Kapitel 83.

Die Taschenlampen konnten die gewaltige Schwärze des Petersdoms nicht annähernd erhellen. Das Nichts über ihren Köpfen drückte auf sie herab wie eine sternenlose Nacht, und Vittoria empfand die Leere ringsum wie einen endlosen Ozean. Sie blieb dicht bei den Schweizergardisten und dem Camerlengo, die zielstrebig durch den Dom eilten. Hoch oben unter der Decke gurrte eine Taube und flatterte davon.

Unvermittelt ging der Camerlengo langsamer und legte Vittoria die Hand auf die Schulter, als hätte er ihr Unbehagen gespürt. Spürbare Kraft übertrug sich aus dieser Berührung, als übermittelte der Camerlengo ihr die Ruhe, die sie für die vor ihr liegende Aufgabe brauchte.

Was haben wir uns da vorgenommen, dachte sie. Das ist Irrsinn!

Und doch, so wusste Vittoria, war die vor ihnen liegende

Aufgabe unausweichlich, trotz aller Pietätlosigkeit und allem im vermeidbaren Entsetzen. Die schweren Entscheidungen, die der Camerlengo zu treffen hatte, verlangten sichere Informationen. Informationen, die nur in einem Sarkophag in der Krypta unter dem Petersdom zu finden waren. Vittoria fragte sich, was sie vorfinden würden. Haben die Illuminati den Papst ermordet? Reicht ihre Macht tatsächlich so weit? Stehe ich wirklich im Begriff, die erste Autopsie an einem Papst vorzunehmen?

Es war eine Ironie, dass sie sich in dieser unbeleuchteten Kirche unsicherer fühlte, als würde sie des Nachts mit einem Barrakuda schwimmen. Die Natur war schließlich Vittorias Zuhause. Die Natur jedoch verstand sie. Was aber die Menschen anging und das, was in ihnen vorging, so war sie ratlos, Die

Presse, die sich draußen auf dem Petersplatz versammelte, erinnerte sie an Raubfische, die sich zur nächtlichen Jagd einfanden. Die Fernsehbilder von den gebrandmarkten Toten gemahnten sie an den Leichnam ihres Vaters. und das raue Lachen des Mörders. Er lauerte irgendwo dort draußen. Vittoria spürte, wie aufsteigender Hass ihre Angst erstickte.

Sie umrundeten einen gewaltigen Pfeiler, und dann bemerkte Vittoria ein orangefarbenes Leuchten weiter voraus. Das Licht schien aus dem Boden im Zentrum der Basilika zu kommen. Sie näherten sich der Stelle, und Vittoria erkannte, was sie dort sah. Es war das berühmte Heiligtum vor dem Hauptaltar des Petersdoms - die große, prachtvolle Vertiefung, in der die heiligste Reliquie des Vatikans aufbewahrt wurde. Sie kamen vor dem niedrigen Geländer an, das die Vertiefung umgab, und Vittoria sah hinunter auf die goldene Truhe, die von zahllosen flackernden Öllampen umgeben war.

»Das sind wohl die Gebeine des heiligen Petrus?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

Jeder, der den Petersdom besuchte, wusste, was in der goldenen Truhe ruhte.

»Offen gestanden nein«, antwortete der Camerlengo. »Ein weit verbreiteter Irrtum. Das dort ist kein Reliquienschrein. Die Truhe enthält Pallien - das sind die gewebten Schärpen, die der Papst neu ernannten Kardinalen überreicht.«

»Aber ich dachte.«

»Genau wie jeder andere. Die Reiseführer schreiben, dies sei der Schrein des heiligen Petrus, aber sein wirkliches Grab befindet sich zwei Stockwerke tiefer in der Erde. Der Vatikan hat es in den Vierzigerjahren bei einer Grabung gefunden. Niemand darf dort hinunter.«

Vittoria war schockiert. Während sie sich von der erleuchteten Vertiefung entfernten und wieder von Dunkelheit umfangen wurden, dachte sie an die vielen Geschichten von Pilgern, die

Tausende von Kilometern gereist waren, um einen Blick auf diese goldene Truhe zu werfen, in dem festen Glauben, die Gebeine und den Geist des heiligen Petrus vor sich zu haben. »Sollte der Vatikan die Menschen denn nicht aufklären?«

»Wir alle profitieren vom Kontakt mit dem Göttlichen. selbst wenn es nur eingebildet ist.«

Vittoria war Wissenschaftlerin und wusste, dass die Argumentation durchaus den Tatsachen entsprach. Sie hatte zahllose Studien über den Placebo-Effekt gelesen -gewöhnliches Aspirin hatte Krebsleiden geheilt, nur weil die damit behandelten Patienten glaubten, eine Wundermedizin zu nehmen. Aber was war Glaube letzten Endes sonst?

