Kapitel 91.

Langdon und Vittoria rannten zum Haupteingang der Kirche Santa Maria della Vittoria. Die schwere Holztür war versperrt. Vittoria feuerte drei Schüsse aus Olivettis Halbautomatik in das alte Schloss, und es zersplitterte.

Die Kirche besaß keinen Vorraum. Als Langdon und Vittoria die Tür aufstießen, standen sie direkt im Hauptschiff. Der Anblick, der sie erwartete, war so bizarr, so unerwartet, dass Langdon für einen Moment die Augen schließen musste, bevor sein Verstand die Bilder verarbeiten konnte.

Die Santa Maria della Vittoria war in prächtigem Barock ausgestattet - vergoldete Wände, ein goldener Altar. Mitten in der Kirche, unter der Kuppel, waren Holzbänke aufeinander gestapelt und standen in hell lodernden Flammen, ein Freudenfeuer, das hoch hinauf in die Kuppel schlug. Erst als Langdons Blicke dem flammenden Inferno nach oben folgten, enthüllte sich ihm das wirkliche Entsetzen der gesamten Szene.

Hoch über dem Boden, rechts und links der Kuppel, hingen zwei lange Ketten herab, die normalerweise zum Schwenken von schweren Weihrauchgefäßen benutzt wurden. Doch jetzt hingen keine Gefäße an den Ketten, und sie schwangen auch nicht hin und her. Sie wurden für etwas anderes benutzt.

Ein Mensch hing an den Ketten. Ein nackter Mann, der mit ausgestreckten Armen an je eine Kette gefesselt war. Es sah aus, als würde er auseinander gerissen, als wäre er an ein unsichtbares Kreuz genagelt, das in diesem Haus Gottes schwebte.

Langdon starrte wie betäubt nach oben. Einen Augenblick später wurde ihm die ganze Abscheulichkeit der Szene bewusst

- der alte Mann war noch am Leben. Er hob den Kopf und

starrte aus weit aufgerissenen Augen in stillem Flehen zu Langdon hinunter. Auf der Brust des Mannes war ein Brandmal. Langdon konnte es nicht deutlich erkennen, doch er hatte keinen Zweifel, was dieses Mal besagte. Die Flammen schlugen von Sekunde zu Sekunde höher. Als sie die Beine des Mannes erreichten, stieß er einen gequälten Schrei aus. Sein Körper bebte vor Schmerz.

Wie von einer unsichtbaren Macht angetrieben, setzte Langdon sich in Bewegung. Er rannte durch den Mittelgang auf die lodernden Kirchenbänke zu. Seine Lungen füllten sich mit Rauch, und drei Meter vor dem Feuer stieß er auf eine beinahe massive Wand aus Hitze. Die Haut auf seinem Gesicht wurde versengt, und er prallte zurück, wobei er die Hände zum Schutz der Augen hochriss. Er landete hart auf dem Marmorboden, rappelte sich auf und kämpfte sich von neuem und mit schützend erhobenen Händen auf die Flammen zu.

Vergeblich. Das Feuer war zu heiß.

Er zog sich zurück und suchte die Wände ab. Ein schwerer Wandteppich, dachte er. Wenn ich die Flammen irgendwie ersticken kann... Doch er wusste, dass es keinen Wandteppich gab. Das hier ist eine Barockkirche, Robert, keine deutsche Ritterburg! Denk nach! Er zwang sich, nach oben zu schauen, auf den hängenden Mann.

Die Flammen züngelten bis in die raucherfüllte Kuppel hinauf. Die beiden Ketten führten von den Handgelenken des Gefesselten zu großen Metallringen in den Wänden und von dort nach unten zu Befestigungshaken auf beiden Seiten des Hauptschiffs. Langdon starrte zu einem der Haken. Er befand sich hoch an der Wand, doch er wusste, dass er nur eine der beiden Ketten lösen musste, um die Spannung von beiden zu nehmen. Wenn es ihm gelang, würde der Mann zur Seite und aus dem Feuer schwingen.

Ein plötzlicher Flammenstoß schoss in die Höhe, und

Langdon hörte einen durchdringenden Schrei von oben. Die Haut an den Füßen des Mannes warf Blasen. Der Kardinal verbrannte bei lebendigem Leibe. Langdon richtete den Blick auf den Befestigungshaken und rannte los.

Im hinteren Bereich der Kirche klammerte sich Vittoria Halt suchend an eine Holzbank und versuchte zu begreifen, was sie vor sich sah. Das Bild war grauenhaft. Sie zwang sich, den Blick abzuwenden. Unternimm etwas! Sie fragte sich, wo Olivetti steckte. Hatte er den Assassinen gesehen? Hatte er ihn gefasst? Wo steckten die beiden? Vittoria setzte sich in Bewegung, um Langdon zu helfen. Das Prasseln der Flammen wurde von Sekunde zu Sekunde lauter.

Dann hörte sie ein Geräusch und blieb wie angewurzelt stehen. Es war ein metallisches Brummen. Ganz in der Nähe. In kurzen Abständen. Es schien von den Kirchenbänken zu ihrer Linken zu kommen. Ein Geräusch wie das Klingeln eines Telefons, aber steinern und hart. Vittoria umklammerte entschlossen den Griff der Pistole und bewegte sich zwischen den Kirchenbänken hindurch auf die Quelle des Geräusches zu. Das Brummen wurde lauter. An. Aus. An. Aus. Regelmäßig.

