Aus der Luft betrachtet war Rom ein Labyrinth - ein unentwirrbares Dickicht alter Straßen, die sich um Gebäude, Brunnen und einstürzende Ruinen wanden.
Der Hubschrauber des Vatikans flog in geringer Höhe durch die permanente Smogschicht. Unter ihnen erstreckte sich das römische Gewimmel. Langdon starrte auf Mopedfahrer, Touristenbusse und Armeen winziger Fiat-Limousinen, die in alle Richtungen unterwegs waren. Koyaanisqatsi, dachte Langdon; der Hopi-Ausdruck für ein Leben, das aus dem Gleichgewicht geraten war.
Vittoria saß in schweigsamer Entschlossenheit im Sitz neben ihm.
Der Hubschrauber legte sich in eine scharfe Kurve.
Langdons Magen drohte zu rebellieren. Er richtete den Blick weiter in die Ferne und entdeckte am Horizont die Ruinen des römischen Kolosseums. Langdon hatte es stets als eine der größten Ironien der Geschichte betrachtet - heute war es das erhabene Symbol für den Aufstieg der menschlichen Zivilisation und Kultur, doch es war errichtet worden als Schauplatz jahrhundertelanger Barbarei. Hungrige Löwen hatten Gefangene zerfetzt, Armeen von Sklaven hatten sich bis zum Tod bekämpft, wilde Banden hatten exotische Frauen vergewaltigt, Menschen waren öffentlich enthauptet oder kastriert worden. Welch eine Ironie, dachte Langdon, ausgerechnet das Kolosseum ist die architektonische Vorlage für das Soldier Field von Harvard, das Football-Stadion, in dem jeden Herbst die alte Tradition der Barbarei wieder auflebt und wo rasende Fans nach Blut schreien, wenn sich Harvard und Yale bekämpfen.
Der Hubschrauber setzte seinen Weg nach Norden fort, und
Langdon erspähte das Forum Romanum - das Herz des vorchristlichen Roms. Die verwitterten Säulen sahen aus wie umgestürzte Grabsteine auf einem Friedhof, der aus unerfindlichen Gründen noch nicht von der Metropole ringsum verschluckt worden war. Weiter im Vordergrund wand sich der Tiber in gewaltigen Schleifen durch die Stadt. Selbst aus der Luft erkannte Langdon, dass der Fluss Hochwasser führte. Die wirbelnden Fluten waren braun und schmutzig, angeschwollen von schweren Regenfällen.
»Direkt vor uns«, sagte der Pilot und stieg höher.
Langdon und Vittoria sahen nach draußen. Dort ragte die gewaltige Kuppel des Petersdoms auf wie ein Berg, der den Smog überragte.
»Das hingegen hat Michelangelo ganz ausgezeichnet hinbekommen«, sagte Langdon zu Vittoria und deutete auf die Kuppel.
Er hatte den Dom noch nie aus der Luft gesehen. Die Marmorfassade strahlte wie Feuer im Licht der Nachmittagssonne. Das gigantische Bauwerk erstreckte sich in der Breite über zwei Footballfelder und in der Länge über sechs. Es war mit hundertvierzig Statuen verziert, und der gigantische Innenraum bot Platz für mehr als sechzigtausend Gläubige. hundertmal mehr, als die Vatikanstadt - der kleinste Staat der Welt -Einwohner hatte.
Doch nicht einmal so eine gigantische Zitadelle wie der Petersdom täuschte über die Größe des Platzes davor hinweg. Eine gewaltige Fläche aus Granit, ein gigantischer freier Raum inmitten des Häusergewirrs von Rom, wie ein Stein gewordener Central Park der Antike, erstreckte sich vor dem Dom. Die riesige Fläche wurde gesäumt von 284 mächtigen Säulen, die von hier oben winzig aussahen. ein architektonisches Trompel’CEil, das die Großartigkeit des Platzes noch mehr hervorhob.
Als Langdon auf den prachtvollen Schrein tief unten sah, fragte er sich, was Petrus wohl dazu gesagt hätte, würde er heute noch leben. Der Heilige war einen grausamen Tod gestorben, kopfüber an das Kreuz genagelt, genau an der Stelle, über der heute der Dom stand. Er ruhte im heiligsten aller Gräber, fünf Stockwerke unter der Erde, direkt unter der zentralen Kuppel der Basilika.
»Vatikanstadt«, verkündete der Pilot. Es klang alles andere als einladend.
Langdon blickte hinunter auf die steinernen Bastionen, die sich vor ihnen erhoben. Undurchdringliche Befestigungsmauern umgaben den Komplex. eine merkwürdig irdische Verteidigung für eine spirituelle Welt voller Geheimnisse, Macht und Mysterien.
»Sehen Sie nur!«, rief Vittoria plötzlich und packte Langdons Arm. Hektisch deutete sie hinunter auf den Petersplatz, der sich inzwischen genau unter ihnen befand. Langdon legte das Gesicht an die Scheibe und sah hinunter.
»Dort drüben«, sagte Vittoria und deutete in die Richtung.
Der hintere Teil des Petersplatzes sah aus wie ein Parkplatz, auf dem sich ein Dutzend oder mehr große Lieferwagen drängten. Auf jedem stand eine gewaltige Satellitenschüssel, und auf den Schüsseln prangten bekannte Namen
TELEVISOR EUROPA
VIDEO ITALIA
BBC
UNITED PRESS INTERNATIONAL
Langdon spürte Verwirrung in sich aufsteigen. Er fragte sich, ob die Nachricht von der Antimaterie schon nach draußen gedrungen war.
Vittoria erging es nicht aiders. »Warum sind die Medien hier? Was geht da vor?«
Der Pilot wandte sich um und bedachte seine beiden Passagiere mit einem merkwürdigen Blick. »Was da vorgeht? Das wissen Sie nicht?«
»Nein!«, giftete Vittoria zurück.
»Il Conclavo«, sagte der Pilot. »Die Sixtinische Kapelle wird in ungefähr einer Stunde versiegelt. Die ganze Welt sieht zu.«
Il Conclavo.
Der Klang des Wortes hallte eine ganze Weile in Langdons Ohren nach, bevor es ihm wie Schuppen von den Augen fiel.
Il Conclavo. Das Vatikanische Konklave. Wie konnte er das nur vergessen? Es war schließlich durch sämtliche Nachrichten gegangen!
Zwei Wochen zuvor war der alte, äußerst beliebte Papst nach zwölfjähriger Amtszeit überraschend gestorben. Jede Zeitung der Welt hatte in großen Lettern von dem Hirnschlag berichtet, der den Papst im Schlaf ereilt hatte - ein plötzlicher und unerwarteter Tod, der vielen verdächtig vorgekommen war. Doch nun, fünfzehn Tage nach dem Ableben des alten Papstes, hielt der Vatikan traditionsgemäß das Konklave ab, die heilige Zeremonie, während der sich alle 165 Kardinale der Welt, die mächtigsten Männer der Christenheit, in der Vatikanstadt versammelten, um einen neuen Papst zu wählen.
Jeder Kardinal der Welt ist heute hier, dachte Langdon, während der Hubschrauber den Petersdom passierte. Die ausgedehnte geheime Welt der Vatikanstadt erstreckte sich unter ihm. Die gesamte Machtstruktur der römischkatholischen Kirche sitzt auf einer tickenden Bombe!