Kapitel 125.

Robert Langdon fiel nicht mehr.

Er spürte kein Entsetzen mehr, keine Angst. Keinen Schmerz. Nicht einmal mehr das laute Rauschen des Windes. Nichts außer dem leisen Plätschern von Wasser, als schliefe er in einer warmen Nacht an einem Strand.

Robert Langdon spürte mit Gewissheit, dass er tot war. Er war froh darüber. Er ließ sich von der trägen Taubheit erfassen, ließ sie von ihm Besitz ergreifen, ließ sich von ihr tragen. Sein Schmerz und seine Angst waren betäubt, und er wollte um keinen Preis, dass sie zurückkehrten. Seine letzte bewusste Erinnerung konnte nur direkt aus der Hölle gekommen sein.

Nimm mich zu dir...

Doch das Plätschern, das ihn die ganze Zeit eingelullt und ihm ein entferntes Gefühl von Frieden vermittelt hatte, zerrte gleichzeitig an ihm. Es zerrte ihn zurück, versuchte, ihn aus einem Traum zu wecken. Robert wollte nicht aufwachen. Er spürte, wie sich Dämonen am Rand seines Zufluchtsortes sammelten, um seine Glückseligkeit zu zerstören. Verschwommene Bilder wirbelten durch seinen Kopf. Stimmen riefen. Wind pfiff. Nein, bitte nicht! Je mehr er kämpfte, umso heftiger drang die Wut zu ihm durch.

Und dann durchlebte er alles noch einmal, jedes einzelne Detail.

Der Helikopter stieg mit Schwindel erregendem Tempo höher. Robert war darin gefangen. Jenseits der offenen Luke, tief unter ihm, schimmerten die Lichter Roms und entfernten sich mit jeder Sekunde weiter. Sein Selbsterhaltungstrieb sagte ihm, dass er den Kanister jetzt über Bord werfen sollte. Langdon wusste, dass er in zwanzig Sekunden fast einen Kilometer tief

fallen würde. Doch er wusste auch, dass unten eine Stadt voller Menschen war.

Höher! Höher!

Er fragte sich, wie hoch sie inzwischen waren. Kleine Propellerflugzeuge, so wusste er, flogen in einer Höhe von sechs oder sieben Kilometern. Wie hoch war der Helikopter inzwischen? Drei Kilometer? Vier? Noch gab es eine Chance. Wenn sie den Behälter im letzten Augenblick abwarfen, würde er nur einen Teil des Weges nach unten zurücklegen, bevor er in sicherer Entfernung vom Boden und dem Helikopter

explodierte.

»Und wenn Sie sich verrechnen?«, entgegnete der Camerlengo.

Langdon wandte sich verblüfft zu dem Geistlichen um. Der Camerlengo hatte nicht einmal den Kopf gewandt; offensichtlich hatte er Langdons Gedanken aus seinem geisterhaften

Spiegelbild in der großen Windschutzscheibe gelesen. Merkwürdigerweise war er nicht mehr mit den Kontrollen der Maschine beschäftigt. Er berührte sie nicht einmal. Der Hubschrauber flog, wie es schien, mit dem Autopiloten,

während er unablässig weiter stieg. Der Camerlengo griff an die Decke der Kanzel und zog hinter einem Kabelkanal einen Schlüssel hervor, der dort mit einem Streifen Klebeband versteckt befestigt war.

Langdon beobachtete mit zunehmender Verwirrung, wie der Camerlengo rasch die große metallene Bordkiste aufschloss, die sich zwischen den Sitzen befand. Er klappte den Deckel auf und entnahm etwas, das wie ein großer, schwarzer Nylonrucksack aussah. Er legte ihn neben sich auf den freien Sitz. Langdons Gedanken wirbelten. Die Bewegungen des Camerlengos

schienen zielgerichtet, als hätte er eine Lösung gefunden.

»Geben Sie mir den Behälter«, sagte der Camerlengo mit ernster Stimme.

Langdon wusste nicht, was er von alledem halten sollte. Er schob dem Camerlengo den Behälter hin. »Uns bleiben nur noch neunzig Sekunden, Vater!«

Was als Nächstes geschah, traf Langdon völlig unvorbereitet. Der Camerlengo hielt den Antimaterie-Behälter vorsichtig in den Händen und legte ihn in die Bordkiste. Dann schloss er den Deckel und sperrte das Schloss ab.

»Was tun Sie da?«, fragte Langdon.

»Ich erlöse uns von der Versuchung.« Der Camerlengo warf den Schlüssel aus dem offenen Fenster.

Der Schlüssel taumelte in die Nacht, und Langdon hatte das Gefühl, als taumelte seine Seele mit ihm.

Dann nahm der Camerlengo den Nylonrucksack und schob die Arme durch die Tragschlaufen. Er befestigte eine weitere Schlaufe vor dem Leib und zog eine vierte durch den Schritt hindurch nach vorn, um sie ebenfalls einzuhaken. Dann wandte er sich zu einem fassungslos dasitzenden Robert Langdon um.

