Kapitel 130.

Der Camerlengo spürte, wie sich der wundersame Nebel und das Adrenalin langsam verflüchtigten. Während die Schweizergardisten ihn die Scala Regia hinunter zur Sixtinischen Kapelle führten, hörte er die Menschen draußen auf dem Petersplatz singen. In diesem Augenblick wusste er, dass Berge versetzt worden waren.

Grazie Dio.

Er hatte um Kraft gebetet, und Gott hatte ihm Kraft verliehen. In Augenblicken des Zweifels hatte Gott zu ihm gesprochen. Deine Mission ist heilig, hatte er zu ihm gesagt. Ich werde dir die Kraft geben. Selbst mit Gottes Kraft hatte der Camerlengo Furcht verspürt, hatte sich zweifelnd gefragt, ob sein Weg der rechte war.

Wenn nicht du, hatte Gott ihn gefragt, wer sonst?

Wenn nicht jetzt, wann denn?

Wenn nicht auf diese Weise, wie dann?

Jesus, so hatte Gott ihn erinnert, hat alle errettet. Jesus hatte die Menschen vor ihrer Apathie errettet, hatte ihnen die Augen geöffnet durch Grauen und Hoffnung - durch die Kreuzigung und die Wiederauferstehung. Er hat die Welt verändert.

Doch das war zwei Jahrtausende her. Die Zeit hatte dazu geführt, dass das Wunder verblasst war. Die Menschen hatten vergessen. Sie hatten sich den falschen Idolen zugewandt -Technogöttern und Wundern des Verstandes. Was ist mit den Wundern des Herzens?

Der Camerlengo hatte oft zu Gott gebetet, ihm einen Weg zu zeigen, wie man die Menschen wieder zum Glauben führen konnte. Doch Gott hatte geschwiegen. Erst als der Camerlengo Augenblicke tiefster Dunkelheit durchlebt hatte, war Gott zu

ihm gekommen. Welch eine grauenvolle Nacht!

Der Camerlengo erinnerte sich noch, wie er in zerfetzten Nachtgewändern auf dem Boden gelegen und sich die eigene Brust zerkratzt hatte, in dem Versuch, seine Seele von den Schmerzen zu befreien - Schmerzen einer abscheulichen Wahrheit, die er Augenblicke zuvor erfahren hatte. Es kann nicht sein, hatte er geschrien. Und doch wusste er, dass es so war. Die Täuschung brannte in ihm wie die Feuer der Hölle. Der Bischof, der ihn bei sich aufgenommen hatte, der Mann, der wie ein Vater zu ihm gewesen war, der Geistliche, den der Camerlengo auf seinem Weg zum Pontifikat begleitet hatte, war ein Betrüger. Ein Lügner. Ein gewöhnlicher Sünder. Er hatte die Welt belogen - über eine so schändliche, so verräterische Tat, dass der Camerlengo bezweifelte, ob selbst Gott sie je vergeben würde. »Aber dein Eid!«, hatte der Camerlengo den Papst angeschrien. »Du hast deinen Eid gegenüber Gott gebrochen! Ausgerechnet du!«

Der Papst hatte versucht, sich zu rechtfertigen, doch der

Camerlengo hatte ihm nicht zuhören wollen. Er war nach draußen gerannt, blind durch die Gänge gestolpert, hatte sich übergeben, sich selbst zerkratzt, bis er sich blutend und allein auf dem kalten nackten Erdboden vor dem Grab des heiligen Petrus wieder gefunden hatte. Mutter Maria, was soll ich tun? Es war in diesen Augenblicken des Schmerzes und der Enttäuschung gewesen, als der Camerlengo in der Nekropole unter der gewaltigen Basilika lag und zu Gott betete, er möge ihn zu sich nehmen und vom Übel der Welt erlösen, dass Gott zu ihm gekommen war.

Die Stimme in seinem Kopf hallte wie Donner wider. »Hast du geschworen, deinem Gott zu dienen?«

»Ja!«, rief der Camerlengo aus tiefster Seele.

»‘Würdest du für deinen Gott sterben?«

»Ja! Nimm mich zu dir!« »Würdest du für deine Kirche sterben?«

»Ja! Herr, erlöse mich!«

»Aber würdest du auch für die Menschheit sterben?«

In der nun einsetzenden Stille hatte der Camerlengo das Gefühl, in einen Abgrund zu stürzen, tiefer und tiefer, und doch kannte er die Antwort. Er hatte sie immer gekannt.

»Ja!«, rief er in die Dunkelheit. »Ich würde für die Menschheit sterben! Wie dein Sohn, so würde ich für die Menschheit sterben!«

Stunden später lag der Camerlengo immer noch zitternd am Boden. Er sah das Gesicht seiner Mutter. Gott hat Pläne mit dir, sagte sie zu ihm. Der Camerlengo stürzte noch tiefer in den Wahnsinn. In diesem Augenblick sprach Gott erneut zu ihm, ohne dass Worte zu 'verstehen gewesen wären. Der Camerlengo verstand dennoch.

Gib ihnen ihren Glauben wieder.

Wenn nicht ich - wer dann?

Wenn nicht jetzt - wann denn?

Als die Wachen die Tür zur Sixtinischen Kapelle entriegelten, spürte der Camerlengo die Macht Gottes in seinen Adern. genau wie damals, als er ein Knabe gewesen war. Gott hatte ihn auserwählt. Vor langer, langer Zeit.

Dein Wille geschehe.

Der Camerlengo fühlte sich wie neugeboren. Die Schweizergardisten hatten seine Brust verbunden, ihn gebadet und in ein frisches weißes Leinengewand gekleidet. Außerdem hatten sie ihm eine Morphiumspritze gegen die Schmerzen gegeben. Der Camerlengo wünschte, sie hätten darauf verzichtet. Jesus hat seine Schmerzen am Kreuz drei Tage lang ertragen! Der Camerlengo konnte spüren, wie die Droge seine Sinne betäubte.

Als er die Kapelle betrat, bemerkte er, dass alle Kardinale ihn anstarrten. Sie sind voller Ehrfurcht vor Gott, sagte er sich, nicht vor mir. Aber Gott wirkt durch mich. Er ging durch den Mittelgang nach vorn und meinte, Verwirrung in den Gesichtern zu erkennen. Und mit jedem neuen Gesicht, an dem er vorüberkam, spürte er noch etwas anderes in den Blicken. Was war es? Der Camerlengo hatte sich vorzustellen versucht, wie sie ihn heute Nacht empfangen würden: mit Freude und Ehrfurcht. Doch als er in den Gesichtern zu lesen versuchte, sah er weder das eine noch das andere.

Dann erst blickte er nach vorn zum Altar und sah Robert Langdon.

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