Die letzte Pforte

Es war Morgen. Am Waldrand waren Fjordländer und Albenkinder versammelt und schauten zu ihnen auf die Lichtung. Farodin und Nuramon standen vor dem offenen Grab ihres Freundes. Und sie waren von den Großen der Albenkinder umgeben: von Emerelle, Wengalf, Thorwis, Yulivee und Obilee. Auch Nomja und Giliath waren hier. Selbst Orgrim und Skanga hatten es sich nicht nehmen lassen, dem Menschenkönig die letzte Ehre zu erweisen. Von den Firnstaynern waren Beorn und die blasse junge Königin gekommen, die man auf einem Stuhl zum Rand des Grabes tragen musste.

Farodin und Nuramon blickten in die schmale Grube. Dort lag der Körper ihres Freundes. Er trug die Rüstung des Alfadas, und neben seinem Kopf waren die abgeschnittenen Zöpfe in das dunkle Erdreich gebettet. Nach dem Brauch der Fjordländer hatte man dem Toten Gaben ins Grab gelegt. Von den Firnstaynern hatte er Brot, Trockenfleisch und einen Krug voll Met bekommen, der mit einer Holzplatte abgedeckt war. Sie sagten, Mandred brauche die Wegzehrung, denn die goldenen Hallen der Götter lägen weit entfernt. Die Kentauren hatten ihm den besten Wein aus Dailos an die Seite gegeben. Von den Zwergen hatte er ein Fernrohr erhalten und von den Trollen einen roten Barinstein. Emerelle aber schenkte ihm eine Krone aus Gold und Silber, die ihm auf der Stirn saß und ihm einen Glanz verlieh, wie ihn gewiss kein Menschenherrscher je geboten hatte. Um seinen Hals trug Mandred zwei Ketten mit elfischen Amuletten der Freundschaft. Es waren Geschenke von Farodin und Nuramon. In Elfenrunen stand dort _Liuvar Alveredar_ geschrieben, _Frieden für den Freund_. In Nuramons Amulett war ein Saphir eingelassen, in Farodins ein Diamant. Die Kobolde hatten diese Stücke in nur einer Nacht gefertigt.

Xern trat näher und gab vier Kriegern aus der Leibwache der Königin mit einer unscheinbaren Geste ein Zeichen. Mit Speeren führten sie ein weißes Tuch aus Feenseide in die Tiefe und spannten es über den Körper des toten Königs. Dann kamen zwei weitere Wachen hinzu, und sie schaufelten das Grab zu. Dunkle Erde fiel auf das helle Seidentuch, und mit jeder Schippe Erde trat das Weiß der Feenseide zurück, bis das Tuch schließlich ganz mit Erde bedeckt war. Der Barinstein der Trolle leuchtete auf und war das letzte Licht, das zwischen der Erde hervordrang. Doch bald war auch dieses bedeckt.

Für Farodin war Mandred nun endgültig fort. Es hatte in seinem Leben nur einen Verlust gegeben, der ihm mehr Schmerzen bereitet hatte. All die Albenkinder, die gestern in der Schlacht gefallen waren, würden wie nach jedem großen Krieg wiedergeboren werden. Eine Zeit der Liebe würde all den Seelen neue Körper schenken. Doch Mandred und die anderen Menschen hatten ihr einziges Leben geopfert, um die Schlacht zu gewinnen. Das passte zu Mandred. Für einen Freund selbst bis in die Höhle der Trolle zu gehen!

Farodin lief eine Träne über die Wange, als er an all die Abenteuer dachte, die er mit Mandred erlebt hatte, angefangen bei der Elfenjagd, über die Suche nach Guillaume, den quälenden Weg durch die Wüste, die Befreiung der Elfen aus der Festung der Trolle, bis hin zu der letzten Schlacht um Albenmark. Als Jarl eines unbedeutenden Dorfs war er zum legendenumwobenen Ahnherrn der Königsfamilie des Fjordlands geworden und hatte seinem Volk den Pfad nach Albenmark gewiesen. Mandred war für die Fjordländer das, was die erste Yulivee für die Elfen von Valemas, was Wengalf für die Zwerge und Emerelle für die Albenkinder war. Er war immer wieder nach Firnstayn zurückgekehrt, während die Jahrhunderte verstrichen waren. Er hatte das Leben eines Albenkindes gelebt und war als Held gestorben. Zwar flossen Farodins Tränen, doch wenn er ehrlich war, dann hatte Mandred ein vollendetes Leben geführt.