Sie näherte sich dem Ende des Gangs und erkannte, dass das Brummen vom Boden kam, direkt hinter der letzten Kirchenbank, außer Sicht. Während sie näher schlich, die Pistole entsichert und in der vorgehaltenen rechten Hand, wurde ihr klar, dass sie auch in der Linken etwas hielt - ihr Mobiltelefon. In ihrer Panik hatte sie vergessen, dass sie es draußen vor der Kirche aus der Tasche gezogen hatte, um Oberst Olivetti zu warnen. Sie hob das Telefon an das Ohr. Es läutete noch immer. Niemand hatte abgehoben. Olivetti hatte ihren Anruf nicht entgegengenommen.

Plötzlich erkannte Vittoria die Ursache für das brummende Geräusch, und Entsetzen erfasste sie. Zitternd trat sie vor.

Eine leblose Gestalt lag auf dem Boden. Kein Blutstrom floss aus dem Leichnam, kein gebrandmarktes Fleisch war zu sehen, doch der Kopf des Obersten war nach hinten verdreht. ein Grauen erregender Anblick. Vittoria kämpfte gegen die aufsteigenden Bilder vom gequälten Leib ihres eigenen Vaters an.

Das Telefon Olivettis lag auf dem Boden und vibrierte wieder und wieder auf dem kalten Marmor. Vittoria klappte ihr eigenes Handy zu, und das Brummen brach ab. In der Stille hörte sie ein neues Geräusch. Ein Atmen in der Dunkelheit, direkt hinter ihr.

Sie wollte herumwirbeln, doch sie wusste, dass sie zu langsam war. Ein brennend heißer Blitz durchzuckte sie vom Kopf bis zu den Füßen. »Jetzt gehörst du mir«, hörte sie.

Dann wurde es schwarz um sie herum.

Auf der anderen Seite des Kirchenraums, an der linken Längswand, balancierte Langdon über eine Kirchenbank und reckte sich in dem Versuch, den Befestigungshaken zu erreichen. Die Kette hing immer noch zwei Meter über seinem Kopf. Haken wie dieser waren weit verbreitet, und sie hingen so hoch, um zu verhindern, dass Unbefugte sich daran zu schaffen machten. Langdon wusste, dass Priester piuoli benutzten, Holzleitern, um die Haken zu erreichen. Der Mörder hatte also offensichtlich die Leiter benutzt, um sein Opfer aufzuhängen. Und wo steckt sie jetzt, verdammt? Langdon blickte nach unten und suchte den Boden ringsum ab. Er meinte sich schwach zu erinnern, irgendwo hier drinnen eine Leiter gesehen zu haben. Aber wo? Einen Augenblick später fiel es ihm wieder ein, und sein Mut sank. Er wandte sich zu dem tosenden Feuer um. Dort war die Leiter, oben auf dem Haufen aus Kirchenbänken, und stand in hellen Flammen.

Verzweiflung breitete sich in Langdon aus. Von seiner erhobenen Plattform aus suchte er den gesamten Innenraum nach irgendetwas ab, das ihm helfen konnte, den Haken zu erreichen. Plötzlich durchfuhr ihn ein weiterer Schreck. Wo steckt Vittoria?

Sie war verschwunden. Ist sie losgelaufen, um Hilfe zu holen? Langdon rief laut ihren Namen, doch niemand antwortete. Und wo ist Olivetti?

Ein lang gezogener, gequälter Schrei von oben verriet Langdon, dass es zu spät war. Er richtete den Blick zur Kuppel hinauf, zu dem langsam verbrennenden Opfer, und ein einziger Gedanke erfüllte ihn. Wasser.

»Ich brauche Wasser!«, rief er laut. »Schnell!«

»Das kommt als Nächstes«, antwortete eine raue Stimme aus dem hinteren Teil der Kirche.

Langdon wirbelte herum und wäre fast von der Kirchenbank gefallen.

Durch den Seitengang kam ein dunkles Ungeheuer von einem Mann direkt auf ihn zu. Selbst im Schein des Feuers waren seine Augen schwarz. Langdon erkannte die Pistole in der Hand des Mannes als jene Waffe, die er selbst in seiner Jacke getragen hatte. die Waffe, die Vittoria gehalten hatte, als sie die Kirche betreten hatten.

Panik stieg in Langdon auf. Was ist mit Vittoria? Was hat dieses Ungeheuer ihr angetan? Ist sie verletzt? Oder tot...? Im gleichen Augenblick bemerkte Langdon, dass der Mann oben in der Kuppel lauter schrie. Der Kardinal würde sterben. Es war unmöglich, ihm noch zu helfen.

Der Mörder richtete die Pistole auf Langdon und zielte. Langdons Instinkt gewann die Oberhand, und er warf sich in dem Augenblick zur Seite, als der Schuss aufpeitschte. Mit ausgestreckten Armen segelte er über die Kirchenbänke hinweg.

Er prallte hart auf, rollte über eine Bank und krachte auf den harten Marmorboden. Zu seiner Rechten näherten sich Schritte. Langdon warf sich in Richtung des Altars herum und kroch

unter den Kirchenbänken hindurch um sein Leben.

Hoch oben unter der Kuppel durchlitt Kardinal Guidera die letzten bewussten Augenblicke der Qual. Er blickte an seinem nackten Leib hinab und erkannte voller Entsetzen, wie die Haut an seinen Beinen Blasen warf und sich ab schälte. Ich bin in der Hölle, dachte er. Mein Gott, warum hast du mich verlassen? Er wusste, dass es die Hölle sein musste, weil er das Brandzeichen auf seiner Brust lesen konnte. und obwohl es auf dem Kopf stand, konnte er es durch irgendeine teuflische Magie lesen:

Drei Wahlgänge. Kein Papst.

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