Die Eindrücke waren verschwommen; sie kamen und gingen. Allmählich klärte sich Langdons Blick wieder. Seine Beine schmerzten, und sein Körper fühlte sich an, als wäre er von einem Lastwagen überfahren worden. Er lag auf der Seite am Boden. Es roch nach Erbrochenem. Noch immer hörte er das unablässige Plätschern des Wassers, doch es klang nicht mehr friedlich in seinen Ohren. Und er hörte noch andere Geräusche -Stimmen, Gespräche rings um ihn herum. Er sah verschwommene weiße Schatten. Benommen fragte sich Langdon, wo er sich befand. Dem Brennen in seiner Kehle nach zu urteilen, konnte es jedenfalls nicht der Himmel sein.
»Er erbricht sich nicht mehr«, sagte ein Mann auf Italienisch. »Dreht ihn wieder um.« Die Stimme klang fest und professionell.
Langdon spürte, wie Hände ihn ergriffen und auf den Rücken drehten. Er war benommen. Als er sich aufzusetzen versuchte, zwangen die Hände ihn sanft wieder zurück. Er ergab sich in sein Schicksal. Jemand durchsuchte seine Taschen und seine persönlichen Dinge.
Dann verlor er schlagartig das Bewusstsein.
Dr. Jacobus war kein religiöser Mann; die medizinische Forschung hatte ihn vor langer Zeit davon abgebracht. Und doch die Ereignisse in der Vatikanstadt in dieser Nacht hatten seinen nüchternen, logischen Verstand auf eine harte Probe gestellt. Fallen jetzt Körper vom Himmel?
Dr. Jacobus tastete nach dem Puls des durchnässten Mannes, den sie soeben aus dem Tiber gezogen hatten. Der Arzt gelangte zu der Ansicht, dass Gott persönlich diesen Mann gerettet haben musste. Beim Aufprall aufs Wasser war er bewusstlos
geworden, und wären nicht Dr. Jacobus und sein Team am Ufer gewesen, um das nächtliche Spektakel zu beobachten, wäre der Mann ohne Zweifel ertrunken.
»E Americano«, sagte eine Krankenschwester, während sie die Papiere durchblätterte, die sie aus der Jacke des Fremden gezogen hatte.
Amerikaner? Die Römer witzelten häufig, dass es genügend Amerikaner in Rom gab, um Hamburger zu einem typisch italienischen Gericht zu deklarieren. Aber Amerikaner, die vom Himmel fallen? Jacobus leuchtete mit einer Stablampe in die Augen des Mannes und überprüfte die Reflexe. »Signore? Können Sie mich hören? Wissen Sie, wo Sie sind?«
Der Mann hatte wieder das Bewusstsein verloren. Jacobus war nicht sonderlich überrascht. Der Fremde hatte eine Menge Wasser erbrochen, nachdem Jacobus die kardiopulmonale Reanimation durchgeführt hatte.
»Si chiama Robert Langdon!«, las die Krankenschwester den Namen des Fremden von dessen Führerschein.
Die anderen drehten sich erstaunt zu ihr um.
»Impossibile!«, rief Jacobus. Robert Langdon war der Amerikaner aus dem Fernsehen - der Harvard-Professor, der dem Vatikan geholfen hatte. Jacobus hatte Langdon erst ein paar Minuten zuvor gesehen, live, wie er auf dem Petersplatz in einen Helikopter gestiegen und kilometerhoch in den Himmel geflogen war. Jacobus und die anderen waren nach draußen und ans Ufer des Tiber gerannt, um die Antimaterie-Explosion zu beobachten - eine gewaltige Kugel aus Licht, ein Anblick, den sie ihr Leben lang nicht vergessen würden. Das kann unmöglich der gleiche Mann sein!
»Er ist es!«, rief die Krankenschwester und strich dem Bewusstlosen das nasse schwarze Haar aus der Stirn. »Außerdem erkenne ich sein Tweedjackett!«
Plötzlich schrie jemand vom Eingang des Hospitals - einer der weiblichen Patienten. Sie schrie, als würde sie den Verstand verlieren. Dann hielt sie ihr kleines Transistorradio in die Höhe und betete zu Gott. Wie es schien, war Camerlengo Carlo Ventresca auf wundersame Weise auf dem Dach des Petersdoms aufgetaucht.
Dr. Jacobus beschloss, auf direktem Weg in die Kirche zu gehen, sobald seine Schicht um acht Uhr am Morgen zu Ende war.
Die Lichter über Langdon leuchteten heller. Er lag auf einer Art Untersuchungstisch und roch Desinfektionsmittel - starke Chemikalien. Jemand hatte ihm eine Injektion gegeben, und man hatte ihm die Kleidung ausgezogen.
Das sind keine Engel, dachte er in seinem dämmrigen Delirium. Vielleicht Aliens? Ja, er hatte von solchen Dingen gehört. Gott sei Dank würden sie ihm nichts tun. Sie waren nur hinter seiner.
»Nur über meine Leiche!« Langdon setzte sich kerzengerade auf und öffnete die Augen.
»Attentat«, rief eine der Kreaturen und hielt ihn fest. Auf ihrem Kittel stand »Dr. Jacobus«. Sie sah bemerkenswert menschenähnlich aus.
»Ich. ich dachte.«, stammelte Langdon.
»Ganz ruhig, Mr. Langdon. Sie befinden sich in einem Krankenhaus.«
Der Nebel begann sich zu lichten. Langdon spürte eine Woge der Erleichterung. Er hasste Krankenhäuser, doch sie waren auf jeden Fall besser als Aliens, die seine Testikel abschnitten.
