Drei Sandkörner

Farodin lehnte den Kopf an die Wand. Ein schmaler Lichtstreif fiel durch das geheime Schlupfloch, das hinaus auf den Balkon vor dem Gemach der Königin führte. Er dürfte nicht hier sein …

Er trug ein unscheinbares graues Wams, eng anliegende graue Hosen und einen weiten grauen Kapuzenumhang, dazu dünne Lederhandschuhe sowie einen breiten Gürtel und Armschienen, in denen Dolche steckten. Er hoffte, dass er von den Waffen keinen Gebrauch machen musste. Tief unter sich hörte Farodin im Labyrinth der verborgenen Stiegen und Gänge das Gelächter der Kobolde. Eine ganze Generation von ihnen war herangewachsen seit dem Tag, an dem Noroelle verurteilt worden war.

In hilfloser Wut ballte Farodin die Fäuste. Zu frisch war der Schmerz. So oft hatte er der Königin als geheimer Henker gedient, und nie hatte er dabei an ihrem höheren Verständnis der Gerechtigkeit gezweifelt. Nicht einen Gedanken hatte er daran verschwendet, dass ihre geheimen Todesurteile womöglich nichts anderes als Willkür waren. Nun hatte ihr Urteil sein Leben vernichtet, auch wenn er noch stand und atmete.

Niemand kannte Noroelle so, wie er sie kannte. Niemand wusste, dass sie einst Aileen gewesen war, die an seiner Seite im Kampf gegen die Trolle ihr Leben gelassen hatte. Jahrhunderte hatte er nach ihr gesucht, und nun, da er sie gefunden hatte, war sie ihm erneut entrissen worden. Dieses Mal konnte er nicht auf Aileens Wiedergeburt hoffen. Stürbe sie an ihrem Verbannungsort, dann gäbe es keinen Weg zurück. Ihre Seele wäre für immer an jenem Ort gefangen.

Tränen der Wut rannen Farodin über die Wangen. Noroelle war getäuscht worden durch einen Devanthar, eine Kreatur, die doch als Meister der Täuschung galt! Und der Dämon hatte sich ihrer Liebe bedient …

Warum hatte er Nuramons Gestalt angenommen? Farodin bemühte sich, die aufkeimenden Zweifel zu unterdrücken. Vergebens. Hatte der Devanthar vielleicht etwas gewusst? Hätte Noroelle bei der Rückkehr der Elfenjagd Nuramon erwählt? Waren ihre Worte an Obilee nur ein Trost für ihn gewesen, leicht dahingesprochen in der Gewissheit, dass sie beide sich nie wiedersehen würden?

Immerhin musste sie sich dem falschen Nuramon sehr schnell hingegeben haben. So viele Jahre hatten sie beide um sie gefreit, und sie hatte keine Entscheidung treffen können … Und dann konnte sie es in einer Nacht. Es musste der Zauber des Devanthars gewesen sein, versuchte Farodin sich einzureden.

Noroelle war unschuldig! Sie war reinen Herzens … Sie ist reinen Herzens! Sie lebt! Und deshalb würde er sie finden, schwor sich Farodin. Ganz gleich, wie lange seine Suche auch dauern mochte! Die Königin hatte kein Recht dazu gehabt, die schwerste aller Strafen über Noroelle zu verhängen. Er würde das Urteil nicht akzeptieren. Farodin blickte zu dem schmalen Lichtstreif am Ende der Treppe. Er sollte wirklich nicht hier sein … Doch was galt das jetzt noch? Emerelle hatte ihn dazu benutzt, ihre Gerechtigkeit zu üben, wo gesprochenes Recht nicht mehr weiterhalf. Nun würde er seine Gerechtigkeit üben!

Entschlossen zwängte sich Farodin durch den schmalen Spalt. Er schlich zum Geländer des Balkons und spähte in die Tiefe. Eine Kuppel von Eis verbarg den Thronsaal vor seinen Blicken, aber er wusste, dass Emerelle dort unten Hof hielt.

Er trat an die breite Flügeltür zum Gemach der Königin und fand sie unverschlossen. Lag es an ihrer Überheblichkeit? Verließ sie sich darauf, dass ein Tabu sicherer war als jedes Schloss?

