Zu Gast bei Guillaume

Nuramon hatte Guillaume den ganzen Nachmittag lang beobachtet. Er hatte dessen Predigt gelauscht und dann gesehen, wie er den Körper Gelvuuns bestattet hatte. Anschließend war er Noroelles Sohn durch die Stadt gefolgt. Dabei hatte er manchmal das beklemmende Gefühl gehabt, als würde er seinerseits verfolgt. Doch so oft er sich auch umsah, er konnte niemanden entdecken, der sich auffällig benahm. Da waren nur die Bewohner von Aniscans, die ihren Geschäften nachgingen. So richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf Guillaume und folgte ihm, bis dieser den Tempelhügel erreichte und dort in einem schmalen Haus verschwand. Mit seinen Mauern aus Bruchstein fügte es sich ganz in das Bild der Stadt; wenn dies Guillaumes Heim war, dann schien er viel Wert auf Bescheidenheit zu legen.

Nuramon hielt inne und beobachtete das Haus von der gegenüberliegenden Gasse aus. Er wartete darauf, dass Guillaume die Fensterläden öffnete, um die letzten Strahlen des schwindenden Tageslichts hineinzulassen. Doch die Läden blieben geschlossen. Als sich die Nacht über Aniscans senkte, sah Nuramon warmes Kerzenlicht zwischen den Ritzen hindurchdringen.

Er fasste sich ein Herz und trat vor die Tür des Heilers. Nun musste er nur noch klopfen. Aber er wagte es nicht. Er hatte Angst; nicht davor, dass ihm das Gleiche widerfahren könnte wie Gelvuun, sondern davor, einen großen Fehler zu begehen. Er kannte Guillaume nicht und wusste nicht, wie er die Wahrheit aufnehmen würde. Dann aber dachte er an Noroelle. Dies war die einzige Hoffnung, Guillaume vor dem Tod zu bewahren und vielleicht gleichzeitig Noroelle zu retten – selbstverständlich nur, wenn die Königin einsah, dass es ein Fehler wäre, Guillaume zu töten.

Er klopfte.

Im Inneren des Hauses regte sich nichts, und Nuramon überlegte, ob er noch einmal klopfen sollte. Gerade als er den Arm hob, hörte er endlich Schritte. Nuramons Herz raste. Gleich würde sich die Tür öffnen, und Noroelles Gesicht würde ihn anschauen. Er warf die Kapuze seines Mantels zurück, sodass Guillaume sofort wüsste, mit wem er es zu tun hatte.

Ein Riegel wurde zurückgeschoben, dann öffnete sich die Tür. Nuramon hatte sich nicht verschätzt. Es war Guillaume. Der junge Priester wirkte keineswegs überrascht, einem Fremden gegenüberzustehen. Unfähig, auch nur ein Wort hervorzubringen, starrte Nuramon in das Gesicht von Noroelles Sohn. Wie aber würde sich sein Ausdruck verändern, wenn Guillaume alles über seine Herkunft erfuhr?

»Komm herein, Albenkind«, sagte der Priester mit seiner ruhigen Stimme und lächelte. Dann ging er voran. Offenbar hatte er ihn erwartet.

Guillaumes Haus war sehr schlicht eingerichtet. Der Raum, in den Nuramon eintrat, nahm das gesamte Erdgeschoss ein. Hier war alles Nötige untergebracht, vom gemauerten Herd bis zum Gebetsschrein. Nur ein Bett war nicht zu sehen. Wahrscheinlich befand sich das Schlafgemach im Obergeschoss, das man über eine Treppe gegenüber der Haustür erreichen konnte.

»Du bist wegen deines Gefährten gekommen«, sagte Guillaume und setzte sich an den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes. Dort brannte eine Öllampe vor einem Holzteller, auf dem noch Fleischreste lagen. Mit einer einladenden Geste deutete Guillaume auf einen zweiten Stuhl am Tischende.

Nuramon setzte sich schweigend.

Der Priester schob den Teller beiseite. »Ich fürchte, dein Gefährte wurde bereits auf dem Friedhof beerdigt. Ich hoffe, das schadet seiner Wiedergeburt nicht.«

»Bei uns heißt es, dass die Seele sich im Augenblick des Todes vom Körper des Albenkindes löst«, erklärte Nuramon. »Wenn es denn einen Seelenweg zwischen deiner Welt und Albenmark geben sollte, dann hat Gelvuun ihn bereits genommen und wartet dort auf seine Wiedergeburt.«

»Dann war seine Seele schon fort, als ich seinen Körper beerdigte.«

»Ja. Doch deswegen bin ich nicht hier. Ich bin deinetwegen gekommen.«

Die Worte schienen Guillaume nicht zu überraschen. »Weil ich ihn getötet habe …«

Nuramon stutzte. »Woher weißt du es?«

Der Heiler senkte den Blick. »Ich wusste es, als ich ihn untersuchte. Er sah aus, als hätte er Würgemale am Hals, auf die nur meine Finger passen.« Er hielt inne und musterte Nuramon. »In den Gesichtern von Elfen zu lesen ist nicht leicht. Ich sehe keinen Zorn in deinen Zügen. Aber dennoch bist du gewiss gekommen, um Vergeltung zu fordern.«

»Nein, auch deswegen bin ich nicht hier.«

Guillaume starrte ihn fragend an.

