Die Fauneneiche

Es hatte zu schneien angefangen, als sie an dem See vorbeiritten, an dem sie so oft mit Noroelle gesessen hatten. Farodin zog seinen Umhang enger um die Schultern, doch gegen die Kälte in seinem Herzen vermochte kein Kleidungsstück zu helfen. Er hatte keine große Hoffnung, jemals die Macht zu erlangen, die man brauchte, um ein Tor in die Andere Welt zu öffnen. Vielleicht hatte Mandred ja Recht? Vielleicht sollten sie es wagen, die Wachen bei einem der Tore anzugreifen, und sich mit Gewalt Zugang in die Welt der Menschen verschaffen.

In der Ferne, jenseits des Waldes, erhob sich Emerelles Burg. Ob sie wohl wusste, dass sie hier waren? Es hieß, sie wisse alles, was in Albenmark geschah. Aber vielleicht hatte sie dieses Gerücht selbst ausgestreut? Von dem Eindringen des Devanthars hatte sie allerdings nichts gewusst. Oder doch? Hatte sie es am Ende geschehen lassen, um ein anderes, schlimmeres Schicksal von ihrem Volk abzuwenden? Farodin atmete tief aus. Der Atem stand ihm in einer weißen Wolke vor dem Mund. Es war völlig windstill auf der weiten Wiese. Der Schnee fiel nun dichter, und die Burg verschwamm in der Ferne.

Wer wusste schon um Emerelles Gedanken! Farodin hatte für sie gemordet. Er konnte nicht sagen, wie oft … Aber keinen Augenblick hatte er daran gezweifelt, dass alles, was er in ihrem Auftrag tat, einzig dazu diente, Schlimmeres von seinem Volk abzuwenden. Hatte er sich geirrt? Auf der Königin lastete der Fluch, die Zukunft ahnen zu können. Doch das, was kommen sollte, war wandelbar. Und so konnte es niemals Gewissheit geben.

Ein einziges Mal hatte Emerelle mit ihm darüber gesprochen. Sie hatte die Zukunft mit einem Baum verglichen. Es begann mit dem Stamm, der sich zweiteilte und dann Äste hervorbrachte, die sich immer weiter teilten. Farodin war danach in den Garten gegangen, hatte sich unter einen Baum gestellt und versucht, von unten den Verlauf eines Astes mit all seinen Verästelungen zu betrachten. Es war unmöglich. Man hätte den Baum fällen müssen, um eine sichere Aussage machen zu können. Und so war es mit der Zukunft.

»Was für ein elendes Wetter«, murrte Mandred, der neben ihm ritt. »Bei uns Menschen heißt es immer, dass in eurer Welt ewiger Frühling herrscht. Schöner Frühling!«

»So ist das, wenn Besserwisser von Orten erzählen, die sie niemals gesehen haben«, scherzte Nuramon. Er zog an Felbions Zügeln und deutete ein Stück voraus. »Das ist sie.«

Düster und von allen Blättern entblößt, erhob sich ein mächtiger Baum vor ihnen; nicht so groß wie Alaen Aikhwitan, doch immer noch gewaltig. Sie stiegen vom Pferd und gingen das letzte Stück zu Fuß.

Deutlich konnte Farodin eine große Spalte im Stamm der Eiche sehen. Die Rinde hatte sich abgeschält, und das Holz darunter war faulig geworden. Rings um den Baum lagen dürre Äste, der Tribut der Fauneneiche an die Herbststürme. Die Eiche wirkte heruntergekommen, fast als stürbe sie.

Farodin war entsetzt. Nie zuvor hatte er in Albenmark einen lebenden Baum faulen sehen. Das kam einfach nicht vor!

Auch Nuramon wirkte verstört.

Unschlüssig standen sie vor dem mächtigen Stamm und blickten zur Baumkrone hinauf. Es war keine Stimme zu vernehmen. Farodin musterte seine Gefährten aus den Augenwinkeln. Sie verrieten mit keiner Geste, ob die Fauneneiche vielleicht zu ihnen sprach.

»Mir frieren bald die Füße ab.« Wieder war es Mandred, der das Schweigen brach.

»Wir sollten mit ihr reden«, sagte Nuramon zögerlich. »Doch wie?«

»Sag mal … es war vorgestern, dass Alaen Aikhwitan zum ersten Mal mit dir gesprochen hat, nicht wahr?« Mandred stampfte mit den Füßen auf, wie um die Kälte zu vertreiben.