»Veränderung.«, sagte der Camerlengo, ». mit Veränderungen hat der Vatikan sich immer schon schwer getan, Signorina Vetra. Er scheut es traditionell, Fehler der Vergangenheit einzugestehen und die Strukturen der Kirche zu modernisieren. Seine Heiligkeit aber wollte das ändern.« Der Camerlengo stockte. »Er wollte die Kirche in die neue Zeit führen. Nach neuen Wegen zu Gott suchen.«

Vittoria nickte in der Dunkelheit. »Beispielsweise durch die Wissenschaft?«

»Offen gestanden, Wissenschaft erscheint vollkommen irrelevant.«

»Irrelevant?« Vittoria fielen eine Menge Begriffe ein, mit denen sich Wissenschaft beschreiben ließ, doch »irrelevant« gehörte nicht dazu.

»Wissenschaft kann heilen, und Wissenschaft kann töten. Es kommt auf die Seele des Menschen an, der sie benutzt. Und ich interessiere mich für die Seele.«

»Wann haben Sie Ihren Ruf gehört?«

»Noch bevor ich geboren wurde.«

Vittoria blickte ihn fragend an.

»Bitte verzeihen Sie, aber diese Frage erscheint mir stets ein wenig seltsam. Was ich damit sagen möchte: Ich habe immer gewusst, dass ich Gott dienen würde. Von dem Augenblick an, als ich mich zum ersten Mal meines Verstandes bediente. Allerdings war ich bereits ein junger Mann und beim Militär, als mir meine Bestimmung in vollem Umfang bewusst wurde.«

»Sie waren beim Militär?«, fragte Vittoria überrascht.

»Zwei Jahre. Ich weigerte mich, eine Waffe abzufeuern, also wurde ich zum Piloten ausgebildet. Ich flog Sanitätshubschrauber. Offen gestanden, ich fliege auch heute noch hin und wieder.«

»Haben Sie den Heiligen Vater geflogen?«

»Oh, nein! Diese kostbare Fracht haben wir den Profis überlassen. Doch seine Heiligkeit hat mich hin und wieder mit dem Helikopter nach Castel Gandolfo fliegen lassen.« Er zögerte und blickte Vittoria an. »Signorina Vetra, ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar für Ihre Hilfe an diesem schweren Tag. Und es tut mir sehr Leid wegen Ihres Vaters.«

»Danke sehr.«

»Ich habe meinen Vater nie gekannt. Er starb, bevor ich geboren wurde. Ich verlor meine Mutter, als ich zehn Jahre alt war.«

Vittoria sah überrascht auf. »Sie waren Waise?« Plötzlich spürte sie so etwas wie Seelenverwandtschaft.

»Ich überlebte ein Unglück. Ein Unglück, das mir meine Mutter nahm.«

»Wer hat sich um Sie gekümmert?«

»Gott«, antwortete der Camerlengo einfach. »Er hat mir buchstäblich einen neuen Vater gesandt. Ein Bischof aus Palermo besuchte mich im Krankenhaus und nahm mich bei sich auf. Damals war ich überhaupt nicht überrascht. Ich habe Gottes wachsame Hand schon als Junge über mir gespürt. Das

Auftauchen des Bischofs war nur eine Bestätigung für das, was ich bereits vermutet hatte - dass Gott mich ausersehen hatte, ihm zu dienen.«

»Sie glaubten, Gott habe Sie auserwählt?«

»Ja, und ich glaube es immer noch.« Nicht die kleinste Spur von Zweifel schwang in der Stimme des Camerlengos mit, nur Dankbarkeit. »Ich war viele Jahre das Mündel des Bischofs. Eines Tages wurde er Kardinal. Trotzdem hat er mich niemals vergessen. Und er. er ist der Vater, an den ich mich erinnere.« Ein Taschenlampenstrahl verirrte sich in das Gesicht des Camerlengos, und Vittoria bemerkte die Einsamkeit in seinen Augen.

Die Gruppe erreichte einen weiteren der mächtigen Pfeiler, und die Scheinwerferkegel ihrer Lampen trafen sich über einer Öffnung im Boden. Vittoria schaute die Treppe hinunter, die im Dunkel verschwand, und wäre mit einem Mal am liebsten umgekehrt. Die Gardisten halfen dem Camerlengo bereits auf die Stufen. Vittoria war als Nächste an der Reihe.

»Was wurde aus ihm?«, fragte sie, während sie die Stufen hinunterstieg, bemüht, ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu verleihen. »Dem Kardinal, der Sie bei sich aufgenommen hatte?«

»Er hat das Kardinalskollegium verlassen, um eine andere Aufgabe zu erfüllen.«

Vittoria war überrascht.

»Und dann starb er, wie ich voller Trauer sagen muss.«

»Le mie condoglianze«, sagte Vittoria. »Das tut mir Leid. Es ist noch nicht lange her, oder?«

Der Camerlengo wandte sich um, und die tiefen Schatten machten den Schmerz auf seinem Gesicht noch deutlicher. »Genau fünfzehn Tage. Wir gehen jetzt zu ihm.«

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