»Mein Name ist Dr. Jacobus«, stellte der Mann sich vor. Er erklärte, was sich zugetragen hatte. »Sie hatten großes Glück.«
Langdon war alles andere als glücklich. Seine Erinnerungen waren wirr. der Helikopter. der Camerlengo. Er hatte überall Schmerzen. Sie gaben ihm Wasser, und er spülte sich
den Mund aus. Sie verbanden seine Hand.
»Wo ist meine Kleidung?«, fragte Langdon, der nur einen Papierkittel trug.
Eine der Krankenschwestern deutete auf einen tropfnassen Haufen aus zerfetztem Khaki und Tweed auf einer Ablage. »Sie waren völlig durchnässt. Wir mussten Ihnen die Sachen vom Leib schneiden.«
Langdon betrachtete die Überreste seiner Harris-Tweedjacke und runzelte die Stirn.
»Sie hatten eine Art Kleenex in der Tasche«, sagte die Krankenschwester.
Das war der Augenblick, da Langdon die Pergamentfetzen erkannte, die an seiner Jacke klebten. Das Blatt aus Galileos Diagramma. Die letzte verbliebene Kopie auf Erden war soeben vernichtet worden. Er war zu betäubt, um zu reagieren. Sprachlos starrte er die Schwester an.
»Wir haben Ihre persönlichen Gegenstände gerettet.« Sie hielt einen Plastikbeutel hoch. »Brieftasche, Camcorder und einen Stift. Ich habe den Camcorder getrocknet, so gut es ging.«
»Ich besitze keinen Camcorder.«
Die Krankenschwester legte die Stirn in Falten und hielt ihm den Beutel hin. Langdon schaute hinein. Tatsächlich, neben seiner Brieftasche und dem Füllfederhalter lag ein winziger SONY RUVI Camcorder. Jetzt erinnerte er sich. Der sterbende Kohler hatte ihm das Gerät anvertraut, damit er es den Medien gab.
»Wir haben den Camcorder in Ihrer Tasche gefunden. Ich glaube allerdings, Sie brauchen einen neuen.« Die Krankenschwester klappte den winzigen Bildschirm auf der Rückseite auf. »Das Display ist hin.« Dann hellte ihre Miene sich auf. »Der Ton funktioniert allerdings noch. Schwach, aber er ist zu hören.« Sie hielt sich das Gerät ans Ohr. »Er spielt
immer wieder das Gleiche, wie in einer Schleife.« Sie lauschte einen Augenblick und reichte das Gerät dann Langdon. »Zwei Männer. Sie scheinen zu streiten.«
Verwirrt nahm Langdon den Camcorder und hielt ihn ans Ohr. Die Stimmen klangen hoch und metallisch, wiren jedoch verständlich. Eine war ganz nah, die andere weiter weg. Langdon erkannte beide.
Er saß in seinem Papierkittel auf dem Bett und lauschte fassungslos der Unterhaltung. Als das Ende des Streits kam, war er dankbar dafür.
Mein Gott!
Das Gespräch wiederholte sich. Langdon nahm den Camcorder vom Ohr und starrte in tiefer Bestürzung auf das Gerät. Die Antimaterie. der Helikopter.
Aber das würde bedeuten...
Erneut wurde ihm übel. Wut und Enttäuschung stiegen in ihm auf. Er schwang sich vom Untersuchungstisch und stand schwankend da.
»Mr. Langdon!«, mahnte der Arzt und versuchte ihn aufzuhalten.
»Ich brauche etwas zum Anziehen«, verlangte Langdon. Sein Rücken war nackt und kalt, und er spürte die Zugluft.
»Sie müssen sich ausruhen.«
»Nein. Ich verlasse das Krankenhaus. Sofort. Besorgen Sie mir Kleidung.«
»Aber.«
»Auf der Stelle!«
Das Personal wechselte befremdete Blicke. »Wir haben nichts, Signore«, sagte der Arzt schließlich. »Vielleicht kann Ihnen morgen ein Freund etwas vorbeibringen.«
Langdon atmete tief und geduldig durch, als er den Arzt
anschaute. »Dr. Jacobus, ich werde dieses Krankenhaus jetzt verlassen. Ich benötige etwas zum Anziehen. Mein Ziel ist die Vatikanstadt. Man geht nicht mit nacktem Hintern in die Vatikanstadt. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«
Dr. Jacobus schluckte schwer. »Bringen Sie diesem Mann etwas zum Anziehen, Schwester.«
Als Langdon aus dem Ospedale Tiberina humpelte, fühlte er sich wie ein zu groß geratener Pfadfinder. Er trug den blauen Overall eines Sanitäters, der vorn von einem Reißverschluss zusammengehalten wurde, der von oben bis unten reichte. Der Overall war übersät mit zahlreichen Stoffabzeichen, die von den Qualifikationen seines Trägers zeugten.
Die Frau in Langdons Begleitung war stämmig und trug einen ähnlichen Overall. Der Arzt hatte Langdon versichert, sie würde ihn in Rekordzeit zum Vatikan bringen.
»Molto traffico«, sagte Langdon und erinnerte die Frau daran, dass die Gegend rings um den Vatikan voller Fahrzeuge und Menschen war.
Die Frau schien unbeeindruckt. Sie deutete stolz auf eines ihrer Abzeichen. »Sono conducente dt ambulanza«, sagte sie und führte Langdon an der Seite des Gebäudes vorbei nach hinten, wo ihr Fahrzeug stand. Als Langdon es sah, blieb er wie angewurzelt stehen. Es war ein alter Notarzthubschrauber. Auf dem Rumpf stand Aero-Ambulanza.
Die Frau lächelte, als sie Langdons Reaktion sah. »Wir fliegen Citta del Vaticano. Tuttopronto.«