Kapitel 45.

Es wird nicht funktionieren!«, sagte Vittoria und ging im Amtszimmer nervös auf und ab. Schließlich wandte sie sich zum Camerlengo um. »Selbst wenn es einem Team der Schweizergarde gelingen sollte, die elektronischen Störungen herauszufiltern, müssten die Leute praktisch genau über dem Behälter stehen, bevor sie ein Signal erhalten. Und das heißt immer noch nicht, dass wir den Behälter ohne Weiteres bergen können. Vielleicht ist er durch andere Barrieren unzugänglich. Was, wenn er in einer Metallkiste irgendwo auf dem Gelände vergraben ist? Oder in einem Belüftungsschacht versteckt wurde? Dann finden wir ihn ganz bestimmt nicht. Und wenn die Schweizergarde tatsächlich infiltriert wurde, was dann? Wer garantiert uns, dass die Suche einwandfrei verläuft?«

Der Camerlengo sah erschöpft aus. »Was schlagen Sie vor, Signorina Vetra?«

Ist das nicht offensichtlich? Vittoria errötete. »Ich schlage vor, Monsignore, dass Sie unverzüglich andere Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Wir können wider alle Wahrscheinlichkeit hoffen, dass die Suche des Obersten erfolgreich verläuft, aber schauen Sie doch aus dem Fenster! Sehen Sie diese Menschen? Diese Gebäude auf der anderen Seite des Platzes? Die Übertragungswagen? Die Touristen? Sie alle befinden sich wahrscheinlich innerhalb des Explosionsradius. Sie müssen handeln, Monsignore, auf der Stelle!«

Der Camerlengo nickte abwesend.

Vittoria verspürte Frustration. Olivetti hatte jeden überzeugt, dass mehr als reichlich Zeit blieb. Doch Vittoria wusste, dass sich das gesamte Gebiet um die Vatikanstadt herum binnen weniger Minuten mit Schaulustigen füllen würde, sobald die

Nachricht von den Schwierigkeiten nach außen drang. Sie hatte dieses Phänomen vor dem Schweizer Parlamentsgebäude erlebt. Während einer Geiselnahme hatten sich Tausende von Schaulustigen eingefunden, um das Geschehen zu beobachten, und das, obwohl die Geiselnehmer gedroht hatten, eine Bombe zu zünden. Trotz aller Warnungen der Polizei hatte sich die Traube aus Neugierigen dichter und dichter um das Gebäude gedrängt. Nichts fesselt menschliches Interesse so sehr wie menschliche Tragödien.

»Monsignore«, drängte Vittoria, »der Mann, der meinen Vater ermordet hat, treibt sich irgendwo dort draußen herum. Ich will ihn stellen! Doch ich stehe hier in Ihrem Büro. weil ich Ihnen gegenüber eine Verantwortung fühle. Ihnen gegenüber und anderen. Menschenleben sind in Gefahr, Monsignore. Verstehen Sie?«

Der Camerlengo antwortete nicht.

Vittoria spürte ihren eigenen rasenden Herzschlag. Warum konnte die Schweizergarde diesen verdammten Anrufer nicht zurückverfolgen? Der Assassine der Illuminati ist der Schlüssel zu allem! Er weiß, wo die Antimaterie versteckt ist... verdammt, er weiß auch, wo die Kardinale sind! Fang den Mörder, und alle Probleme sind gelöst!

Sie spürte, dass sie allmählich die Fassung zu verlieren drohte

- ein merkwürdiges Gefühl, an das sie sich nur noch schwach aus Kindertagen erinnerte, aus den Jahren im Waisenhaus: Frustration und keine Möglichkeit, damit fertig zu werden. Du hast Möglichkeiten, sagte sie sich. Du hast immer Möglichkeiten. Doch es war sinnlos. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, drohten sie zu ersticken. Sie war eine Forscherin, darauf spezialisiert, Probleme zu lösen. Doch dies hier war ein Problem ohne Lösung. Welche Informationen sind nötig? Was willst du erreichen? Sie versuchte sich zu zwingen, ruhiger zu atmen, doch zum ersten Mal in ihrem Leben gelang es ihr nicht. Sie bekam keine Luft mehr.

Langdon schmerzte der Kopf. Alles erschien ihm unwirklich, als er Vittoria und den Camerlengo beobachtete - doch seine Sicht war verschwommen und durchsetzt von schlimmen Bildern: Explosionen, ausschwärmenden Journalisten, laufenden Kameras, gebrandmarkten Leichen.

Shaitan. Luzifer. Lichtbringer. Satan.

