Abschied von Albenmark

Noroelle nahm drei Zaubersteine, die all die Jahre hier auf dem Grund des Sees gelegen hatten, und kehrte zu Obilee zurück. Die junge Elfe saß am Ufer und ließ ihre nackten Füße vom Wasser umspielen. Noroelle legte die drei Steine auf den flachen Fels neben Obilee. Dann trocknete sie sich und legte ihr grünes Kleid an. Es war jenes, das sie beim Auszug ihrer Liebsten getragen hatte.

Obilee schien froh, es an ihr zu sehen. Sie betrachtete die funkelnden Zaubersteine. »Sie sind wunderschön.«

Noroelle hatte einen Diamanten, einen Almandin und einen Smaragd gewählt. »Der Diamant ist für dich.«

»Für mich? Aber du hast doch gesagt, ich soll sie für…«

»Ja. Aber es sind drei. Dieser eine gehört dir. Nimm ihn!«

Noroelle hatte nicht viel Zeit gehabt, um Obilee die Geheimnisse der Zauberei zu lehren. Der Stein würde ihrer Schülerin gute Dienste leisten. Er war wie für sie geschaffen.

Obilee hielt den Kristall gegen das schwache Licht des schwindenden Tages. »Ich werde einen Anhänger für eine Kette daraus machen. Oder verliert er dann seinen Zauber?«

»Nein, das wird er nicht.«

»O Noroelle. Ich weiß nicht, ob ich ohne dich zurechtkomme.«

»Das wirst du. Und die Fauneneiche wird dir helfen. Sie wird dich das lehren, was sie mich einst lehrte. Ollowain wird dich im Schwertkampf unterweisen, denn du bist eine Erbin der Danee.« Noroelle hatte alle nötigen Vorbereitungen getroffen. Ihrer Vertrauten würde es gut ergehen.

Auch an alles andere hatte sie gedacht. Für sich selbst hatte sie einige wenige Dinge in einen Beutel gepackt. Mehr würde sie nicht brauchen. Für ihre Familie in Alvemer hatte sie Worte gefunden, die Obilee persönlich überbringen würde. »Du hast dir alles gemerkt, das ich dir gesagt habe?«, fragte Noroelle die junge Elfe.

»Ja. Ich werde deine Worte niemals vergessen. Selbst deine Gesten und den Tonfall deiner Stimme habe ich mir gemerkt. Es wird so sein, als sprächest du selbst.«

»Das ist gut, Obilee.« Noroelle schaute in die tief stehende Sonne. »Nun wird die Königin bald kommen. Und sie wird ihren Albenstein bei sich tragen.«

»Wirklich?«

»Ja. Sie braucht seine Macht, um eine Barriere zu schaffen. Sonst könnte ich den Ort allzu leicht wieder verlassen.«

Obilee senkte den Kopf. »Ich will dich begleiten, wohin du auch gehst.«

»Gebrauche deinen Verstand, Obilee! Ich bin auf ewig verbannt. Warum solltest du dein Leben fortwerfen?«

»Aber dann wärst du wenigstens nicht allein.«

»Das ist wahr. Doch dann würde ich nicht weinen, weil ich allein wäre, sondern um deinetwillen.« Noroelle trat einen Schritt zurück. Die Verzweiflung in Obilees Antlitz rührte sie. »Die Königin würde niemals zulassen, dass mich jemand in meine Verbannung begleitete.«

»Ich könnte sie darum bitten.«

»Versteh doch … Der Gedanke, dass du hier bist, wird mich trösten. Wenn du an mich denkst, dann wirst du gewiss manches Mal verzweifelt sein, aber stell dir einfach vor, dass ich an allem, was du tust, Anteil habe.«

»Auch wenn ich bleibe, wird die Trauer wie ein alles erstickender Schatten über meinem Leben liegen!«

»Dann musst du hierher kommen. Hier habe ich jene Stunden verbracht, die mir am kostbarsten sind. Ich habe die Magie der Quelle erweckt und die Zaubersteine in den See gelegt. Hier war ich glücklich mit Farodin und Nuramon. Und auch du wurdest mir hier vorgestellt.«

»Und hier hast du dein Kind bekommen«, sagte Obilee und blickte betrübt zum Wasser.