Nuramon konnte Mandreds Tod nicht fassen. So lange er den toten Körper seines Freundes gesehen hatte, war ihm klar gewesen, dass sein Gefährte gestorben war. Doch nun hätte er sich am liebsten in die zur Hälfte gefüllte Grube gestürzt, um seinen Freund wieder auszuscharren. Ohne ihn in die Andere Welt zu gehen, schien ihm unvorstellbar. Er war ein guter Gefährte gewesen und sein bester Freund. Auch konnte er einfach nicht glauben, dass für die Menschen mit dem Tode alles endete. Sie lebten in Ungewissheit, und vielleicht war es das, was ihr Leben so wertvoll machte. Niemand wusste, was nach dem Tod mit ihrer Seele geschah. So musste jeder das Beste aus sich machen. Und Mandred hatte mehr erreicht als jeder andere Mensch. Selbst unter den Albenkindern gab es nur wenige, die auf ein solches Dasein zurückblicken konnten.

In den fast fünfzig Jahren, die Nuramon in Firnstayn verbracht hatte, war ihm bewusst geworden, wie sehr die Fjordländer Mandred verehrten. Sie sahen in ihm sowohl den glanzvollen Ahnherr als auch den bodenständigen Krieger, der sich nicht zu fein war, mit seinen Nachfahren ein derbes Trinklied anzustimmen. Nuramon musste an die Geschichten der Frauen am Firnstayner Hof denken, die er damals vernommen hatte. Mandred der Liebhaber! Das ließ ihn lächeln. Er erinnerte sich noch an jene Nacht, da er Mandred zum ersten Mal gesehen hatte. Er hatte gehört, dass der fremde Menschensohn die Frauen an Emerelles Hof mit anzüglichen Blicken bedacht hatte. Nuramon war deswegen gegen Mandred voreingenommen gewesen, weil er fürchtete, er könnte Noroelle auf die gleiche Weise ansehen. Doch kaum hatte er den rauen Nordmann erblickt und ihn reden hören, da hatte er nicht umhingekonnt, Gefallen an ihm zu finden. Und während er diesen Gedanken nachhing, beobachtete Nuramon, wie das Grab seines Freundes sich langsam füllte.

Als die Leibwachen der Königin ihre Arbeit getan hatten, wichen sie zurück. Xern trat nun ans Grab und öffnete seine Hand. Darin war eine Eichel, und Nuramon musste an die Worte Yulivees in der Nacht vor der letzten Schlacht denken.

Der Hofmeister sprach: »Dies ist die Eichel Atta Aikhjartos.

Auch im neu erblühten Albenmark wird er der Älteste unter den Seeleneichen sein, ebenso wie Mandred der älteste Mensch von Albenmark war.« Xern kniete sich ans Grab, und sein mächtiges Geweih beugte sich vor. Mit den Händen schuf er eine Mulde, in die er die Eichel Atta Aikhjartos legte. Dann füllte er die Mulde mit Erde. Nachdem er sich erhoben hatte, sagte er feierlich: »Hier wird sich die Seele des alten Eichenvaters mit dem Leib des großen Menschensohnes verbinden. In seiner Weisheit hatte Atta Aikhjarto Mandred einen Teil seiner Macht geschenkt, denn er sah diesen fernen Tag und wusste um das Schicksal des Menschensohns. Und er wusste, dass für seine Seele hier über Mandreds Körper ein neues Leben beginnen würde. Aikhjartos Wurzeln werden Mandred umfassen und das, was von dem Menschensohn zurückblieb, in sich aufnehmen. Ein neues Wesen wird entstehen. Und ihm soll diese Lichtung gehören. Der Albenstern hier ist fortan der des Mandred Aikhjarto.« Xern trat vom Grab zurück und blickte Farodin und Nuramon zuversichtlich an.

