Kapitel 113.

Irgendetwas stimmte nicht. Leutnant Chartrand stand vor dem päpstlichen Amtszimmer und spürte am nervösen Verhalten des Hellebardiers neben ihm, dass dieser die gleichen Befürchtungen hegte. Die private Unterredung, die beide bewachten, könnte den Vatikan vor der Zerstörung bewahren, hatte Hauptmann Rocher gesagt. Chartrand fragte sich, wieso seine Instinkte sich dennoch rührten. Und warum verhielt Rocher sich so eigenartig?

Irgendetwas stimmte nicht.

Der Hauptmann starrte unverwandt geradeaus; sein für gewöhnlich scharfer Blick wirkte geistesabwesend. Der Hauptmann war kaum wiederzuerkennen. Rocher war im Verlauf der letzten Stunde nicht er selbst gewesen. Seine Entscheidungen ergaben keinen Sinn.

Bei diesem Treffen sollte jemand dabei sein, dachte Chartrand. Er hatte gehört, wie Maximilian Kohler die Tür von innen zugesperrt hatte, nachdem er eingetreten war. Warum hat Rocher das zugelassen?

Das war bei weitem nicht die einzige Beobachtung, die Chartrand Sorgen bereitete. Die Kardinale! Die Kardinale waren noch immer in der Sixtinischen Kapelle eingesperrt. Vollkommen verrückt! Der Camerlengo hatte sie schon vor fünfzehn Minuten evakuiert sehen wollen. Rocher hatte sich über seine Entscheidung hinweggesetzt, ohne den Camerlengo zu informieren. Chartrand hatte seiner Besorgnis Ausdruck verliehen, mit dem Ergebnis, dass Rocher ihm fast den Kopf abgerissen hatte. Die Befehlskette wurde innerhalb der Schweizergarde niemals infrage gestellt, und Rocher war nun der kommandierende Offizier.

Noch eine halbe Stunde, dachte Rocher und sah im unsteten Licht des Kandelabers, der den Flur erhellte, diskret auf seine Schweizer Uhr. Bitte beeilen Sie sich.

Chartrand wünschte, er könnte hören, was auf der anderen Seite der schweren Doppeltür besprochen wurde; andererseits hielt er niemanden für befähigter, diese Krise zu meistern, als den Camerlengo Carlo Ventresca. Der Mann war heute Nacht auf eine harte Probe gestellt worden, und er hatte sich nicht vor seinen Aufgaben versteckt. Er hatte sich dem Problem gestellt, offen und ehrlich - ein leuchtendes Beispiel für alle. Chartrand war stolz, Katholik zu sein. Die Illuminati hatten einen Fehler gemacht, als sie Camerlengo Ventresca herausgefordert hatten.

Ein unerwartetes Geräusch riss Leutnant Chartrand aus seinen Gedanken. Es war ein dumpfes Klopfen, das vom Ende des Gangs erklang. Schwach und erstickt nur, aber beständig. Rocher blickte auf. Der Hauptmann schaute Chartrand an und deutete mit einer Handbewegung den Gang hinunter. Chartrand begriff. Er schaltete seinen Handscheinwerfer ein und marschierte den Gang hinunter, um der Ursache des Geräuschs nachzugehen.

Das dumpfe Klopfen nahm an Dringlichkeit zu. Chartrand rannte dreißig Meter den Gang hinunter bis zu einer Stelle, wo ein zweiter Korridor die Halle kreuzte. Das Geräusch schien aus der Sala Clementina zu kommen, oder aus dem Raum dahinter. Es gab nur einen Raum hinter der Sala - das private Lesezimmer des Papstes. Die private Bibliothek seiner Heiligkeit war seit dem Tod des alten Papstes zugesperrt. Es war unmöglich, dass sich dort jemand aufhielt!

Chartrand eilte durch den zweiten Korridor, bog um eine weitere Ecke und rannte auf die Sala Clementina zu. Die massive Holztür wirkte klein, doch sie stach aus der Dunkelheit wie ein missmutiger Wächter. Das Klopfen kam von irgendwo dahinter. Chartrand zögerte. Er war noch nie in der privaten Bibliothek des Papstes gewesen. Das war nur wenigen

Schweizergardisten vergönnt. Niemand durfte die Räumlichkeiten betreten - es sei denn, in Begleitung des Papstes persönlich.

Vorsichtig griff Chartrand nach dem Türknopf und drehte ihn herum. Wie erwartet, war die Tür zugesperrt. Er legte das Ohr an die Tür und lauschte. Das Klopfen war nun deutlicher zu hören. Dann vernahm er noch etwas - Stimmen! Irgendjemand rief etwas Unverständliches.

Chartrand begriff den Sinn der Worte nicht, doch er hörte die Panik in den Stimmen. War jemand in der Bibliothek eingesperrt? Hatten die Schweizergardisten das Gebäude nicht gründlich evakuiert? Chartrand zögerte. Er fragte sich, ob er zurückkehren und Rocher um Rat fragen sollte, entschied sich dann aber dagegen. „Zur Hölle damit! Chartrand war ausgebildet worden, eigene Entscheidungen zu fällen, und genau das würde er jetzt tun. Er zog seine Waffe und feuerte einen einzelnen Schuss in das Schloss der Tür. Das Holz explodierte förmlich, und die Tür flog auf.