Farodin verwischte die flachen Fußabdrücke, die er im frischen Schnee hinterlassen hatte, und drückte dann vorsichtig die Tür auf. In all den Jahrhunderten, die er Emerelle nun schon als ihr geheimer Henker diente, hatte er niemals ihre Gemächer betreten. Er war überrascht, wie bescheiden sie ausgestattet waren. Die wenigen Möbel waren von schlichter Eleganz. Die Glut des niedergebrannten Feuers im Kamin tauchte das Schlafgemach in rotes Zwielicht. Es war angenehm warm.

Farodin sah sich verwirrt um. Er wusste, dass es eine Gewandkammer geben musste, einen Raum, in dem die Königin ihre prächtigen Kleider verwahrte; Noroelle hatte einmal davon gesprochen. Hier sollte seine Suche beginnen! Er musste das Kleid finden, das Emerelle getragen hatte, als sie Noroelle in die Verbannung geführt hatte. Aber wo mochte sich der Zugang zur Gewandkammer verbergen? Außer der Flügeltür zum Balkon und einer Tür, die hinaus zum Treppenhaus führen musste, sah er keine weitere. Er tastete die Wände ab, blickte hinter Gobelins und blieb schließlich vor einem großen Spiegel stehen. Er war in einen Rahmen aus Ebenholz mit Perlmuttintarsien gefasst. Farodins Finger glitten über die stilisierten Blüten und Blätter. Eine Rose war von einer deutlich sichtbaren Fuge umgeben. Vorsichtig drückte der Elf auf das Perlmuttstück. Ein leises Klicken erklang, dann glitt der Spiegel zur Seite. Überrascht trat Farodin einen Schritt zurück. Hinter dem Spiegel lag ein Raum voller leuchtender Gestalten. Kopfloser Gestalten … Der Elf atmete aus und lachte leise. Es waren nur Kleider. Man hatte sie auf Puppen aus Weidengeflecht gespannt, damit sie ihre Form behielten. Unter den Kleiderpuppen standen Duftkerzen, welche sie wie große Lampions leuchten ließen.

So schlicht das Schlafgemach der Königin war, so wunderbar war diese Kammer. Farodin war ganz benommen von der Vielzahl der Gerüche. Pfirsich, Moschus und Minze waren die vorherrschenden Duftnoten. Emerelle kleidete sich nicht nur in Gewänder, sie kleidete sich auch in Düfte.

Die Kammer krümmte sich entlang der Außenwand des Turms, sodass man von der Tür aus nicht den ganzen Raum überblicken konnte. Farodin trat über die Schwelle; mit leisem Schaben schloss sich die Spiegeltür hinter ihm. Noch immer war der Elf ganz gefangen von der Vielzahl der Eindrücke. An den Wänden waren Samtkissen auf kleine Simse gebettet und prunkten mit dem Schmuck der Königin. Perlen und Edelsteine in allen Regenbogenfarben funkelten im warmen Licht. Es musste eine Lust sein, zwischen all den Kleidern und dem Schmuck zu träumen.

Fenster gab es hier seltsamerweise keine.

»Noroelle«, flüsterte der Elf. Sie hätte die Gewandkammer der Königin geliebt. Die Vielzahl der Kleider. Jagdkostüme in Samt und Wildleder, Abendkleider aus erlesener Spitze, hauchzarte, durchscheinende Seidengewänder, die Emerelle gewiss niemals in Gegenwart des Hofstaats tragen würde. Prächtiger Brokat, in Form gehalten von Walbarten und Draht; Korsagen steifer Feierlichkeiten und eines Hofzeremoniells, das sich in Jahrhunderten nicht geändert hatte.

Ellenlange Regale waren gefüllt mit Schuhen, die auf Spannern aufgezogen waren. Schmale Tanzschuhe, Schuhe aus Stoff und Stiefel mit schweren Lederstulpen. Ein breites Sims lag voller Handschuhe.

Farodin kniete nieder und holte aus seinem Lederbeutel einen Ring hervor; drei kleine, dunkelrote Granate waren darin eingelassen. Es war Aileens Ring. Auf der Suche nach ihr war er ihm eine große Hilfe gewesen. Er war ein Anker, fest in den Abgründen der Vergangenheit verkeilt, und er half Farodin, sich auf seine Geliebte zu konzentrieren. Der Smaragd, das Abschiedsgeschenk Noroelles, würde ein zweiter Anker sein. Leise flüsterte er die vertrauten Worte der Macht und wob den Zauber des Suchens. Es war der einzige Zauber, den er gemeistert hatte, und er war erprobt in den Jahrhunderten der Suche nach Aileen.