»Ich möchte nur wissen, was du in deiner Zukunft siehst.«

»Ich bin ein Suchender im Dienste des Tjured. Ich glaube, diese Welt ist voller verborgener Geschenke, doch nur wenige vermögen sie zu finden. So weiß ich, dass die Macht der Götter sich an bestimmten Orten sammelt. Ich kann diese Orte spüren und den unsichtbaren Flüssen folgen, die sie miteinander verbinden.« Er sprach offensichtlich von Albenpfaden, er hielt sie für die Pfade seines Gottes. »Dieses Wissen nutze ich, um Menschen zu heilen und Frieden zu predigen. Ich möchte, dass der Hass verschwindet. Doch nach dem heutigen Tag scheint es, als wäre der Preis zu hoch. Was ist das nur für eine Gabe, die Menschen heilt und Albenkinder tötet?«

»Ich kann dir darauf eine Antwort geben. Doch überlege es dir gut, ob du sie hören willst.«

»Du weißt etwas über die Begabung, aus der ich meine Wunder schöpfe?«

»Ich kenne ihre Herkunft.«

»Dann bist du klüger als jeder Weise und jeder Priester, dem ich bislang begegnet bin. Bitte erzähle …«

»Soll ich es wirklich tun? Denn wenn du mich anhörst, dann weißt du auch, aus welchem Grunde ich und meine Gefährten in diese Stadt gekommen sind, wieso ich hier bin und das Wagnis eingehe, in deine Nähe zu kommen.«

»Kennst du meine Eltern? Meine wahren Eltern?«

»Ja, ich kenne sie beide.«

»Dann sprich!«

»Du bist der Sohn einer Elfe namens Noroelle. Sie nahm einst die schrecklichste aller Strafen auf sich, um dein Leben zu schützen.« Mit diesen Worten begann Nuramon seine Erzählung. Er sprach von Noroelle, von seiner und Farodins Liebe zu ihr, vom Manneber und der Elfenjagd, von seiner Rettung und von Noroelles Verbannung. Und er beobachtete dabei, wie Guillaumes Gesichtsausdruck immer ernster wurde und die Ähnlichkeit zu Noroelle Falte um Falte schwand. Er endete mit den Worten: »Du weißt nun, wer deine Eltern sind und warum du eine Macht besitzt, die Menschen heilt, aber Elfen tötet.«

Guillaume starrte auf den Tisch, dann fing er unvermittelt an zu weinen. Dieser Anblick schmerzte Nuramon, nicht nur, weil der Heiler Noroelle wieder so ähnlich sah, sondern weil er sich in dessen Lage versetzen konnte. Er musste an sich halten, um nicht selbst in Tränen auszubrechen.

Nach einer langen Zeit des Schweigens sagte der Heiler schließlich: »Ich Narr dachte, meine Gabe sei ein Geschenk Tjureds!«

»Ganz gleich, welchen Ursprung deine Begabung hat, du hast für die Menschen Gutes getan, ebenso wie deine Mutter es für die Albenkinder zu tun pflegte. Bis zu der Nacht, da sie …« Er wollte es nicht noch einmal aussprechen.

»Erzähl mir mehr von meiner Mutter«, forderte Guillaume mit leiser Stimme.

Nuramon nahm sich die Zeit und erzählte dem Heiler bis spät in die Nacht hinein von den zwanzig Jahren, die er in Noroelles Gegenwart verbracht hatte. Seine Worte brachten ihm all das, was er mit seiner Liebsten erlebt hatte, wieder in Erinnerung. Als er aber zum Ende kam, schlug seine Stimmung um, denn nun, da alles erzählt war, wurde ihm klar, dass all das verloren war und Noroelle wohl niemals zurückkehren würde. Auch Guillaume wirkte zutiefst aufgewühlt, nun, da er um das Opfer seiner Mutter wusste.