»Ja«, erwiderte Nuramon. »Und?«

»Du hast auf deiner Eiche viele Jahre gelebt. Mir ging nur gerade durch den Kopf, dass wir womöglich sehr lange warten müssen, bis die Fauneneiche mit uns spricht. Glaubst du, wir können ein Feuer machen?«

»Feuer?« Die Stimme erklang so plötzlich in seinem Inneren, dass Farodin erschrocken einen Schritt zurückwich. »Man muss wohl ein Mensch sein, um auf die Idee zu kommen, sich einem Baum vorzustellen, indem man neben ihm ein Feuer entzündet!«

»Ich muss mich für unseren Freund entschuldigen«, beeilte sich Nuramon zu sagen. »Er ist manchmal etwas voreilig.«

»Haltet ihn davon ab, ein Feuer zu machen. Ich spüre, dass er immer noch daran denkt. Und er wollte meine toten Äste dafür nehmen! Hat er denn gar kein Feingefühl?« Die schrille Stimme des Baumes war die einer Frau.

Mandred zog sich ein Stück weit zurück. Er sagte nichts, schlug sich aber die Arme vor die Brust, wie um zu zeigen, dass er immer noch fror.

Farodin beschlichen Zweifel, ob es klug gewesen war, den Menschensohn mitzubringen.

»Wir sind wegen Noroelle hier«, sagte Nuramon leise.

»Noroelle«, die Stimme der Fauneneiche klang nun sanfter, fast wehmütig. »Ja, Noroelle … Sie wäre niemals auf die Idee gekommen, hier ein Feuer zu entfachen. Es kommt mir so vor, als wäre es vor langer Zeit gewesen, dass ich sie zuletzt sah.«

»Wir wollen sie suchen.«

»Eine gute Idee«, stimmte die Eiche zu. Sie klang nun schläfrig. Ihre Äste knarrten leise.

»Wir brauchen dazu deine Hilfe«, mischte sich Farodin in das Gespräch ein.

»Wie sollte ich euch helfen?« Die Stimme des Baumes klang nun sehr gedehnt. »Ich kann schlecht von hier fort und euch auf eurer Suche …«

»Eure Eiche schläft ein«, spottete Mandred. »Wenn ich nicht von Feuer gesprochen hätte, wäre sie niemals erwacht.«

»Feuer!« Der alte Baum seufzte. »Schafft diesen frechen Kerl von hier fort! Sonst lass ich ihn Wurzeln schlagen. Dann mag er selbst erfahren, warum Bäume keine Späße über Feuer mögen.«

Mandred brauchte keine weitere Aufforderung. Er zog sich von sich aus zu den Pferden zurück.

»Jetzt denkt er an eine Axt«, grollte die Baumstimme. »Ich sollte ihn wirklich …«

»Verschone ihn«, sagte Farodin. »Auch wenn er ein schlechtes Benehmen hat, würde er sein Leben einsetzen, um Noroelle zu retten.«

»Ich weiß …« Wieder klang die Stimme des Baumes gedehnt. »Ich fühle, dass Atta Aikhjarto ihn schätzt. Er irrt sich nie … glaube ich …«

»Bitte schlaf nicht ein«, sagte Farodin. »Du bist unsere einzige Hoffnung.«

»Es ist Winter, Kinder. Meine Säfte fließen nicht mehr. Es ist Zeit zu ruhen. Kommt im Frühling wieder. Elfenkinder haben doch Zeit … Wie Bäume …«

»Fauneneiche?«, fragte Nuramon. »Kannst du uns einen der Zauber lehren, den du Noroelle gelehrt hast? Unterweise uns, wie man ein Tor bei einem der niederen Albensterne öffnet.«

Er erhielt keine Antwort.

»Sie schläft«, sagte Farodin resignierend. »Ich fürchte, wir werden bis zum Frühjahr warten müssen. Falls sie uns überhaupt hilft.«

Eine Weile blieben sie noch, aber die Eiche antwortete auf keine ihrer Fragen. Schließlich gingen sie zu den Pferden zurück. Farodin wollte gerade in den Sattel steigen, als er eine flüchtige Bewegung im Unterholz hinter der Eiche sah. Der Elf saß auf. »Lasst euch nichts anmerken«, sagte er leise. »Wir sind belauscht worden.«

»Ein Spitzel der Königin?«, fragte Nuramon.