Hinter der Schwelle sah er zunächst nichts als Schwärze. Er schwenkte seinen Scheinwerfer. Der Raum war rechteckig orientalische Teppiche, hohe Eichenregale voller Bücher, ein gestepptes Ledersofa und ein mit Marmor eingefasster Kamin. Chartrand hatte Geschichten über diesen Raum gehört -dreitausend alte Bücher Seite an Seite mit Hunderten zeitgenössischer Magazine und Schriftenreihen, alles, was seine Heiligkeit erbat. Der niedrige Tisch vor dem Sofa war mit politischen und wissenschaftlichen Zeitschriften überhäuft.

Das Klopfen klang nun viel näher. Chartrand schwenkte den Scheinwerfer in Richtung des Geräuschs. Auf der anderen Seite des Raums, hinter der Leseecke, war eine schwere Eisentür in die Wand eingelassen. Sie sah so uiüberwindlich aus wie eine Gefängnistür und besaß vier gewaltige Schlösser. Als er den winzigen Schriftzug las, der mitten auf der Tür ins Eisen graviert war, stockte Chartrand der Atem.

Chartrand starrte auf die Tür. Der geheime Fluchtweg des Papstes! Selbstverständlich hatte er von Il Passetto gehört, sogar Gerüchte, dass er seinen Anfang hier in der Bibliothek nahm, doch der Tunnel war seit Menschengedenken nicht mehr benutzt worden. Wer kann das sein, der auf der anderen Seite klopft?

Chartrand nahm seinen Handscheinwerfer und erwiderte damit das Klopfgeräusch. Auf der anderen Seite ertönte ein erstickter Ausruf. Das Klopfen erstarb, und die Stimmen riefen lauter. Chartrand verstand nur Bruchstücke von dem, was sie sagten.

»Kohler. lügt. Camerlengo.«

»Wer ist da?«, brüllte Chartrand.

». Langdon. Vittoria Vet.«

Chartrand verstand genug, um seine Verwirrung noch zu steigern. Ich dachte, beide wären tot!

». die Tür!«, riefen die Stimmen. »Öffnen.!«

Chartrand betrachtete die eiserne Barriere und wusste, dass er Dynamit benötigen würde, um sie ohne die Schlüssel zu öffnen. »Unmöglich!«, rief er zurück. »Zu dick!«

»Treffen. aufhalten. lengo. Gefahr!«

Bei den letzten Worten stieg in Chartrand panische Furcht auf. Hatte er richtig verstanden? Klopfenden Herzens wandte er sich um und wollte zum Amtszimmer zurücklaufen, doch in der Drehung stockte er. Sein Blick war auf etwas an der Tür gefallen. etwas noch Schockierenderes als die Botschaft von der anderen Seite. In jedem der vier massiven Türschlösser steckten. Schlüssel! Chartrand starrte fassungslos darauf. Die Schlüssel sind hier? Er blinzelte ungläubig. Die Schlüssel zu dieser Tür wurden in einem sicheren Gewölbe aufbewahrt!

Dieser geheime Gang wurde niemals benutzt - seit Jahrhunderten nicht mehr!

Chartrand stellte den Scheinwerfer auf dem Boden ab. Er streckte die Hand nach dem ersten Schlüssel aus und drehte ihn herum. Der Mechanismus war rostig und schwergängig, doch er funktionierte noch. Irgendjemand hatte dieses Schloss erst kürzlich geöffnet. Chartrand drehte den nächsten Schlüssel. Das Gleiche. Den dritten. Als der letzte Riegel zurückgeglitten war, zog er, und die schwere eiserne Barriere öffnete sich. Er nahm den Scheinwerfer wieder auf und leuchtete in die Dunkelheit dahinter.

Robert Langdon und Vittoria Vetra sahen aus wie Gespenster, als sie aus der Dunkelheit in die Bibliothek stolperten. Beide waren verschmutzt und erschöpft, doch unverletzt.

»Was hat das zu bedeuten?«, wollte Chartrand wissen. »Woher kommen Sie? Wie sind Sie in diesen Gang gekommen?«

»Wo ist Maximilian Kohler?«, fragte Langdon statt einer Antwort.

Chartrand deutete den Gang entlang. »Bei einer privaten Besprechung mit dem Camerlengo.«

Langdon und Vittoria schoben sich an ihm vorbei und rannten den Gang hinunter. Chartrand wirbelte herum und hob instinktiv seine Pistole, besann sich dann aber eines Besseren und senkte die Waffe wieder, um den beiden hinterherzulaufen.

Rocher hatte sie offensichtlich ebenfalls gehört, denn als sie vor die Tür des Amtszimmers gelangten, versperrte er ihnen mit vorgehaltener Waffe den Weg. »Halt!«

»Der Camerlengo schwebt in großer Gefahr!«, rief Langdon und hob die Hände, während er in sicherem Abstand stehen blieb. »Offnen Sie! Maximilian Kohler will den Camerlengo ermorden!«

Rocher starrte ihn wütend an.

»Öffnen Sie die Tür!«, sagte Vittoria. »Schnell!«

Doch es war bereits zu spät.

Hinter der Tür ertönte ein markerschütternder Schrei. Es war der Camerlengo.

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