Kapitel 6.

Vierundsechzig Minuten waren seit dem Start vergangen, als ein ungläubiger und ein wenig luftkranker Robert

Langdon auf dem sonnenüberfluteten Rollfeld die Gangway hinunterschritt. Eine steife Brise zerrte an den Revers seiner Tweedjacke. Der freie Raum ringsum war ein wunderbares Gefühl. Er spähte hinaus in das üppig grüne Tal, das von schneebedeckten Bergen umgeben war.

Ich träume. Es ist alles nur ein Traum, und ich wache jeden Augenblick auf.

»Willkommen in der Schweiz«, sagte der Pilot. Er musste last brüllen, um den Lärm der herunterfahrenden HEDM-Motoren der X-33 zu übertönen.

Langdon blickte auf die Uhr. Es war sieben Minuten nach sieben.

»Sie haben sechs Zeitzonen durchquert«, beschied ihn der Pilot. »Wir haben kurz nach dreizehn Uhr Ortszeit.«

Langdon stellte seine Uhr.

»Wie fühlen Sie sich?«

Langdon rieb sich den Magen. »Als hätte ich Styropor gegessen.«

Der Pilot nickte. »Höhenkrankheit. Wir waren in fünfundzwanzigtausend Metern Höhe. Dort oben sind Sie ein Drittel leichter. Zum Glück war es nur ein kurzer Sprung - wäre es nach Tokio gegangen, hatte ich die Lady ganz nach oben gebracht - hundertfünfzig Kilometer. Das dreht Ihnen die Eingeweide wirklich um, glauben Sie mir.«

Langdon nickte schwach und beglückwünschte sich im Stillen. Wenn man es genau bedachte, war der Flug

bemerkenswert ereignislos verlaufen. Abgesehen von einer knochenzermalmenden Beschleunigung während des Starts, hatte das Flugzeug sich normal verhalten - hin und wieder kleinere Turbulenzen, ein paar Druckveränderungen während des Steigflugs, doch ansonsten hatte nichts darauf hingedeutet, dass sie mit der irrsinnigen Geschwindigkeit von achtzehntausend Stundenkilometern durch den Fast-Weltraum gerast waren.

Eine Hand voll Techniker eilte auf das Vorfeld, um die X-33 zu warten. Der Pilot führte Langdon zu einer schwarzen Limousine auf einem Parkplatz direkt beim Kontrollturm. Augenblicke später rasten sie über eine asphaltierte Straße, die sich durch das gesamte Tal zog. In der Ferne erhob sich eine Reihe von Gebäuden. Jenseits der Scheiben schienen die Wiesen und Felder zu verschwimmen.

Langdon beobachtete ungläubig, wie der Fahrer bis auf über hundertsiebzig Stundenkilometer beschleunigte. Was hat dieser Typ für ein Problem mit normalen Geschwindigkeiten?, dachte er.

»Fünf Kilometer bis zu unserem Ziel«, verkündete der Fahrer. »In zwei Minuten sind Sie da.«

Langdon suchte vergeblich nach einem Sicherheitsgurt. Warum nicht in drei Minuten und dafür mit heiler Haut?

Der Peugeot raste weiter.

»Mögen Sie Reba?«, fragte der Pilot und schob eine Kassette in das Abspielgerät.

Eine Frau sang: »It’s just the fear of being alone.«

Nein, keine Angst, allein zu sein, dachte Langdon geistesabwesend. Seine Kolleginnen zogen ihn häufig damit auf, dass seine Sammlung musealer Artefakte nichts weiter wäre als der leicht durchschaubare Versuch, ein leeres Heim zu füllen, ein Heim, das ihrer beharrlichen Meinung nach sehr von der Gegenwart einer Frau profitieren würde. Langdon tat die

Bemerkungen stets lachend ab und entgegnete, dass es bereits drei große Lieben in seinem Leben gäbe - Symbolologie, Wasserball und Singledasein. Letzteres bot ihm die Freiheit, durch die Welt zu reisen, so lange zu schlafen, wie er wollte, und stille Abende zu Hause mit einem Brandy und einem guten Buch zu genießen.