Emerelle kam nun vor, fasste die Hand der jungen Königin Gishild und sprach: »Mandred hat wie ein Albenkind gelebt und ist wie einer unserer Helden gestorben. Mit ihm wollen wir jeden Menschen fortan als Albenkind betrachten. Denn selbst die Weisesten unter uns kennen nicht euer Geheimnis. Wir wissen nicht, woher ihr kamt und wohin ihr gehen werdet. Doch mein Herz würde sich freuen, wenn das, was ihr Fjordländer die goldenen Hallen der Götter nennt, nichts anderes wäre als das Mondlicht. Und wenn dies die Wahrheit ist, dann wird Mandreds Seele uns alle eines Tages dort erwarten, auch wenn er seinen Körper hier zurücklassen muss.«

Nuramon kamen erneut die Tränen. Der Gedanke, Mandred im Mondlicht wiederzusehen, rührte ihn. Er glaubte fest daran. Eine Seele verschwand nicht einfach. Und auch wenn fast alle Albenkinder mit ihrem Körper, ja sogar mit dem, was sie auf dem Leib trugen, im Mondlicht verschwanden, so waren es doch ausgerechnet die beseelten Bäume, denen man nachsagte, dass sie ihren Körper zurückließen, um ins Mondlicht zu schweben. Nuramon glaubte daran, dass es Mandred ebenso ergehen würde.

Farodin blickte auf die Stelle, an der Xern die Eichel vergraben hatte. Er und Nuramon hatten sich oft gefragt, wie Atta Aikhjartos Magie Mandred verändert hatte. Nun, am Ende des Weges, hatten sie die Antwort erhalten. Mandred war seit dem Tag, da er nach Albenmark kam, mit Atta Aikhjarto verbunden. Sein Körper würde sich nun mit der Seele Aikhjartos verbinden.

Die Königin berührte Farodin und Nuramon an den Schultern. »Meine beiden treuen Freunde, es ist Zeit für den Abschied. Der Zauber schreitet voran, die Albenpfade in die Andere Welt werden schwächer. Noch habt ihr Zeit dazu, allen euer Lebewohl zu sagen. Kommt!« Emerelle fasste sie beide an der Hand und führte sie zwischen der Trauergemeinschaft hindurch in die Mitte der Lichtung zu den Pferden.

Farodin und Nuramon hatten in der Nacht über Felbion und den Braunen gesprochen und beschlossen, sie zurückzulassen. Die beiden Pferde waren ihnen treue Gefährten gewesen und hatten es sich verdient, in Albenmark zu bleiben. Also hatten sie die Dinge, die sie mitnehmen wollten, in große Leinentaschen gepackt, die sich bequem über der Schulter tragen ließen. Nun redeten sie den Tieren gut zu. Zu ihrer Überraschung sträubten sie sich nicht, sondern schwenkten den Kopf immer wieder zu Yulivee.

»Bei dir werden sie auch weiterhin gut aufgehoben sein«, sagte Nuramon zu der Zauberin und trat zu ihr, während Farodin zu seinen Verwandten ging. Sie trug rote Trauergewänder, wie sie in Valemas üblich waren; sie waren von weitem Schnitt und aus feinstem Tuch gewoben. »Wir müssen nun Abschied voneinander nehmen. Du bist mir eine gute Schwester gewesen, auch wenn unsere gemeinsame Zeit nur von kurzer Dauer war. Alles, was mir gehörte, ist nun dein. Du trägst mein Vermächtnis, Schwester.«

»Ich werde es mit Würde tragen«, entgegnete Yulivee und zeigte ihr schelmisches Lächeln. »Und ich werde eine Sage schreiben, _Die Sage des Elfen Nuramon_. Sie wird sehr schmeichelhaft sein. Es wird eine lange Erzählung sein, von deiner Geburt bis zu diesem Augenblick. Anschließend werde ich sie bei Hofe vortragen. Dann werden deine Taten und die deiner Gefährten auf ewig gerühmt.«

»Du warst schon als Kind eine gute Erzählerin«, entgegnete Nuramon.

