Es war sieben Minuten nach dreiundzwanzig Uhr. Langdon raste über die Lungotevere Tor di Nona, am Tiber entlang. Zu seiner Rechten erhob sich sein Ziel wie ein Berg aus der Dunkelheit.
Castel Sant’ Angela. Die Engelsburg.
Ohne Vorwarnung erschien die Abzweigung zur schmalen Ponte Sant’ Angelo. Langdon stieg auf die Bremse und riss das Lenkrad herum. Er schaffte es noch rechtzeitig, doch die Auffahrt zur Brücke war versperrt. Er rutschte zehn Meter mit stehenden Reifen und prallte dann gegen eine Reihe niedriger Betonsockel, die quer über die Fahrbahn standen. Er wurde in seinem Sitz durchgeschüttelt, und der Wagen kam schnaufend und zischend zum Stehen. Langdon hatte ganz vergessen, dass die Engelsbrücke aus Gründen des Denkmalschutzes für den Fahrzeugverkehr gesperrt war.
Zitternd stolperte er aus dem stark beschädigten Citroen und wünschte, er hätte sich für einen anderen Zufahrtsweg entschieden. Ihm war immer noch kalt, und er war bis auf die Haut durchnässt; deshalb zog er das Jackett über das feuchte Hemd. Zum Glück war die Jacke doppelt gefüttert, und das wertvolle Blatt aus Galileos Diagramma war vor Feuchtigkeit geschützt. Vor ihm, auf der anderen Seite der Brücke, erhob sich die steinerne Festung wie ein Berg. Mühsam setzte sich Langdon in Bewegung und fiel in einen erschöpften Trott.
Zu beiden Seiten standen Berninis Engel wie eine Eskorte, die ihm den Weg zu seinem letzten Ziel wies. Let angels guide you on your lofty quest. Die Engelsburg erhob sich vor ihm wie eine uneinnehmbare Festung, beeindruckender noch als der Petersdom. Mit letzter Energie kam Langdon vor der Bastion an. Vor ihm erhob sich der runde Kern der Zitadelle, und auf ihm
thronte der gigantische Engel mit dem Schwert in der Hand.
Die Burg wirkte verlassen.
Im Lauf der Jahrhunderte hatte sie dem Vatikan als Grabstätte, als Festung, als Zufluchtsort und Versteck für den Papst, als Gefängnis für Feinde der Kirche und als Museum gedient. Offensichtlich gab es außer der Kirche noch andere Bewohner - die Illuminati. Irgendwie ergab es einen unheimlichen Sinn. Die Burg war zwar im Besitz des Vatikans, wurde jedoch nur sporadisch genutzt, und Bernini hatte während seiner Zeit eine ganze Reihe von Umbauten vorgenommen. Gerüchten zufolge war das gesamte Bauwerk übersät mit geheimen Türen, Gängen, Passagen und verborgenen Kammern. Langdon zweifelte keinen Augenblick daran, dass sowohl der Engel auf dem Bauwerk als auch der umgebende Park ebenfalls Berninis Werk waren.
Als er die massive Doppeltür der Burg erreicht hatte, rüttelte er mit aller Kraft daran. Sie bewegte sich nicht. Zwei mächtige Eisenklopfer hingen auf Augenhöhe. Langdon schenkte sich die Mühe. Er trat zurück und suchte die hohe Außenwand ab. Diese Wehrmauern hatten Armeen von Berbern, Mohren und anderen Heiden getrotzt. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass seine Chancen, einen Weg hineinzufinden, nicht sonderlich gut standen.
Vittoria, dachte Langdon. Bist du da drin?
Er rannte um die Außenmauern herum. Es muss doch einen weiteren Eingang geben!
Beim zweiten Bollwerk im Westen befand sich ein kleiner Parkplatz, der von der Lungotevere Angelo aus zu erreichen war. Dort entdeckte Langdon endlich den gesuchten zweiten Eingang - eine zugbrückenartige Konstruktion, eingezogen und verschlossen. Wieder blickte Langdon suchend nach oben.
Die einzige Beleuchtung kam von den Flutlichtscheinwerfern, die das Gebäude von außen anstrahlten. Die winzigen Fenster waren ausnahmslos schwarz. Langdons Augen glitten höher. Direkt unter dem Dach der runden Konstruktion und unter dem Schwert des Engels, in fast dreißig Metern Höhe, ragte ein Balkon aus den Mauern. Die Brustwehr aus Marmor glänzte in einem kaum wahrnehmbaren flackernden Schein, als wäre der Raum dahinter von Fackeln erhellt. Langdon stockte, und ein Zittern durchlief ihn. Ein Schatten? Er wartete angespannt. Dann sah er es wieder. Dort oben ist jemand!
»Vittoria!«, rief er laut, unfähig, etwas dagegen zu unternehmen, doch das wilde Hochwasser des Tiber hinter ihm verschluckte seine Stimme. Er drehte sich im Kreis und fragte sich, wo die Schweizergardisten so lange blieben. Hatten sie seine Nachricht überhaupt empfangen?
Auf der anderen Seite des Platzes stand ein großer Übertragungswagen. Langdon rannte dorthin. Ein dicker Mann mit einem Kopfhörer saß hinten und betätigte irgendwelche Regler. Langdon klopfte gegen die seitliche Schiebetür. Der Mann zuckte zusammen, bemerkte Langdons nasse Kleidung und riss sich den Kopfhörer herunter.