»Es tut mir Leid«, sagte der Camerlengo. »Es war alles ganz anders geplant.« Mit diesen Worten sprang er aus der Kanzel und verschwand in der Nacht.

Das Bild haftete in Robert Langdons Unterbewusstsein, und mit ihm kam der Schmerz. Physischer Schmerz. Brennend. Verzehrend. Er flehte darum, dass es zu Ende gehen möge, doch als das Wasser lauter in seinen Ohren plätscherte, kamen neue Bilder. Seine Hölle hatte gerade erst begonnen. Er sah die einzelnen Szenen wie Puzzlesteine. Aus dem Zusammenhang gerissene schiere Panik. Er lag halb zwischen Tod und Albtraum gefangen und flehte um Erlösung, doch die Bilder wurden zunehmend heller.

Der Antimaterie-Behälter war außerhalb seiner Reichweite, eingeschlossen in die metallene Bordkiste. Der Countdown lief unerbittlich weiter, während der Helikopter hinauf in den Himmel stieg. Fünfzig Sekunden. Höher. Höher. Langdon wirbelte in der Kabine umher, versuchte einen Sinn in dem zu erkennen, was ihm widerfahren war. Fünfundvierzig Sekunden. Er duckte sich und suchte unter den Sitzen nach einem zweiten Fallschirm. Vierzig Sekunden. Es gab keinen! Es musste doch einen Ausweg geben! Fünfunddreißig Sekunden. Er sprang zur offenen Luke, stand im brausenden Wind und starrte hinunter auf die Lichter Roms. Zweiunddreißig Sekunden.

Und dann traf er eine Entscheidung.

Eine unglaubliche Entscheidung.

Robert Langdon war ohne Fallschirm aus dem Hubschrauber gesprungen. Während die Nacht seinen fallenden Körper verschlang, schien der Helikopter hinauf in den Himmel zu jagen wie eine Rakete. Das Geräusch der Rotoren wurde übertönt vom brausenden Wind des freien Falls.

Langdon stürzte der Erde entgegen und spürte etwas, das er seit den Tagen seiner Laufbahn als Turmspringer nicht mehr gekannt hatte - die unbarmherzige Kraft der Gravitation während des freien Falls. Je schneller er fiel, desto stärker schien die Erde ihn anzuziehen, ihn zu sich herabzusaugen. Diesmal jedoch waren es nicht nur zehn Meter bis in ein Sprungbecken. Diesmal waren es Tausende von Metern hinunter in eine Stadt eine endlose Fläche aus Beton und Steinen.

Irgendwann während des Sturzes, während der Augenblicke der Verzweiflung und im ohrenbetäubenden Rauschen des Windes, fielen ihm Kohlers Worte wieder ein. Worte, die er früher an diesem Tag gesprochen hatte, vor dem Freifallschacht in CERN. Ein Quadratmeter Stoff bremst den freien Fall eines Körpers um fast zwanzig Prozent.

Zwanzig Prozent, so erkannte Langdon, waren nicht einmal annähernd genug, um einen Sturz wie diesen zu überleben. Dennoch umklammerte Langdon den einzigen Gegenstand aus dem Helikopter, den er vor seinem Sprung aus der Luke an sich gerissen hatte. Es war eine seltsame Vorstellung, doch für einen

flüchtigen Augenblick hatte sie ihm Hoffnung gegeben.

Die Persenning, mit der die große Windschutzscheibe abgedeckt wurde, hatte hinten im Hubschrauber gelegen. Es war ein konkaves, rechteckiges Stück Stoff, vielleicht vier Meter mal zwei, die gröbste Improvisation eines Fallschirms, die Langdon sich nur denken konnte. Die Persenning besaß keine Schnüre, kein Geschirr, nur Gummischlaufen an jeder Ecke, mit denen sie um die Wölbung der Windschutzscheibe herum gespannt werden konnte. Langdon hatte die Persenning gepackt, die Hände durch die Schlaufen geschoben, alles an seine Brust gedrückt und war hinaus in das Nichts gesprungen.

Sein letzter Akt jugendlichen Trotzes.

Kein Gedanke an ein Leben nach diesem Augenblick.

Er fiel wie ein Stein. Die Füße voraus. Dann öffnete er die Arme, seine Hände packten die Schlaufen, und die Persenning blähte sich über ihm wie ein Pilz. Der Wind fuhr hinein und riss machtvoll an seinen Armen.

Während er weiter der Erde entgegenraste, erfolgte irgendwo über ihm eine gewaltige Explosion. Sie schien weiter entfernt, als er vermutet hatte. Trotzdem traf ihn die Schockwelle fast im gleichen Augenblick. Er spürte, wie ihm die Luft aus den Lungen getrieben wurde. Dann, plötzlich, war es rings um ihn ganz warm. Er klammerte sich mit aller Kraft an seine Persenning, und eine Hitzewand jagte ihm von oben hinterher. Die Oberseite der Persenning begann zu schmoren. doch sie hielt.