Sie lachte. »Ich komme ganz nach meinem Bruder.«

Nuramon dachte an den Tag zurück, da er Yulivee zum ersten Mal begegnet war. »Ich frage mich, was aus dem Dschinn und den Hütern des Wissens geworden ist.«

»Die Menschen haben die Bibliothek vernichtet.«

Nuramon senkte den Blick.

Yulivee legte die Hand unter sein Kinn und hob seinen Kopf. »Habe ich dir die Geschichte von der mutigen Yulivee erzählt, die auszog, um in Albenmark die Seelen der Dschinnen und die der Hüter des Wissens zu finden? Habe ich das? Nein?« Sie grinste. »Ich fand sie alle und habe sie nach Valemas gebracht. Wir haben dort eine Bibliothek errichtet. Das alte Wissen ist nicht verloren. Eines Tages werden sie sich an ihr früheres Leben erinnern.«

Nuramon schloss sie in die Arme. »Du bist einzigartig, Yulivee. Leb wohl!«

Sie küsste ihn auf die Stirn. »Grüße Noroelle von mir.« Sie hob den Finger in ironischer Drohung. »Und halte dich von den Ordensrittern fern.«

»Das werde ich!«, versprach Nuramon.

Nomja trat näher. Sie trug hellblaue Kleider aus schwerem Stoff, so wie alle Alvemerer an diesem Tag der Trauer. Sie hielt seinen alten Bogen in Händen. »Du solltest ihn mitnehmen. Er wird dir gute Dienste leisten.«

Nuramon schüttelte den Kopf. »Nein, er mag dir ein Zeichen sein. Doch nur, wenn du es willst. Ich habe die Erinnerung an meine früheren Leben erreicht. Und du kannst es ebenso. Dann wirst du dich an unsere Zeit in der Menschenwelt erinnern. Der Tod, der dich dort ereilte, wird verblassen und dir gewiss heldenhaft erscheinen.«

»Und der Bogen soll ein Zeichen dafür sein?«

»Du musst ihn nie spannen. Bogen und Sehne sind immer eins, wie die Seele und das Leben.«

Nomja nickte langsam. »Ich verstehe … Der Weg zur Erinnerung ist lang. Aber ich werde ihn beschreiten, Nuramon.«

»Leb wohl, Nomja!« Er schloss sie in die Arme. »Du warst mir eine gute Kampfgefährtin und eine Freundin.«

»Nuramon!«, rief eine bekannte Stimme, und Wengalf kam mit Thorwis herbei. Der König trug eine goldene Plattenrüstung, der Zwergenzauberer seine schwarze Robe.

Nuramon ging in die Hocke und legte seinem alten Freund die Hand auf die Schulter. »Danke für alles, Wengalf.«

Die Augen des Königs funkelten. »Ich werde Alwerich von diesem Tag erzählen, wenn er wiedergeboren ist. Er wäre gewiss gerne dabei gewesen.«

»Sage ihm, dass ich ihm seine letzte Heldentat nie vergessen werde. Und sag Solstane, dass es mir Leid tut.«

»Das werde ich.«

»Kennst du nun das Geheimnis deiner Schwerter?«, fragte Thorwis.

»Ja. Emerelle hat mir alles erzählt. Und meine Erinnerung ordnet sich allmählich. Ich verdanke euch Zwergen, was ich heute bin. Lebt wohl in euren alten Hallen und vergesst mich nicht.«

Während Nuramon sich nun von seiner Sippe verabschiedete, traf Farodin auf Giliath. Die Kämpferin lächelte ihn an.