»Es ist wie eine kleine Stadt«, sagte der Pilot und riss Langdon aus seinen Tagträumen. »Mehr als nur Labors. Wir haben Supermärkte, ein Spital und sogar ein Kino.«

Langdon nickte mechanisch und blickte hinaus auf die ausgedehnte Ansammlung von Gebäuden, die sich vor ihnen erhob.

»Tatsächlich besitzen wir sogar die größte Maschine der Welt«, fügte der Pilot hinzu.

»Wirklich?« Langdon suchte die Landschaft ab.

»Da draußen suchen Sie vergeblich, Sir.« Der Pilot lächelte. »Sie befindet sich sechs Stockwerke unter der Erde.«

Langdon hatte keine Gelegenheit nachzufragen. Ohne Vorwarnung trat der Pilot auf die Bremse. Mit quietschenden Reifen kam der Wagen vor einem Wachhaus aus Stahlbeton zum Stehen.

Langdon las das Schild vor ihnen: SECURITE. ARRETEZ. Plötzlich begriff er, wo er war, und Panik stieg in ihm auf. »Mein Gott, ich habe keinen Pass dabei!«

»Pässe sind unnötig«, versicherte ihm der Fahrer. »Wir haben eine Ausnahmeregelung mit der schweizerischen Regierung.«

Verblüfft beobachtete Langdon, wie der Fahrer dem Wachtposten einen Ausweis gab. Der Posten schob den Ausweis in einen elektronischen Scanner. Die Maschine blinkte grün.

»Name des Passagiers?«

»Robert Langdon«, antwortete der Fahrer.

»Gast von?«

»Direktor Kohler.«

Der Wachtposten hob die Augenbrauen. Er wandte sich um, blätterte durch einen Computerausdruck und verglich die Daten mit den Anzeigen auf seinem Monitor. Dann wandte er sich wieder dem Fenster zu. »Einen angenehmen Aufenthalt, Professor Langdon.«

Der Wagen raste erneut los und beschleunigte bis kurz vor einen Kreisverkehr, von dem aus es zum Haupteingang der Anlage ging. Vor ihnen ragte eine rechteckige, ultramoderne Konstruktion aus Stahl und Glas auf. Langdon war hingerissen von dem transparenten Design. Er hatte schon immer eine Vorliebe für großzügige Architektur gehabt.

»Die Glaskathedrale«, erklärte sein Begleiter.

»Eine Kirche?«

»Oh, nein. Wir haben hier fast alles, nur keine Kirche. Unsere Religion heißt Physik. Sie können so viele gotteslästerliche Flüche ausstoßen, wie Sie wollen.« Der Fahrer lachte. »Aber wagen Sie nicht, etwas gegen Quarks oder Mesonen zu sagen.«

Langdon schwieg benommen, während der Fahrer den Wagen durch den Kreisel lenkte und vor dem Glasgebäude hielt. Quarks und Mesonen? Keine Passkontrolle? Mach-15-Jets? Wer, zur Hölle, sind diese Leute?

Die große behauene Granitplatte vor dem Gebäude gab ihm die Antwort:

CERN

Conseil Europeen pour la Recherche Nucleaire

»Nukleare Forschung?«, fragte Langdon und war ziemlich sicher, dass seine Übersetzung korrekt war.

Der Fahrer antwortete nicht. Er hatte sich vorgebeugt und drehte an den Knöpfen des Kassettenspielers. »So, wir sind da. Der Direktor wird Sie am Eingang in Empfang nehmen.«

Langdon sah einen Mann in einem Rollstuhl aus dem Gebäude kommen. Er sah aus wie Anfang sechzig, hager, vollkommen kahl und mit strengem Gesichtsausdruck. Er trug einen weißen Laborkittel, und seine Schuhe waren fest in die Fußstütze des Rollstuhls gestemmt. Selbst auf die Entfernung wirkten seine Augen leblos wie graue Steine.

»Das ist er?«, fragte Langdon.

Der Fahrer blickte auf. »Also, wenn das nicht.« Er wandte sich zu Langdon um und grinste beunruhigend. »Wenn man vom Teufel spricht.«

Unsicher, was ihn erwartete, stieg Robert Langdon aus dem Wagen.

Der Mann im Rollstuhl kam auf ihn zu und reichte ihm eine feuchtkalte Hand. »Mr. Langdon? Wir haben miteinander telefoniert. Ich bin Maximilian Kohler.«

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