»Holt das Vorsegel ein!«
Farodins Finger krallten sich um die Reling. Das war nicht zu fassen! Die Schiffe der Trolle waren ohnehin schon quälend langsam, und jetzt holten sie auch noch das Segel ein! Der Elf stand auf dem turmhohen Achterkastell der _Zermalmer_, des Flaggschiffs von Herzog Orgrim. Zwanzig Schiffe umfasste die Flotte, die Boldor, der König der Trolle, aufgeboten hatte. Jeder dieser schwerfälligen Segler erinnerte an eine schwimmende Burg, und die größten von ihnen hatten mehr als dreihundert Trollkrieger an Bord. Diese Streitmacht würde die Entscheidung bringen, wenn sie sich denn in die Schlacht bewegte.
Herzog Orgrim stand beim Steuermann und beriet sich mit Skanga, seiner Schamanin. Es war zum Aus-derHaut-Fahren, dachte Farodin. Sie kamen ohnehin schon spät. Am Horizont konnte er als dünne weiße Linie vor dem grauen Küstengebirge die Segel der feindlichen Flotte ausmachen. Einzelne Rauchsäulen verrieten, dass die Schlacht schon begonnen hatte. Der Angriff der Trolle würde den Kampf entscheiden. Und was taten diese hinterhältigen Elfenfresser? Sie refften die Segel!
»Du machst so ein verkniffenes Gesicht, Gesandter.« Orgrim und die Schamanin waren zu ihm herübergekommen. Der Trollfürst war zum Kampf gewappnet. Er trug einen Brustpanzer aus dunklem Leder. Ein Bärenfell war um seine Schultern geschlungen. Er stützte sich auf einen Kriegshammer, dessen Kopf aus grauem Granit geschnitten war.
»Es muss an meiner Einfalt liegen, doch vermag sich mir die Strategie, mit der ihr die Schlacht unterstützt, nicht zu erschließen«, entgegnete Farodin, bemüht, nicht allzu deutlich zu sagen, was er von den Verbündeten hielt.
Die Schamanin sah ihn finster an. Farodin spürte die Macht ihres Zaubers.
»Er glaubt, wir würden in aller Ruhe abwarten, wie die Ordensritter Fjordländer und Elfen niedermachen. Er zweifelt daran, dass wir unseren ehemaligen Feinden wirklich zu Hilfe eilen wollen«, sagte die Alte.
»Farodin ist ein kluger Mann, da er diese Gedanken für sich behält. Würde er mein Volk beleidigen, indem er das offen sagte, müsste ich ihn in einen Sack Steine stecken und über Bord werfen lassen.« Der Trollfürst sah ihn durchdringend an. Farodin wünschte, auch er wüsste um die Gedanken seines alten Feindes. Er hatte Orgrim am Hof des Trollkönigs Boldor wiedergesehen. Der König hatte ihn als Gesandten Emerelles mit allen Ehren empfangen, und sehr zu Farodins Überraschung hatte Boldor dem Hilfegesuch zugestimmt, nachdem er sich eine Nacht lang mit seinen Fürsten beraten hatte.
Anschließend äußerte Orgrim den ausdrücklichen Wunsch, dass der Gesandte an Bord seines Schiffes untergebracht werde. Vom ersten Augenblick an, den Farodin sich unter den Trollen der Nachtzinne bewegte, hatte er ihre Feindschaft gespürt. Er war davon überzeugt gewesen, die erste Nacht an Bord der _Zermalmer_ nicht zu überleben. Der Herzog allerdings bemühte sich um ihn und versuchte immer wieder mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er verzichtete sogar darauf, ihm jegliche Art Fleisch servieren zu lassen.
»Wann werden wir angreifen?«, fragte Farodin ungeduldig. Das Schiff war gefechtsbereit. Auf dem Hauptdeck und dem Vorderkastell drängten sich Trolle mit riesigen Schilden. Steine, die offenbar als Wurfgeschosse dienen sollten, lagen entlang der Reling bereit. Die kleinsten der Steine waren noch so groß wie ein Kinderkopf. Die größten aber waren massige Felsbrocken. Farodin fragte sich, wie selbst ein Troll solche Steine heben wollte.
»Du spürst es nicht?«, fragte Skanga. Bei jeder ihrer Bewegungen raschelten die Federn, Knochen und Steine, die auf ihr grobes Lederkleid aufgenäht waren und die ihr in unzähligen Schnüren vom Hals hingen.
»Was spüre ich nicht?«
»Die Macht der Magie, Elflein. Die Macht der Magie.« Die Schamanin kicherte. »Der Tidenhub hat sich verändert. Die Ebbe will nicht einsetzen. Kannst du ermessen, wie mächtig man sein muss, um das Spiel der Gezeiten zu verändern? Wahrlich mächtige Magie ist das.«
»Refft das Hauptsegel!«, befahl Orgrim. »Werft Anker.«
Farodin spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Das durfte alles nicht wahr sein! »Hättest du die Freundlichkeit, mir zu sagen, was das zu bedeuten hat, Orgrim?«
Der Herzog deutete zum Schiff des Königs. Am Hauptmast wurde eine große rote Fahne aufgezogen. »Boldor ruft alle Fürsten und Schamanen zum Kriegsrat. Er wird wollen, dass du auch kommst.« Orgrim wandte sich kurz ab und winkte einigen Kriegern zu. »Macht das Beiboot klar!«
»Das ist nicht dein Ernst«, rief Farodin empört.
»Elf, ich weiß, was deinesgleichen von meinem Volk denkt! Aber wir sind keineswegs die ungestüm vorpreschenden Trottel, für die ihr uns haltet. Wir planen unsere Schlachten. Und so wird es auch diesmal sein. Mit einem Magier unter den Menschen, und dazu mit einem so mächtigen, haben wir nicht gerechnet. Wir werden unsere Pläne der veränderten Lage anpassen.«
»Er fürchtet, wir wollen zu den weißen Priestern überlaufen«, sagte die Schamanin.
Farodin hätte der alten Vettel den Hals umdrehen mögen.
Orgrim stieß einen knurrenden Laut aus. Dann ging er in die Knie, sodass er mit Farodin auf einer Augenhöhe war. »Ich weiß, du würdest mich und alle Trolle am liebsten tot sehen. Und du traust uns nicht einmal so weit, wie du spucken kannst. Trotzdem hoffe ich, dass in der Ödnis deiner Rachegedanken noch ein letztes Fünkchen Verstand glimmt. Die Tjuredpriester wollen alle Albenkinder vernichten. Ganz gleich ob Kentauren, Elfen, Blütenfeen … oder Trolle. Wir kämpfen mit euch, weil wir wissen, dass wir an der Seite der Fjordländer und Elfen stärker sind. Und weil wir wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die weißen Priester auch die Nachtzinne und all unsere anderen Burgen angreifen werden. Du bist ein Überlebender der Trollkriege, Farodin. Du weißt, wir warten nicht, bis der Krieg zu uns kommt. Wir tragen ihn in das Land unserer Feinde. Deshalb sind wir hier!«
»Und was hält euch davon ab, in aller Ruhe zuzusehen, wie sich eure Feinde gegenseitig umbringen, um dann den Überlebenden den Rest zu geben?«
Orgrim richtete sich abrupt auf. »So denkt ein Elf, aber kein Troll! Sei vorsichtig, Farodin. Irgendwann ist selbst dein Maß voll.«