Sie hatten sich im Morgengrauen vor Emerelles Burg getroffen, und Giliath hatte das Duell gewonnen. Sie hatte ihm einen Schlag auf die Wange versetzt. Damit war der Kampf entschieden gewesen. »In Valemas ist es Brauch, einem Freund eine Bitte zu erfüllen, bevor man geht«, sagte sie.

»Was ist es?«, fragte er und lächelte zurück. »Wünschst du noch ein Duell?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, diese Fehde ist endgültig ausgetragen … Wenn eines meiner Kinder ein Sohn sein sollte, darf ich ihm deinen Namen geben?«

»Wie viele Kinder gedenkst du denn zu bekommen?«

»Ein langer Krieg ist vorüber, Farodin. Das Sterben hat ein Ende. Es ist die Zeit des Lebens angebrochen. Unzählige Seelen wollen wiedergeboren werden.«

Ihr Lachen drang zu Nuramon. Er wandte sich um, und sein Blick fiel auf Obilee, die abseits stand, als wollte sie das Geschehen aus sicherer Entfernung betrachten. Auch sie trug das blaue Gewand der Alvemerer. Er trat zu ihr. »Möchtest du dich nur von ferne von mir verabschieden?«, fragte er.

»Es ist nur …«, begann sie leise. »Es tut mir Leid, was ich in jener Nacht gesagt habe. Ich hätte schweigen sollen. Den Augenblick, den du mir geschenkt hast, hätte ich nicht annehmen dürfen.«

»Sag das nicht, Obilee. Der Augenblick war dein, und es liegt nichts Schlechtes in ihm.« Er fasste ihre Hand. »Bewahre diesen Moment in deiner Erinnerung als etwas Schönes. Farodin und ich werden nun gehen. Eines Tages werden wir stark genug sein, Noroelle zu befreien. Mach dir keine Sorgen um uns, sondern erinnere dich stets daran, dass wir in der Anderen Welt abseits von allem Übel leben und an dich und all die anderen denken. Wir werden uns ausmalen, wie du einem vortrefflichen Elfen begegnest und dich in ihn verliebst. Und wir werden uns fragen, wie viele Kinder du haben wirst und ob sie ihrer Mutter nacheifern werden. Eines Tages werden wir dich im Mondlicht wiedersehen. Und dann werden wir von dir die Wahrheit erfahren.« Er umarmte sie innig.

»Ich danke dir«, flüsterte sie leise.

Gemeinsam mit Farodin trat Nuramon nun vor die Königin, die mit den anderen am Albenstern versammelt war. Dort lag ein flacher, runder Fels im Boden. In ihm liefen die Pfade zusammen.

Emerelle trug an diesem Tag ein grünes Kleid mit roten Stickereien. Sie empfing die beiden mit den Worten: »Meine beiden treuen Krieger, ich sehe, ihr habt euren Abschied genommen. Hier ist euer Tor, die letzte Pforte in die Andere Welt.« Neben der Königin auf der Felsplatte erschien ein Lichtfaden und schob sich zu einer breiten Wand auseinander, die sich vom einen Ende des Felsens zum anderen spannte. »Ihr beide werdet die Letzten sein, die von Albenmark in die Andere Welt gehen. Lebt wohl, meine Getreuen!« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste sie beide auf die Stirn.

»Leb auch du wohl, Emerelle«, sagte Farodin. »Du warst uns eine gute Königin. Wir bereuen nicht, den Albenstein für all dies geopfert zu haben.« Er deutete zu den Baumkronen. »Albenmark zu verlassen und zu wissen, dass es auf immer blühen wird, beruhigt mich.«

Nuramon machte einen Kniefall vor Emerelle, fasste ihre Hand und küsste sie, wie es früher am Hofe üblich gewesen war. »Meiner Königin sage ich Dank, dass sie immer das tat, was das Schicksal verlangte.« Er richtete sich auf. »Der alten Kampfgefährtin aber möchte ich die Zeit in Ischemon danken.«

Farodin war über die Worte seines Gefährten verwundert. Gewiss, die Königin war einst in Ischemon gewesen, aber das lag so fern zurück, dass nur noch die Märchen davon erzählten.