Er schüttelte die Bilder ab. Vorsätzlicher Terror, sagte er sich und griff nach dem Strohhalm der Realität. Geplantes Chaos. Er erinnerte sich an ein Seminar in der Radcliffe, das er anlässlich eines Forschungsprojekts über prätorianische Symbolologie gehört hatte. Damals hatte er gelernt, Terroristen mit anderen Augen zu sehen.

»Terrorismus«, hatte der Dozent gesagt, »verfolgt ein einziges Ziel. Welches?«

»Unschuldige Menschen zu töten?«, hatte ein Student geantwortet.

»Falsch. Tote sind lediglich ein Nebenprodukt des Terrorismus.«

»Eine Demonstration von Macht?«

»Nein. Es gibt nichts, das weniger überzeugend wirkt.«

»Angst und Schrecken zu verbreiten?«

»Mit knappen Worten: ja. Ganz einfach. Das Ziel von Terrorismus besteht darin, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Furcht unterminiert das Vertrauen in die Gesellschaft. Sie schwächt den Gegner von innen heraus und verursacht Unruhe bei den Massen. Schreiben Sie sich das auf. Terrorismus ist kein Ausdruck von Wut. Terrorismus ist eine politische Waffe. Nimm einer Regierung die Fassade der Unfehlbarkeit, und du zerstörst ihr Vertrauen bei den Menschen.«

Vertrauen zerstören.

Ist es das, worum es hier geht? Langdon fragte sich, wie die Christen der.ganzen Welt reagierten, würden die verstümmelten

Leichen der Kardinale gefunden. Wenn schon der Glaube eines geweihten Priesters nicht vor dem satanischen Bösen schützte, welche Hoffnung gab es dann für den Rest der Christenheit? Die pochenden Schmerzen in seinem Kopf wurden schlimmer. er hörte leise, widerstreitende Stimmen:

Glaube schützt dich nicht. Medizin und Airbags... das sind die Dinge, die dein Leben schützen. Gott schützt dich nicht... Intelligenz schützt dich. Erleuchtung. Vertrau auf etwas, das sichtbare Ergebnisse vorzuweisen hat. Wie lange ist es her, dass jemand über Wasser gelaufen ist? Die modernen Wunder sind Wunder der Wissenschaft... Computer, Impfstoffe, Raumstationen... selbst das »göttliche« Wunder der Schöpfung, Materie aus Nichts... in einem Laboratorium. Wer braucht Gott? Nein, die Wissenschaft ist unser Gott!

Die Stimme des Mörders hallte in Langdons Verstand: Mitternacht... eine mathematische Progression des Todes... sacrfici vergini nell’ altare di scienza.

Dann plötzlich, wie eine Menge, die beim ersten Pistolenschuss verstummt, waren die Stimmen verschwunden. Robert Langdon sprang auf wie von einer Tarantel gestochen. Sein Stuhl kippte nach hinten um und fiel krachend auf den Marmorboden.

Vittoria und der Camerlengo zuckten zusammen.

»Ich habe es die ganze Zeit übersehen!«, flüsterte Langdon wie gebannt. »Und dabei hat es mir ins Gesicht gelacht.«

»Was übersehen?«, fragte Vittoria.

Langdon wandte sich an den Geistlichen. »Vater, seit drei Jahren habe ich dieses Büro immer wieder um Zugang zu den Vatikanischen Archiven gebeten. Ich habe sieben ablehnende Bescheide erhalten.«

»Es tut mir Leid, Mr. Langdon, doch es scheint mir kaum der geeignete Augenblick, um derartige Beschwerden vorzubringen.« »Ich benötige augenblicklich Zugang! Die verschwundenen Kardinale - möglicherweise kann ich herausfinden, wo sie ermordet werden sollen.«

Vittoria starrte ihn an, als wäre sie sicher, sich verhört zu haben.

Der Camerlengo blickte traurig drein, als wäre er die Zielscheibe eines schlechten Witzes. »Sie erwarten allen Ernstes von mir, dass ich glaube, die Information befände sich in unseren Archiven?«

»Ich kann nicht versprechen, dass ich sie rechtzeitig finde, aber wenn Sie mir Zugang gewähren.«

»Mr. Langdon, ich muss in vier Minuten in die Sixtinische Kapelle. Die Archive sind über ganz Vatikanstadt verteilt.«

»Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«, unterbrach Vittoria. Sie starrte Langdon an und erkannte überrascht, wie ernst es ihm tatsächlich war.

»Jetzt ist kaum die Zeit für Witze«, entgegnete Langdon.