Unter all den Kleidern dieser Kammer musste auch jenes Gewand sein, das Emerelle getragen hatte, als sie Noroelle in die Verbannung verstoßen hatte. Wenn er es fand, mochte dies der erste Schritt zu Noroelle sein. Farodin hatte einen Plan, der so verzweifelt war, dass er zu niemandem darüber sprechen würde.

Die Macht des Zaubers durchdrang den Elfen. Er griff nach dem Edelstein. Dann richtete er sich langsam auf. Mit geschlossenen Augen tastete sich Farodin durch die Gewandkammer, geführt allein von einem vagen Gefühl. Sehnsucht und Erinnerung verdichteten sich. Einen Herzschlag lang war ihm, als würde er durch Noroelles Augen sehen. Er blickte ins Antlitz der Königin; in ihren Zügen spiegelten sich Entschlossenheit und beherrschte Trauer. Das Bild verschwamm. Farodin schlug die Augen auf. Er stand vor einer Kleiderpuppe, über die ein Gewand aus blauer Seide gespannt war. Es war durchwirkt von Silber- und Goldfäden, die verschlungene Runenmuster formten. Wie Knochen zeichneten sich die Weidenruten durch das Licht der Kerze unter dem Kleid ab.

Farodin lief ein Schauer über den Rücken. Dies also hatte Emerelle getragen, als sie seine Liebste verbannt hatte. Seine Finger glitten über den zarten Stoff. Tränen traten ihm in die Augen. Lange stand er einfach nur da und rang um seine Beherrschung.

Die Runen auf dem Gewand waren durchdrungen von magischer Macht. Wenn seine Finger sie streiften, dann spürte er ein Prickeln auf der Haut und mehr … Er durchlebte Noroelles Gefühle im Augenblick des Abschieds. Etwas von ihnen war in den Runen gefangen. Und da war keine Angst. Sie hatte sich in ihr Schicksal ergeben und war im Frieden mit sich und der Königin gegangen.

Farodin schloss die Augen. Er zitterte jetzt am ganzen Leib. Die Macht der Runen hatte auch ihn durchdrungen. Er sah ein Stundenglas auf einem Stein zerbrechen und spürte, wie das magische Gleichgewicht erschüttert wurde. Der Weg zu Noroelle war verschlossen. Sie war entrückt. Unauffindbar …

Der Elf brach in die Knie. In verzweifeltem Trotz wob er noch einmal den Zauber des Suchens. Er hatte gewusst, was geschehen war. Doch es nur zu wissen oder es durch die Macht der Runen mitzuerleben waren zwei verschiedene Dinge …

»Kommt«, flüsterte er. »Kommt zu mir!« Er hielt die Hand ausgestreckt und dachte an das Stundenglas. Wind zerrte an ihm und wollte ihn fortreißen. Er war inmitten wirbelnden Sandes, schien im Strudel des Stundenglases gefangen.

Erschrocken schlug Farodin die Augen auf. Es war nur eine Vision, ein Trugbild, geboren aus seiner Sehnsucht, und doch … In der Gewandkammer schien es dunkler geworden zu sein, so als wäre dort etwas Fremdes. Etwas, das das Licht der Kerzen langsam erstickte.

Drei winzige, glühende Pünktchen erhoben sich von der kalten, blauen Seide und schwebten in Farodins Hand. Drei Sandkörner aus dem Stundenglas, das Emerelle zerschlagen hatte. Sie mussten sich in den Falten des Gewandes verfangen haben.

Der Zauber und der Sturm seiner Gefühle hatten Farodin entkräftet. Und doch pflanzten die drei langsam verblassenden Lichtpunkte den Keim neuer Hoffnung in sein Herz. Er würde Noroelle wiederfinden, und wenn er noch einmal siebenhundert Jahre nach ihr suchen musste. Er schob den Smaragd tief in die Hosentasche. Die Sandkörner aber wollte er fest in der Hand behalten. Sie waren der Schlüssel. Wenn er alle Sandkörner aus dem zerschlagenen Stundenglas wiederfand, dann konnte er den Zauber der Königin brechen. Dies war der einzige Weg, der zu seiner Liebsten führte!

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