Robert Langdon und Vittoria Vetra beobachteten die Piazza Barberini aus dem Schatten einer schmalen Nebengasse, die in die westliche Ecke des Platzes mündete. Die Kirche lag ihnen genau gegenüber, eine verschwommene Kuppel, die aus einer Gruppe von Gebäuden auf der anderen Seite des Platzes aufragte. Die Nacht hatte eine willkommene Kühle gebracht, und Langdon war überrascht, dass keine Menschen auf der Piazza zu sehen waren. Über ihnen plärrten Fernseher in offenen Fenstern und erinnerten daran, wohin alle verschwunden waren.
». bisher noch keine Stellungnahme des Vatikans. Illuminati haben zwei Kardinale ermordet. satanische Gruppe in Rom. Spekulationen über tief greifende Infiltration.«
Die Nachrichten hatten sich verbreitet wie Neros Feuer. Rom saß wie angewurzelt vor den Fernsehern, genau wie der Rest der Welt. Langdon fragte sich, ob sie wirklich imstande waren, diesen Zug noch zum Halten zu bringen. Während er den Platz im Auge behielt und wartete, fiel ihm auf, dass er trotz der neuen Gebäude noch immer eine bemerkenswert elliptische Form besaß. Hoch über ihnen blinkte ein gewaltiges Neonschild auf dem Dach eines Luxushotels. Vittoria hatte es bereits früher als Langdon bemerkt und ihn darauf hingewiesen. Der Name schien unheimlich passend:
HOTEL BERNINI
»Fünf vor zehn«, sagte Vittoria, während sie mit ihren Katzenaugen weiter unablässig den Platz absuchte. Sie hatte die Worte noch nicht zu Ende ausgesprochen, als sie plötzlich Langdons Arm packte und ihn in den Schatten zog. Dann deutete sie auf die Mitte des Platzes.
Langdon folgte ihrem ausgestreckten Finger. Als er sah, was
sie meinte, versteifte er sich.
Unter einer Straßenlaterne bewegten sich zwei dunkle Gestalten. Beide trugen dunkle Tücher über den Köpfen und hatten das Gesicht verhüllt - die traditionelle Kleidung katholischer Witwen. Für Langdon sahen sie aus wie Frauen, doch in der Dunkelheit war er sich seiner Sache nicht sicher. Eine der beiden schien älter zu sein und bewegte sich vornübergebeugt, als litte sie unter Schmerzen. Die andere, größer und kräftiger, schien sie zu stützen.
»Geben Sie mir die Pistole«, verlangte Vittoria.
»Sie können doch nicht einfach.«
Geschickt wie eine Katze langte Vittoria einmal mehr in seine Brusttasche. Die Pistole glitzerte stumpf in ihrer Hand. Dann wandte sie sich um und eilte nach links in die Schatten, ohne das geringste Geräusch zu verursachen, so als berührten ihre Füße den gepflasterten Boden überhaupt nicht. Sie umrundete das Paar, um sich von hinten zu nähern. Langdon stand einen Augenblick wie erstarrt da, als Vittoria sich in Bewegung setzte. Schließlich folgte er ihr, während er leise vor sich hin fluchte.
Die beiden dunklen Gestalten kamen nur langsam voran, und es dauerte keine halbe Minute, bis Langdon und Vittoria hinter ihnen waren und sich von dort näherten. Vittoria hielt die Waffe verborgen, außer Sicht, doch jederzeit einsatzbereit. Als Langdon gegen einen Kieselstein trat und ein lautes Geräusch verursachte, warf sie ihm einen nervösen Seitenblick zu. Doch die beiden Gestalten schienen nichts gehört zu haben. Sie unterhielten sich.
Als sie noch zehn Meter hinter ihnen waren, hörte Langdon zum ersten Mal Stimmen. Keine deutlichen Worte, nur leises Gemurmel. Vittoria lockerte ihre Arme, und die Waffe wurde sichtbar. Sechs Meter. Die Stimmen waren nun lauter - eine sehr viel lauter als die andere. Zornig. Langdon erkannte die Stimme einer alten Frau. Rau. Keifend. Er strengte sich an, um sie zu verstehen, doch eine zweite Stimme durchschnitt die Nacht.
