Selbst mit flackerndem Blaulicht und plärrendem Martinshorn schien Olivettis Alfa Romeo keine Aufmerksamkeit zu erwecken, als er über die Brücke und in das Herz des alten Rom raste. Sämtlicher Verkehr bewegte sich in die andere Richtung, auf den Vatikan zu, als wäre der Heilige Stuhl mit einem Mal zum größten Szenetreff der Stadt geworden.
Langdon saß auf dem Rücksitz, und tausend Fragen gingen ihm durch den Kopf. Er fragte sich, ob sie diesmal rechtzeitig kommen würden, um den Mörder zu fassen, und ob er ihnen sagen würde, was sie wissen mussten, oder ob es vielleicht schon zu spät war. Wie lange noch, bevor der Camerlengo der Menschenmenge auf dem Petersplatz verkünden würde, dass sie in Gefahr war? Der Zwischenfall im Geheimarchiv nagte immer noch an ihm. Ein Irrtum?
Olivetti lenkte den Alfa Romeo im Höllentempo durch die engen Straßen in Richtung der Kirche Santa Maria della Vittoria. Nachdem Langdon endlich ein paar Minuten Ruhe hatte und einfach nur dasitzen konnte, begriff er allmählich, dass der letzte Papst ermordet worden war, und Staunen breitete sich in ihm aus. Der Gedanke war unvorstellbar - und doch auf gewisse Weise vollkommen logisch. Infiltration war stets die Machtbasis der Illuminati gewesen - Umschichtung von Macht von innen heraus. Und es war ja nicht so, dass noch nie ein Papst ermordet worden wäre. Es gab zahllose Gerüchte über Verrat, doch weil noch nie eine Autopsie durchgeführt worden war, gab es keinerlei Beweise. Bis vor gar nicht langer Zeit jedenfalls. Erst vor kurzem hatten Wissenschaftler die Genehmigung erhalten, den Sarkophag von Papst Cölestin V. mithilfe von Röntgenstrahlen zu analysieren. Der Papst war den Gerüchten zufolge von seinem übereifrigen Nachfolger beseitigt
worden, Bonifaz VIII. Die Forscher hatten sich erhofft, die Röntgenuntersuchung würde einen Hinweis erbringen, einen gebrochenen Knochen vielleicht. Tatsächlich hatten die Röntgenbilder einen zwanzig Zentimeter langen Nagel im Schädel des Toten gezeigt.
Nun erinnerte sich Langdon auch an eine Reihe von Nachrichtenmeldungen, die andere Illuminati-Forscher ihm vor ein paar Jahren zugesandt hatten. Zuerst hatte er die Meldungen für einen dummen Streich gehalten; dann aber war er in die Bibliothek von Harvard gegangen und hatte die MikroficheDatenbank durchsucht, um herauszufinden, ob die Artikel authentisch waren. Zu Langdons Erstaunen waren sie es tatsächlich. Er hatte sie inzwischen ständig auf seinem eigenen Schwarzen Brett - als Beispiele dafür, dass selbst angesehene Nachrichtenagenturen sich manchmal von einer Illuminati-Paranoia hinreißen ließen. In der Rückbesinnung erschienen ihm die Artikel viel weniger abwegig als damals. Langdon sah sie deutlich vor sich.
THE BRITISH BROADCASTING CORPORATION 14. Juni 1998
Papst Johannes Paul L, der 1978 starb, war das Opfer einer Verschwörung der Freimaurerloge P2. Die geheime Gesellschaft P2 beschloss, den damaligen Papst zu ermorden, weil sie erkannte, dass der Heilige Vater den amerikanischen Erzbischof Paul Marcinkus als Präsidenten der Vatikanischen Bank entlassen wollte. Die Bank war in zweifelhafte Finanzgeschäfte mit der Freimaurerloge verwickelt.
THE NEW YORK TIMES 24. August 1998
Warum trug der verstorbene Papst Johannes Paul I. sein Tageshemd im Bett? Warum war es zerrissen? Die Fragen enden damit noch längst nicht. Es gab keinerlei medizinische Untersuchung. Kardinal Villot hat eine Autopsie mit der Begründung untersagt, dass noch niemals ein Papst obduziert worden sei. Und die Medikamente Johannes Pauls sind auf mysteriöse Weise von seinem Nachttisch verschwunden, genau wie seine Brille, seine Pantoffeln und sein handschriftliches Testament.