»Ich weiß es nicht. Ich reite in den Wald und treibe ihn heraus.«

»Und wenn er uns freundlich gesinnt ist?«, fragte Nuramon.

»Warum sollte er sich dann verstecken?«, wandte Mandred ein.

»So sehe ich das auch!« Farodin riss die Zügel herum und preschte tief über die Mähne gebeugt auf das Unterholz zu. Mandred folgte ihm, ohne zu zögern.

Noch bevor sie den Waldrand erreichten, teilte sich das Dickicht, und eine bocksbeinige Gestalt trat ins Freie. Sie hob die Hände, wie um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war.

»Ejedin?« Farodin erkannte den Stallknecht der Königin.

»Was hast du bei der Eiche zu suchen?«, grollte Mandred, der Mühe hatte, seine Stute zu zügeln, und ihr schließlich mit der Faust auf den Kopf schlug.

»Was ich hier zu suchen habe?« Weiße Zähne blitzten durch den dichten schwarzen Bart des Fauns. »Mein Urgroßvater hat hier eine Eichel gepflanzt, die er aus seiner Heimat Dailos mitbrachte. Seitdem pflegen die Faune und Silene, die bei Hof dienen, die Fauneneiche. Sie übermittelt unsere Grüße in unsere ferne Heimat und hat uns auch sonst schon so manchen Dienst erwiesen. Die Frage ist also nicht, was ich hier zu suchen habe, sondern eher, was ihr hier treibt.«

»Werd nicht frech, Knecht!«, zischte Mandred.

»Was sonst, du Meisterreiter? Wirst du mich schlagen, wie deine Stute?« Er hob die Fäuste. »Komm nur herunter und leg dich mit mir an!«

Mandred wollte schon aus dem Sattel steigen, als Farodin sein Ross neben ihn lenkte und ihn zurückhielt.

»Glaubst du, die Königin wird dich reich belohnen?«, fragte der Elf in beiläufigem Tonfall.

Der Faun leckte sich mit seiner langen Zunge über die Lippen. »Ich glaube nicht, dass ich der Königin etwas sagen könnte, was sie nicht ohnehin schon weiß. Aber vielleicht kommen wir ja ins Geschäft?«

Farodin musterte den Faun misstrauisch. Sein Volk stand in dem Ruf, verschlagen zu sein, war aber zugleich berühmt dafür, mit den beseelten Bäumen einen guten Umgang zu pflegen. »Welche Art Geschäft sollte das sein?«

Auch Nuramon war inzwischen herangekommen. Schweigend hörte er zu.

»Ich glaube, ich könnte die Fauneneiche jeden Tag ein oder zwei Stunden dazu bringen, mit euch zu reden.«

»Und was ist dein Preis?«

»Bringt Noroelle zurück!«

Farodin traute seinen Ohren nicht. Das musste ein Faunentrick sein! »Warum sollte dir daran gelegen sein, Ejedin? Und erzähl mir nicht, dass unsere unglückliche Liebe dein empfindsames Herz berührt.«

Der Pferdeknecht brach in schallendes Gelächter aus. »Sehe ich vielleicht aus wie ein rührseliges Auenfeechen? Es ist wegen der Fauneneiche! Seit Noroelle fort ist, ist sie völlig verstört. Sie verschläft selbst Frühling und Sommer.« Er deutete auf die tiefe Wunde in ihrem Stamm. »Seht nur, wie krank sie ist. Bohrkäfer haben sich im letzten Frühjahr unter ihrer Rinde eingenistet.«

»Wie kann das sein?«, fragte Nuramon. »Die Bohrkäfer nähren sich doch nur von totem Holz.«

»Und von dem jener Bäume, denen nichts mehr am Leben liegt.«

»Vielleicht kann ich das faulende Holz wieder erstarken lassen«, sagte Nuramon vorsichtig. »Ich habe noch nie versucht, einen Baum zu heilen. Aber vielleicht ist es möglich.«

»Mach mir keine Hoffnungen!«, entgegnete der Faun barsch. »Kommt morgen zur selben Stunde. Ich werde die Fauneneiche dann wecken. Und bringt mir nicht noch einmal diesen Menschen mit! Er regt sie auf. Das tut ihr nicht gut.«

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