»Das ist richtig. Aber ich erinnere mich nicht in Trauer oder gar in Zorn daran. Ich liebe meinen Sohn, auch wenn er das ist, was die Königin in ihm sieht. Und dafür muss ich bezahlen. Aber du … du kannst aus meinen Fehlern lernen.«

Mit einem Mal hörte Noroelle Schritte im Gras. Sie wandte sich um und erhob sich, als sie die zierliche Gestalt im Dämmerlicht erkannte.

Emerelle trug ein weites blaues Gewand, das mit Silber- und Goldfäden bestickt war. Noroelle kannte das Kleid nicht, und dabei hatte sie viele Gewänder der Königin gesehen. Alte Runenzeichen waren in die Seide gewoben. In ihrer Linken hielt Emerelle ein Stundenglas, ihre Rechte aber war zur Faust geballt.

Jetzt erkannte sie, welchen Zauber die Königin sprechen würde, um ein Eindringen in Noroelles Gefängnis unmöglich zu machen. Nachdem Emerelle sie an den fremden Ort verbracht hätte, würde sie das Stundenglas auf einem Albenpfad zerschlagen, auf dass die Sandkörner in alle Winde verstreut würden. Niemand würde sie je wieder zusammentragen und das Glas erneuern können. Die Barriere würde auf ewig bestehen.

Emerelle zeigte ihr, was in ihrer rechten Hand lag. Es war ein rauer Stein mit fünf Furchen. In ihm erwachte ein rotes Glimmen. Das also war der Albenstein der Königin! Noroelle hatte sich oft gewünscht, einmal einen Blick auf ihn werfen zu dürfen. Aber nie hätte sie gedacht, dass es unter solchen Umständen geschehen könnte.

Noroelle spürte Macht in dem Stein. Seine tatsächliche Kraft verbarg er jedoch. Wer nicht um sein Geheimnis wusste, hätte ihn gewiss nur für einen Zauberstein wie jene aus ihrem See gehalten. Aber in Wahrheit besaß dieser Stein eine Macht, von der Noroelle nicht einmal zu träumen wagte. Es hieß, ganz Albenmark ziehe seine Kraft aus diesem einen Stein. Mit ihm konnte die Königin Tore öffnen oder schließen, Albenpfade schaffen oder vernichten. Und mit ihm würde sie eine unüberwindliche Barriere schaffen, wo der Zugang zu ihrem Verbannungsort lag. Der Albenstein würde die Mauer und der Sand des Stundenglases das Schloss ihres Gefängnisses sein.

Noroelle wandte sich Obilee zu und umarmte sie. »Du bist wie eine Schwester für mich.« Sie hörte, wie ihre Vertraute zu weinen begann. Sie selbst kämpfte mit den Tränen. Zum Abschied küsste sie Obilee auf die Stirn. »Lebe wohl!«

»Lebe wohl, und denke oft an mich.«

»Das werde ich.« Sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Mit zitternden Händen nahm sie ihren Beutel und trat vor die Königin.

Emerelle blickte sie lange an, als wollte sie in Noroelles Augen lesen, ob sie das richtige Urteil gesprochen hatte. Sie erschien dabei so würdevoll, dass jeder Zweifel verflog, den Noroelle je gegen ihre Königin gehegt hatte. Dann wandte sich Emerelle ab und ging voraus.

Noroelle blickte noch einmal zu Obilee zurück. Die junge Elfe würde es gewiss nicht leicht haben. Aber sie würde ihre Bestimmung finden, dessen war sich Noroelle sicher. Sie musste an Farodin und Nuramon denken. Sie hatte Obilee alles gesagt, was sie wissen musste, falls ihre Liebsten tatsächlich zurückkehrten. Ihr Gefühl beim Auszug der Elfenjagd hatte sie nicht getäuscht: Sie würde ihre Liebsten nie wiedersehen.

Sie schritt hinter der Königin her, ohne Abneigung gegen sie zu verspüren. Emerelle war ihre Herrin, und daran würde sich nichts ändern. Sie hatte sich den Tag über mehrmals gefragt, was sie getan hätte, wenn es nicht um ihren Sohn gegangen wäre. Und sie musste sich eingestehen, dass sie die Entscheidung der Königin unterstützt hätte. Aber weil sie die Mutter des Kindes war, nahm sie lieber die Unendlichkeit auf sich, als ihrem Fleisch und Blut zu schaden. Und deshalb musste sie diese Welt nun verlassen. Eine Elfe konnte ihr Schicksal nicht ändern, selbst wenn es sie niemals ins Mondlicht führte. Noroelle blickte zurück. Solange es ihren See gab, würden sich die Albenkinder an Noroelle die Zauberin erinnern.