»Mi scusi«, erklang Vittorias freundliche Stimme.
Langdon versteifte sich, als das vermummte Paar stehen blieb und sich umwandte. Vittoria ging immer noch direkt auf sie zu. Sie würden keine Zeit haben zu reagieren. Langdon selbst war stehen geblieben. Er beobachtete, wie Vittoria die Pistole zückte und den Lauf nach vorne schwang. Dann erblickte er über ihre Schulter hinweg ein Gesicht, nun erhellt von einer Straßenlaterne. Er sprang vor. »Vittoria! Nein!«
Vittoria war einen Sekundenbruchteil schneller als er. Mit einer Bewegung, die so schnell wie beiläufig war, verschränkte sie die Arme wie eine Frau, die in der Nacht fröstelt, sodass die Pistole nicht mehr zu sehen war. Langdon stolperte neben sie und hätte beinahe die beiden verschleierten Gestalten umgerannt.
»Buona sera«, sagte Vittoria überrascht.
Langdon atmete erleichtert auf. Vor ihnen standen zwei ältliche Frauen, die sie unter ihren Kopftüchern hervor mürrisch und misstrauisch anstarrten. Eine der beiden war so alt, dass sie kaum noch aus eigener Kraft stehen konnte. Die andere stützte sie. Beide hielten Rosenkränze. Die unerwartete Störung schien sie zu verwirren.
Vittoria lächelte, obwohl sie blass geworden war. »Dove e la chiesa Santa Maria della Vittoria - ist das die Kirche Santa Maria della Vittoria?«
Die beiden Frauen deuteten gleichzeitig auf die dunkle Silhouette des Gebäudes hinter sich, aus dessen Richtung sie gekommen waren. »E la.«
»Grazie«, bedankte sich Langdon, legte Vittoria die Hände auf die Schultern und zog sie sanft zu sich zurück. Nicht zu fassen, dass sie fast zwei alte Frauen angegriffen hatten.
»Non sipuö entrare«, warnte die jüngere der Frauen. »E chiusa temprano.«
»Sie hat früher geschlossen?« Vittoria sah überrascht aus.
»Perchef«
Beide Frauen schnatterten auf einmal los. Sie klangen ärgerlich. Langdon verstand nur Brocken ihres Italienisch. Offensichtlich waren die Frauen vor einer Viertelstunde in die Kirche gegangen, um in diesen Zeiten der Not für den Vatikan zu beten, als ein Mann erschienen war und ihnen mitgeteilt hatte, dass die Kirche früher schließen würde.
»Hanno conosciuto l’uomo?«, fragte Vittoria angespannt. »Haben Sie den Mann gekannt?«
Die beiden Frauen schüttelten die Köpfe. Er war ein straniero crudo gewesen, erklärten sie, und er hatte die Gläubigen fast mit Gewalt zum Gehen gezwungen, selbst den jungen Priester und den Küster, die gesagt hätten, dass sie die Polizei holen würden. Der Fremde hätte nur gelacht und erwidert, dass die Polizei am besten auch gleich Kameras mitbringen solle.
Kameras?, fragte sich Langdon.
Die Frau guckte ärgerlich und nannte den Fremden einen bararabo. Murrend setzten die beiden Alten schließlich ihren Weg fort.
»Bararabo?«, fragte Langdon. »Einen Barbaren?«
Vittoria wirkte nervös. »Nicht ganz. Bararabo ist ein abfälliger Ausdruck, ein Wortspiel für Arabo. Ein Araber also.«
Langdon erschauerte und wandte sich zu dem dunklen Umriss der Kirche um. Noch in der Bewegung sah er etwas hinter den bunt verglasten Fenstern, das sein Blut zu Eis erstarren ließ.
Vittoria hatte es noch nicht gesehen. Sie zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und drückte auf die automatische Wahlwiederholung. »Ich warne Olivetti.«
Wortlos berührte Langdon sie am Arm und deutete mit zitternden Fingern zur Kirche.
Vittoria stieß einen erschrockenen Laut aus.
Die bunten Kirchenfenster leuchteten wie teuflische Augen in der Nacht. Es gab keinen Zweifel - in der Kirche brannte es.