»Vater«, sagte Vittoria und wandte sich zum Camerlengo um, »falls es eine Chance gibt. irgendeine Chance herauszufinden, wo diese Morde verübt werden sollen, könnten wir.«

»Aber die Archive!«, beharrte der Camerlengo. »Wie könnten die Archive die benötigten Informationen enthalten?«

»Das zu erklären würde mehr Zeit in Anspruch nehmen, als Sie haben, Monsignore. Doch wenn ich Recht behalte, könnten wir die Informationen nutzen, um den Assassinen zu stellen.«

Der Camerlengo sah aus, als hätte er Langdon gerne geglaubt, könne es aber nicht. »In diesen Archiven werden die heiligsten christlichen Texte aufbewahrt. Schätze, die zu sehen nicht einmal ich privilegiert bin.«

»Dessen bin ich mir durchaus bewusst.«

- 209 »Der Zutritt ist nur mit einer schriftlichen Genehmigung des Kurators und des Vorstands der Vatikanischen Bibliothek

möglich.«

»Oder«, erklärte Langdon, »mit einem päpstlichen Mandat. So steht es zumindest in jedem Ablehnungsschreiben, das ich von Ihrem Kuratorium erhalten habe.«

Der Camerlengo nickte.

»Ich möchte nicht unhöflich erscheinen«, drängte Langdon, »aber wenn ich nicht sehr irre, ist genau dieses Büro hier für die Ausstellung päpstlicher Mandate zuständig. Und soweit ich es beurteilen kann, sind Sie heute Abend derjenige, der die Geschäfte des Vatikans führt. Angesichts der Umstände.«

Der Camerlengo zog eine Taschenuhr aus seiner Soutane und warf einen Blick darauf. »Mr. Langdon, ich bin bereit, heute Nacht mein Leben zu geben, buchstäblich, um die Kirche zu retten.«

Langdon spürte, dass der junge Priester aus tiefster Überzeugung sprach.

»Dieses Dokument.«, fuhr der Camerlengo fort. »Glauben Sie wirklich, dass es in unseren Archiven ruht? Und dass es helfen kann, die vier Kirchen zu finden, in denen die Kardinale ermordet werden sollen?«

»Ich hätte nicht zahllose Eingaben um Zutritt an den Vatikan gerichtet, wäre ich nicht davon überzeugt. Italien liegt ein wenig weit vom Schuss, um ins Blaue zu raten, wenn man das Gehalt eines Lehrers bezieht. Das Dokument in Ihren Archiven ist ein altes.«

»Bitte entschuldigen Sie«, unterbrach ihn der Camerlengo. »Mein Verstand kann momentan nicht noch mehr Einzelheiten aufnehmen. Wissen Sie, wo sich die Geheimarchive befinden?«

Langdon spürte, wie Aufregung von ihm Besitz ergriff. »Direkt hinter dem Tor von Sankt Anna.«

»Beeindruckend. Die meisten Gelehrten glauben, dass die

Geheimtür hinter dem Apostolischen Stuhl in die Archive

führt.«

»Nein. Dort geht es nur zum Archivio della Referenda di Fabbricia di San Pietro. Ein weit verbreiteter Irrtum.«

»Für gewöhnlich begleitet ein Bibliothekar jeden Besucher des Archivs, ohne Ausnahme. Allerdings ist heute Abend niemand da, der Sie begleiten könnte. Was Sie verlangen, Mr. Langdon, ist ein Freibrief auf unbeschränkten Zugriff. Nicht einmal die Kardinale besitzen dieses Recht.«

»Ich werde Ihre Schätze mit dem größten Respekt und der größtmöglichen Sorgfalt behandeln. Ihre Bibliothekare werden nicht eine Spur meiner Anwesenheit finden.«

Die Glocken des Petersdoms begannen zu läuten. Der Camerlengo warf einen letzten Blick auf seine Taschenuhr. »Ich muss gehen.« Er zögerte einen angespannten Augenblick, dann blickte er zu Langdon auf. »Also gut. Ich werde einen Hellebardier der Schweizergarde beauftragen, Sie zum Archiv zu begleiten. Ich schenke Ihnen mein Vertrauen, Mr. Langdon. Gehen Sie mit Gott.«

Langdon war sprachlos.

Der junge Geistliche schien von einem unheimlichen Selbstbewusstsein erfüllt. Er streckte die Hand aus und drückte Langdons Schulter mit überraschender Kraft. »Ich möchte, dass Sie finden, wonach Sie suchen. Und finden Sie es schnell.«

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