Die Saga von Mandred Torgridson

Von Svanlaibund was er im Tal des Luth fand

Svanlaib hieß ein Mann, Sohn des Hrafin aus Tarbor. Er war erst zwanzig Winter alt und hatte die Kraft eines Bären. Er baute die besten Schiffe am Fjord und schuf für seine Nachbarn Bildnisse des Schicksalswebers. Da kam einmal der alte Hvaldred, Sohn des Heldred, und erzählte ihm die Geschichte von den Eisenbärten des Luth, die jenseits von Firnstayn hoch oben in den Bergen standen und den Weg zur Höhle des Schicksalswebers wiesen. Und Hvaldred erzählte ihm auch, dass den Eisenbärten des Luth Schande getan ward. Die Höhle sei entweiht, sagten die Weisen Männer. Dort könne niemand mehr dem Weber opfern.

Da wurde Svanlaib zornig und sprach: »Ich werde nach Firnstayn fahren, hinauf ins Gebirge gehen und dort als Erster Sühne für die Untat fordern.« So schlug er aus einem Eichenstamme ein neues Bildnis des Schicksalswebers. Und alle in Tarbor opferten dem Luth, sodass dem Weber aus Holz ein Eisenbart wuchs.

Svanlaib nahm seine Sachen, begab sich nach Firnstayn und trug das Bild des Luth auf seinem Rücken hinauf durch Schnee und Eis. Da sah er die Eisenbärte und opferte ihnen, wie es der Brauch verlangte. Er folgte dem Weg, den ihm die Eisenbärte wiesen, und gelangte zur Höhle des Luth. Die fand er verschlossen vom Atem des Firn. Da machte er ein zorniges Gesicht, und über sein Haupt hob er den Eisenbart, den er geschaffen hatte. Und Luth zerschlug des Winters Wand, wo Heldenkräfte nichts vermochten.

Svanlaib wartete; er wagte nicht, die Höhle zu betreten. Da hörte er Stimmen und Schritte kommen. Hervor trat des Torgrid Sohn. Er war jung an Gestalt, und rot war sein Haar. An seiner Seite waren zwei Albenkinder. Es waren Elfen aus der Albenmark.

Da fragte Svanlaib, wer es denn sei, der da aus der Höhle komme. Er kannte des Torgrid Sohn nicht. Der aber sprach: »Ich bin Mandred Aikhjarto, Sohn des Torgrid und der Ragnild!«

Da staunte Svanlaib, denn man erzählte viel von Mandred Torgridson und von dem Manneber, den er gehetzt hatte, und dem Verschwinden von Jäger und Gejagtem. Es hieß, Mandred habe den Eber gepackt und sich mit ihm in eine Gletscherspalte gestürzt. Das alles, um sein Dorf zu retten.

Da fragte Svanlaib den mächtigen Mandred, was geschehen sei. Und Mandred brachte dem Befreier Kunde von dem Tod des Mannes, der ein Eber war. Und er dankte ihm, dass er durch Luths Kraft das Eis des Ebers gebrochen habe. Von den Elfen sagte er, dass sie ihm geholfen hätten. Ihre Namen waren Faredred und Nuredred. Sie waren Brüder und Elfenfürsten, die Mandred zu Diensten waren.

Des Torgrid Sohn nahm nun den Eisenbart, den Svanlaib getragen und geworfen hatte, und stellte ihn an den Platz, wo die verbrannten Reste des geschändeten Eisenmannes gestanden hatten. Luth zu Ehren legte Mandred das Haupt des Ebers zu Füßen des Bildnisses.

Was in der Höhle geschehen war, das blieb Svanlaib verborgen und wurde erst später offenbar. Dort hatte Mandred mit Luth gesprochen, und die Elfen waren seine Zeugen gewesen. Der Schicksalsweber hatte dem Sohn des Torgrid seine Bestimmung offenbart. Und von jenem Tage an hatte die Zeit keine Macht mehr über Mandred. Doch Luth hatte ihm nicht gesagt, welchen Preis er dafür zahlen musste. So kehrte Mandred mit Svanlaib und den Elfenbrüdern zurück nach Firnstayn.

Nach der Erzählung des Skalden Hrolaug,

Band 2 der Tempelbibliothek zu Firnstayn, s.16 bis 18

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