Nuramon ließ sich nicht beirren. Er sprach weiter. »Ich danke dir für den Pfad, auf den du mich geführt hast und der nun Albenmark verlässt. Leb wohl, Emerelle!«

Die beiden Gefährten waren schon im Begriff, auf das Tor zuzugehen, als die Königin sich noch einmal an sie wandte. »Wartet noch einen Augenblick! Ich kann euch nicht gehen lassen … Nicht, ohne euch meine Entschuldigung mit auf den Weg zu geben.« Aus den Falten ihres Gewandes holte sie etwas hervor, das Farodin und Nuramon erstarren ließ. Es war ein Stundenglas, das fast völlig mit Sand gefüllt war!

Ein Raunen ging durch den Wald. Nuramon sah, dass allein Yulivee und Xern nicht überrascht zu sein schienen. »Ist es _das_ Stundenglas?«, fragte Nuramon.

»Ja, es ist das, mit welchem ich Noroelle verbannte. Ich habe es an dem Stein zerschlagen. Viel des Sandes und auch die Scherben nahm ich mit mir zurück nach Albenmark. Ich versteckte alles tief unter meiner Burg; dort, wo ihr es nicht finden konntet. Ich wusste, der Tag würde kommen, da ich es euch geben wollte. Doch bis heute musste ich die kalte Königin sein, damit all das geschehen konnte, was geschehen ist.« Sie wandte sich an Farodin. »Gib mir den Sand aus deiner Silberflasche!«

Er holte das Fläschchen hervor, und Emerelle öffnete den Deckel des Glases. Farodin entleerte das Silberfläschchen über dem Stundenglas, und der feine Sand rieselte hinab. Dann steckte er das Fläschchen fort und sah zu, wie die Königin den Deckel wieder auf das Stundenglas setzte.

Emerelle sprach: »Es fehlt noch viel Sand. Doch ihr werdet den Rest nicht benötigen, um das Tor zu öffnen. Dies wird die Zauberbarriere brechen. Ihr beiden und Noroelle werdet die letzten Albenkinder in der Anderen Welt sein. Sucht euren Schicksalspfad. Doch handelt nicht töricht. Denn wenn ihr sterbt, werdet ihr nicht bei uns wiedergeboren. Das Mondlicht aber ist für euch in der Anderen Welt erreichbar. Strebt danach! Sucht eure Bestimmung!« Die Königin hielt Farodin das Glas hin.

Mit zitternden Händen nahm Farodin das Stundenglas entgegen. Er tauschte einen Blick mit Nuramon, der noch immer wie erstarrt war. »Wir danken dir, Emerelle!«, war alles, was Farodin hervorbrachte. Er warf einen letzten Blick zu Giliath und Orgrim, mit dem ihn nicht länger der Wunsch nach Rache verband. Sie lächelten ihm zu, und der Trollkönig winkte gar mit seinen gewaltigen Armen.

»Geht! Die Pfade in die Andere Welt sind fast verblasst. Ihr müsst jetzt aufbrechen, oder ihr müsst für immer bleiben.«

Nuramon legte Farodin die Hand auf die Schulter. »Komm!« Sein Gefährte blickte ihn an und nickte mit einem Schmunzeln. Dann schritten sie Seite an Seite voran ins Licht. Nuramon hatte sich vorgenommen, nicht mehr zurückzublicken, doch als er vom Licht umgeben war, konnte er nicht anders, als über die Schulter zu sehen. Da standen sie und lächelten ihnen zu: Emerelle und Yulivee, Obilee, Nomja, ihre Verwandten und Wengalf. An Mandreds Grab war Xern, der ihm würdevoll hinterherschaute. Nuramon wollte all diese Gesichter für immer im Gedächtnis behalten. Langsam verblasste die Lichtung hinter ihm, und damit verschwanden all jene, die er lieb gewonnen hatte. Zurück blieb nur das Weiß des Tores, durch das er schritt. Seine Augen würden Albenmark nie wiedersehen.

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