Langdon raste vor einer sich ausdehnenden Kugel aus reinem Licht der Erde entgegen. Er fühlte sich wie ein Surfer, der einer dreihundert Meter hohen Flutwelle zu entgehen versucht. Dann, plötzlich, war die Hitze verschwunden.

Er fiel wieder durch kühle Dunkelheit.

Für einen Augenblick spürte Langdon neue Hoffnung, doch im nächsten Moment verblasste sie so schnell, wie sie gekommen war. Trotz des Zugs auf seinen Armen, der ihm verriet, dass die Persenning seinen Sturz tatsächlich verlangsamte, raste die Luft noch immer mit ohrenbetäubendem Rauschen an ihm vorbei. Langdon wusste, dass er noch immer viel zu schnell sank, um die Landung zu überleben. Der Aufprall würde ihn zerschmettern.

Mathematische Gleichungen drehten sich in seinem Kopf, doch er war zu betäubt, um zu einem Ergebnis zu kommen. Ein Quadratmeter Stoff.... zwanzig Prozent geringere Fallgeschwindigkeit. Er wusste nicht mehr, als dass die Persenning über ihm größer war und seinen Fall stärker verlangsamen würde. Unglücklicherweise jedoch wusste er auch, dass es nicht genug sein würde. Am Wind spürte er, dass er zu schnell fiel. unmöglich, den Aufprall auf dem tief unten wartenden Meer aus Beton zu überleben.

Die Lichter Roms erstreckten sich unter ihm, so weit sein Blick reichte. Die Stadt sah aus wie ein unglaublich heller Sternenhimmel, und Langdon fiel direkt in ihn hinein. Das weite Sternenfeld wurde lediglich von einem dunklen Streifen unterbrochen, der die Stadt in zwei Hälften teilte. Es war ein breites, dunkles Band, das sich wie eine fette Schlange zwischen den weißen Lichtpunkten hindurchwand. Langdon starrte hinunter auf das mäandernde Gebilde.

Einmal mehr stieg unerwartet Hoffnung in ihm auf.

Mit beinahe manischer Energie riss Langdon mit der Rechten an seinem improvisierten Fallschirm. Die Persenning flatterte lauter, blähte und wand sich, bis sie den Weg des geringsten Widerstands gefunden hatte. Langdon spürte, dass er seitwärts trieb. Er zog erneut, noch härter diesmal, ohne den Schmerz in seiner Handfläche zu beachten. Die Persenning blähte sich, und Langdon spürte, wie er sich seitwärts bewegte. Nicht viel, aber ein Stück! Er sah nach unten, zu der schwarzen dicken Schlange. Sie lag weit rechts von ihm, doch er war auch noch ziemlich hoch. Hatte er zu lange gewartet? Er zog mit aller Kraft und akzeptierte, dass nun alles in Gottes Hand lag. Er konzentrierte sich auf den weitesten Teil der Schlange und betete zum ersten Mal in seinem Leben um ein Wunder.

Der Rest war verschwommen.

Die Dunkelheit raste ihm entgegen. seine Turmspringererfahrung kehrte wieder. instinktiv drückte er den Rücken durch. pumpte die Lungen voller Luft, um seine inneren Organe zu schützen. spannte die Schenkel an. das Letzte, woran er sich erinnerte, war Dankbarkeit, dass der Tiber Hochwasser führte und sich schäumend und kalt durch sein Bett wälzte. und dreimal weicher als ein stehendes Gewässer.

Dann der Aufprall. und Schwärze.

Es war das laute Knallen und Flattern der Persenning gewesen, das die Gruppe von dem Feuerball hoch am Himmel ablenkte. Der Himmel über Rom war in dieser Nacht voller spektakulärer Bilder gewesen - zuerst ein Helikopter, der mit Höchstgeschwindigkeit senkrecht nach oben gestiegen war, dann eine gewaltige Explosion, und nun dieses eigenartige Objekt, das direkt in die wilden Strudel des Tiber gefallen war, ein kleines Stück vor dem Ufer der winzigen Isola Tiberina.

Seitdem die Insel als Quarantänestation für die Pestkranken des Jahres 1656 benutzt worden war, schrieben die Menschen ihr heilende Kräfte zu. Aus diesem Grund war später auch das römische Ospedale Tiberina auf der Insel errichtet worden.

Der Fremde war übel zugerichtet, als sie ihn aus dem Wasser zogen. Sein Puls ging nur noch schwach, doch es war ein kleines Wunder, dass sein Herz überhaupt noch schlug. Sie fragten sich, ob es der mystische Ruf der hsel war, der das Herz dieses Mannes irgendwie hatte weiterschlagen lassen. Minuten später, als der Fremde zu husten anfing und langsam das Bewusstsein wieder erlangte, wusste die Gruppe, dass die Insel tatsächlich magische Heilkräfte besaß.

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