so groß, dass Nuramon sie wie einen Windstoß spüren konnte. Schließlich zog Obilee ihr Schwert zurück und ließ es in die Scheide gleiten, ehe die Glut daran verblasst war. Die Schwertzauberin trat zur Seite und machte der Königin Platz.

Die Waffen Farodins und Liodreds wurden matt, die blauen Flammen des Lagerfeuers allmählich wieder rot. »Nehmt eure Waffen!«, sagte Emerelle.

Die beiden Krieger hoben die Klingen vorsichtig an und musterten sie, als wären diese ihnen gerade zum Geschenk gemacht worden. So viel Kraft Nuramon beim Zauber auch gespürt hatte: den Schwertern war nun kaum etwas von ihrer Magie anzumerken. Darin bestand das Geheimnis eines guten Waffenzaubers. So merkte der Gegner zu spät, welche Macht der Klinge innewohnte.

»Ihr alle verfügt nun über Waffen, denen Magie anhaftet«, sagte die Königin. »Ihr werdet sie in meinem Namen, aber auch im Namen der Menschen des Fjordlandes tragen. Und auch um euretwillen werdet ihr sie führen. Tretet vor mich!« Mandred, Liodred, Farodin und Nuramon taten, wie die Königin sie geheißen hatte. Dann sprach die Königin weiter. »Ihr werdet gegen einen Feind antreten, der eines Alben würdig ist. Ihr werdet nur eine Gelegenheit haben, ihn zu besiegen.«

»Aber kann uns dies gelingen?«, fragte Nuramon.

»Ja, Nuramon. Ihr alle habt eure Gründe, an diesem Kampf teilzunehmen. Und ihr werdet stark sein, wenn ihr dem Feind gegenübersteht. Denn nur eine magische Waffe vermag ihn endgültig zu töten.« Emerelle trat vor. Sie küsste Liodred auf die Stirn. »Fürchte nicht um das Schicksal deines Reiches! Bevor mein Volk morgen nach Albenmark zurückkehrt, werde ich, mit deiner Erlaubnis, die Patenschaft deines Sohnes antreten. Dann wird niemand es wagen, deinem Blute den Thron streitig zu machen, solange du nicht in Firnstayn weilst.« Sie trat vor Mandred. Auch ihn küsste sie. »Mandred Aikhjarto! Denk an den Manneber und was er dir genommen hat. Heute ist der Tag der Rache gekommen.« Sie trat vor Farodin und Nuramon und betrachtete sie beide. Dann küsste sie beide auf die Stirn und sprach: »_Denkt an Noroelle! Nichts wird euch mehr Kraft verleihen_.«

Nun traten die anderen zu ihnen und nahmen Abschied. Ollowain begegnete ihnen wie gewohnt kühl und distanziert. Nomja strich Nuramon über die Wangen und flüsterte: »Es ist mir fast so, als kennten wir uns schon ewig.« Er musste an die Zwerge und ihren Erinnerungskult denken. Vielleicht hätte er Nomja davon erzählen sollen. Doch nun war es zu spät dazu. Obilee küsste ihn wie die Königin zuvor auf die Stirn. Sie sagte kein Wort, doch in ihrem Gesicht spiegelten sich Trauer und Schmerz. Sie würde um ihn bangen, das war gewiss. Doch sie würde der Königin eine wertvolle Vertraute sein. Und wenn er und seine Kameraden versagten, dann würde sie an der Seite Emerelles vielleicht das vollbringen, was ihnen verwehrt geblieben war.

Zuletzt nahm Nuramon Yulivee auf den Arm. »Tu, was die Königin gesagt hat. Denk an Noroelle, wenn du dem Devanthar gegenüberstehst!«, sagte sie. Er stellte sie wieder auf den Boden und betrachtete sie lange. »Geh, mein Bruder!«, forderte sie ihn auf und wirkte dabei so ernst, wie er sie noch nie erlebt hatte. Wusste sie irgendetwas? Hatte die Königin sich ihr anvertraut? Oder hatte die kleine Zauberin es gar gewagt, auf eigene Faust in den Wasserspiegel der Königin zu schauen?

»Haltet euch bereit!«, sprach Emerelle.

Die zwölf Freiwilligen gesellten sich nun zu Nuramon und seinen Gefährten. Sie waren mit Hellebarden und Schwertern bewaffnet und für Elfenkrieger ungewöhnlich schwer gepanzert. Jeder von ihnen trug eine mit Gold verzierte Sturmhaube und einen massiven Brustharnisch. Es gab keinen Zweifel: Kaum jemand würde sie besser schützen können als die Leibwachen der Königin. Nur eine große Übermacht von Ordensrittern wäre in der Lage, diese Krieger zu überwältigen.

Emerelle holte den Albenstein aus einem schlichten Lederbeutel an ihrem Gürtel hervor. Farodins Augen glänzten, als er ihn sah. Und auch Nuramon war von dem Anblick aufs Neue tief berührt.

Die Königin schloss die Augen und sprach unhörbare Worte. Nuramon spürte, wie kraftvolle Magie ihn umgab. Albenpfade lösten sich aus der Luft. Sie waren einfach da und ließen den Zauber der Königin wie eine Fingerübung erscheinen. Große Magie sah meist einfach aus. So hatte es ihn seine Mutter gelehrt.

Neben Emerelle kreuzten sich nun fünf Pfade, und unvermittelt schoss ein gleißendes Licht aus dem Albenstern empor. Es war die Pforte, durch die sie gehen würden.

»Wachen, sichert den Albenpfad!«, rief die Königin. »Rasch! Jeder Augenblick zählt!«

Die Freiwilligen schritten vor und verschwanden im Licht.

Nuramon tauschte kurze Blicke mit Mandred, Farodin und Liodred. In ihren Mienen las er Entschlossenheit. Seine Gefährten waren bereit, das letzte große Wagnis einzugehen. Und er war es auch. Denn wenn sie den Devanthar besiegten, dann mochte alles gewonnen sein.

»Geht nun!«, sprach die Königin.

Nuramon schritt an der Seite seiner Gefährten ins Licht. Er schaute noch einmal zurück und sah, wie Yulivee, Obilee und Nomja langsam verblassten. Die Königin aber wandte sich um und sprach mit leiser werdender Stimme: »Wir stehen am Rande eines neuen Zeitalters.«

Загрузка...