»Was gibt’s denn, Kumpel?« Er redete mit australischem Dialekt.
»Ich brauche Ihr Telefon!« Langdon flehte beinahe.
Der Mann zuckte die Schultern. »Keine freie Leitung, Kumpel. Die Sender sind überlastet. Ich versuch’s schon die ganze Nacht.«
Langdon fluchte laut. »Haben Sie jemanden dort reingehen sehen?« Er deutete zur Zugbrücke.
»Hab ich. Ein schwarzer Lieferwagen. Fährt schon die ganze Nacht immer wieder rein und raus.«
Langdon spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
»Verdammter Glückspilz«, sagte der Australier mit einem neidischen Blick zur Burg hinauf. »Jede Wette, die Aussicht von dort oben ist fantastisch. Ich hab es nicht durch den Verkehr beim Petersplatz geschafft, deswegen filme ich von hier.«
Langdon hörte gar nicht zu. Er suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit.
»Was meinen Sie?«, fuhr der Australier fort, »ist diese Geschichte von einem Samariter der elften Stunde wahr oder nicht?«
Langdon wandte sich zu ihm um. »Einem was?«
»Haben Sie nichts davon gehört? Der Hauptmann der Schweizergarde hat einen Anruf von jemandem erhalten, der behauptet, wichtige Informationen zu besitzen. Der Typ ist mit dem Flieger unterwegs nach Rom. Ich weiß nur eins - wenn es ihm gelingt, den Vatikan zu retten, gehen die Quoten wieder in den Keller.« Der Aussie lachte.
Langdon blickte ihn verwirrt an. Ein Samariter, der hergeflogen kommt, um zu helfen? Weiß er vielleicht, wo die Antimaterie versteckt ist? Warum hat er es der Schweizergarde nicht direkt am Telefon gesagt? Warum kommt er persönlich? Irgendetwas an der Geschichte klang merkwürdig, doch Langdon hatte nicht die Zeit, länger darüber nachzudenken.
»Hey«, sagte der Aussie unvermittelt und betrachtete Langdon genauer. »Sind Sie nicht der Typ, den ich im Fernsehen gesehen hab? Haben Sie nicht versucht, diesen Kardinal auf dem Petersplatz zu retten?«
Langdon antwortete nicht. Seine suchenden Blicke wurden von einer Apparatur auf dem Dach des Übertragungswagens angezogen - einer Satellitenschüssel auf einer ausfahrbaren Antenne. Langdons Blick glitt von der Antenne zu den Mauern der Burg und wieder zurück. Die äußere Wehrmauer war gut fünfzehn Meter hoch. Die innere Festung ragte noch höher auf. Eine Verteidigungsanlage mit schalenförmigem Aufbau. Sie sah von hier unten unglaublich hoch aus, doch wenn es Langdon gelang, die erste Mauer zu überwinden.
Langdon wirbelte zu dem Reporter herum und deutete auf die Antenne. »Wie hoch reicht die?«
Der Mann schien überrascht. »Fünfzehn Meter, warum?«
»Lassen Sie den Motor an. Fahren Sie ganz dicht an die Mauer. Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Was reden Sie da?«
Langdon erklärte es ihm.
Der Aussie riss die Augen auf. »Sind Sie wahnsinnig? Das ist eine Zweihunderttausend-Dollar-Antenne und keine Feuerwehrleiter!«
»Wollen Sie Einschaltquoten oder nicht? Ich verfüge über Informationen, für die andere ihre Seele verkaufen würden.« Langdon war verzweifelt.
»Sind diese Informationen Zweihunderttausend Dollar wert?«
Langdon sagte ihm, was er als Gegenleistung zu bieten hatte.
Neunzig Sekunden später umklammerte er die Spitze einer im leichten Abendwind schwankenden Antenne fünfzehn Meter über dem Boden. Er streckte eine Hand aus und packte den Saum des Walls, um sich dann auf die Mauerkrone zu ziehen und auf die Bastion dahinter zu springen.
»Und jetzt die Information!«, rief der Aussie von unten. »Wo ist er?«
Langdon wurde von Schuldgefühlen geplagt, doch ein Handel war ein Handel. Außerdem würde der Assassine die Presse aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso informieren. »Piazza Navona!«, rief er dem Aussie zu. »Im Fontana dei Fiumi!«
Der Aussie zog seine Antennenschüssel wieder ein und raste davon, dem Höhepunkt seiner Karriere entgegen.
In einer steinernen Kammer hoch über der Stadt zog der Hashishin die Stiefel aus und bandagierte seinen verwundeten Fuß. Er schmerzte, doch nicht so stark, dass ihm die Lust am Vergnügen vergangen wäre.
Er wandte sich seiner Belohnung zu.
Sie lag in der Ecke des Raums auf einem breiten Diwan, einen Knebel im Mund und die Hände auf den Rücken gefesselt. Der Hashishin ging auf sie zu. Sie war inzwischen wach. Das gefiel ihm. Überrascht stellte er fest, dass in ihren Augen Feuer brannte statt Angst.
Die Angst würde schon noch kommen.