»Du hast den Schleier, der meine Herkunft umgab, zerrissen«, sagte der Heiler. »Und du hast mir erklärt, woher meine Kräfte kommen. Aber du hast mir nicht gesagt, was dich herführt.«

Nuramon atmete tief durch. Nun war es also so weit. »Ich fragte meine Königin, was ich tun könne, um Noroelle zu retten. Und sie sagte, ich solle ausziehen, um dich zu töten.«

Guillaume nahm diese Nachricht sehr ruhig auf. »Das hättest du längst tun können. Warum lässt du mich am Leben?«

»Aus dem gleichen Grund, aus dem deine Mutter dich damals in diese Welt brachte. Weil ich nichts vom Devanthar in deinem Gemüt spüren kann.«

»Aber dass meine Heilkräfte deinen Gefährten töteten, das muss das Erbe meines Vaters gewesen sein. Und wer weiß, was noch in mir schlummert!«

»Hättest du den Tod Gelvuuns hingenommen, um die Hand des Mannes zu heilen?«

»Niemals.«

»Dann ist zumindest dein Geist frei von der finsteren Kraft des Devanthars, auch wenn sich sein Wesen in deiner Magie spiegelt.«

»Aber das ist ja das Verhängnis. Schuldlos bin ich schuldig. Meinetwegen wurde meine Mutter verbannt. Meinetwegen starb dein Gefährte. Und doch kann ich nichts dafür. Es scheint, als bestünde meine Schuld darin zu leben.«

»Und genau deswegen ist es falsch, dich zu töten. Und deshalb möchte ich meinen Auftrag auf andere Weise zu Ende führen, als die Königin es vorgesehen hat. Auch wenn ich dadurch ihren Zorn auf mich ziehe.«

»Würdest du mich fliehen lassen?«

»Ja, das würde ich. Doch meine Gefährten würden dich rasch aufspüren.« Nuramon dachte an Ollowain. »Du musst verstehen, warum ich hier bin. Wäre ich es nicht, dann wärst du jetzt schon tot. Ich bin gekommen, um dir ein Angebot zu machen, das vielleicht dein Leben retten und Noroelle befreien kann. Es ist jedoch nicht mehr als eine vage Hoffnung.«

»Sprich es aus!«

»Ich könnte dich zur Königin bringen und auf dem Weg nach Albenmark jede Gefahr von dir fern halten. Wenn du am Hof zu Emerelle sprichst, dann magst du sie vielleicht von deinem wahren Wesen überzeugen, so wie du Noroelle und auch mich überzeugt hast. Das ist das Einzige, das ich dir anbieten kann.«

»Ich werde dein Angebot annehmen«, entgegnete Guillaume, ohne zu zögern. »Um meiner Mutter willen.«

Nuramon bewunderte den Heiler insgeheim. Er fragte sich, ob er ebenso bereitwillig zugesagt hätte, denn es gab keine Sicherheit, dass die Königin sich gnädig zeigen würde. Es mochte gut sein, dass Emerelle an ihrer Entscheidung festhielt. Doch Nuramon hatte trotz allem, was geschehen war, so viel Vertrauen in die Königin, dass er zweifelte, dass sie sich seinem Einwand verschließen konnte.

»Wann sollen wir aufbrechen?«

»Spätestens am Mittag sollten wir die Stadt verlassen. Eile brauchen wir nicht zu haben.«

»Dann erzähle mir etwas über Albenmark.«

Nuramon beschrieb Guillaume das Herzland, erzählte ihm aber auch von Alvemer, der Heimat Noroelles. Als der Hahn krähte, endete Nuramon und schlug vor, sie sollten am besten mit dem Tag ausziehen, damit sie unbemerkt gehen konnten.

Guillaume stimmte zu und packte seine Sachen. Dann dankte er Nuramon, dass er ihm die Wahrheit gesagt hatte. »Ich werde es dir nie vergessen.«

Nuramon war zufrieden. Er hatte sein Ziel erreicht, auch wenn er sich damit gegen den Auftrag der Königin gewendet hatte. Sicherlich würde Ollowain murren, doch sie würden den Sohn Noroelles zu Emerelle bringen. Das war ein Kompromiss, mit dem der Schwertmeister sich zufrieden geben musste. Dennoch würde er vorsichtig sein und den Elfenkrieger im Auge behalten.

Guillaume bereitete sich einen Brei aus Hirse, Haselnüssen und Rosinen. Er fragte Nuramon, ob er ebenfalls etwas essen wolle, doch dieser lehnte dankend ab. Der Heiler saß gerade beim Frühstück, als draußen in der Stadt Unruhe aufkam. Nuramon lauschte, er glaubte Schreie zu hören. Als er die Hufschläge von Pferden vernahm, sprang er auf, und seine Hand fuhr zum Schwert.

»Was ist da los?«, fragte Guillaume.

»Nimm deine Sachen!«, sagte Nuramon. In den Gassen vermischte sich jetzt Kampfeslärm mit Schmerzensschreien. Die Stadt wurde angegriffen!

Guillaume sprang auf und griff nach seinem Bündel.

Der Kampfeslärm kam näher. Plötzlich donnerte etwas gegen die Haustür, und Nuramon sah zu seinem Entsetzen, wie sie aufschwang. Eine Gestalt stürmte zu ihnen herein. Nuramon zog sein Schwert, um den Eindringling niederzustrecken. Er erschrak, als er die Gestalt erkannte. Es war niemand anderes als …

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