LONDON DAILY MAIL 27. August 1998
. eine Verschwörung, in die eine mächtige, skrupellose und illegale Freimaurerloge verwickelt ist, deren Einfluss bis in den Vatikan hinein reicht.
Das Mobiltelefon in Vittoria Tasche summte und riss Langdon aus seinen Gedanken.
Verwirrt nahm sie das Gerät aus der Tasche und fragte sich, wer anrief. Selbst aus der Entfernung von fast einem halben Meter erkannte Langdon die schneidende Stimme.
»Vittoria? Hier Maximilian Kohler. Haben Sie die Antimaterie bereits gefunden?«
»Max! Geht es Ihnen besser?«
»Ich habe die Nachrichten gesehen. Kein Wort von CERN oder der Antimaterie. So weit, so gut. Wie sieht es bei Ihnen aus?«
»Wir haben den Behälter noch nicht gefunden. Die Situation ist kompliziert. Robert Langdon war eine große Hilfe. Wir haben eine Spur zu dem Mann, der die Kardinale entführt hat und hinter den Morden steckt. Im Augenblick sind wir unterwegs zur.«
»Signorina Vetra!«, unterbrach Oberst Olivetti. »Sie haben genug gesagt!«
Sie bedeckte das Mikrofon und fuhr Olivetti an: »Oberst, ich spreche mit dem Generaldirektor von CERN. Er hat ein Recht zu erfahren.«
»Er hat ein Recht, selbst hierher zu kommen und die Situation zu klären!«, fauchte Olivetti leise. »Sie sprechen auf einer ungesicherten Mobilfunkfrequenz! Sie haben genug gesagt!«
Vittoria atmete tief durch. »Max?«
»Ich habe vielleicht ein paar Informationen für Sie«, sagte Max. »Über Ihren Vater. Ich weiß möglicherweise, wem er von der Antimaterie erzählt hat.«
Vittorias Gesichtsausdruck wurde verschlossen. »Mein Vater hat gesagt, er hätte mit niemandem darüber gesprochen!«
»Ich fürchte, Vittoria, das ist nicht ganz zutreffend. Ich muss zuerst noch ein paar Sicherheitsaufzeichnungen überprüfen. Ich melde mich bald wieder.« Die Verbindung wurde unterbrochen.
Vittoria sah wächsern aus, als sie das Mobiltelefon in ihre Tasche zurückschob.
»Alles in Ordnung?«, fragte Langdon.
Vittoria nickte, doch an ihren zitternden Fingern sah Langdon, dass sie log.
»Die Kirche steht auf der Piazza Barberini«, erklärte Olivetti, während er das Martinshorn abschaltete und einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett warf. »Wir haben noch neun Minuten.«
Als Langdon zum ersten Mal bewusst geworden war, wo der dritte Wegweiser der Illuminati stand, hatte der Name des Platzes eine Glocke zum Klingen gebracht. Piazza Barberini. Irgendetwas daran war ihm vertraut erschienen. etwas, das er nicht benennen konnte. Jetzt fiel es ihm wieder ein. Die Piazza war wegen einer U-Bahn-Station in die Schlagzeilen geraten. Vor ungefähr zwanzig Jahren hatten die Bauarbeiten einen Streit unter Kunsthistorikern ausgelöst. Sie hatten befürchtet, dass die Grabungen unter der Piazza den tonnenschweren Obelisken im Zentrum aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Die Städteplaner hatten den Obelisken daraufhin entfernen lassen und an seiner Stelle einen kleinen Brunnen errichtet, den Tritonsbrunnen.
Zu Berninis Zeiten, erkannte Langdon, hatte ein Obelisk auf der Piazza Barberini gestanden! Welche Zweifel er auch gehabt haben mochte, dass die Ekstase der Heiligen Teresa der richtige Wegweiser zum dritten Altar der Wissenschaft war - spätestens jetzt waren sie wie weggewischt.
Einen Block von der Piazza entfernt bog Olivetti in eine Seitenstraße, ging vom Gas und hielt schließlich an. Er zog seine Jacke aus, krempelte die Ärmel hoch und lud seine Pistole durch.
»Wir dürfen nicht riskieren, dass Sie beide erkannt werden«, sagte er. »Sie waren im Fernsehen. Ich möchte, dass Sie auf der anderen Seite der Piazza. warten, außer Sicht, und den Haupteingang beobachten. Ich gehe von hinten rein.« Er zog eine zweite Waffe und reichte sie Langdon. »Nur für den Fall.«
Langdon runzelte die Stirn. Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass man ihm eine Waffe in die Hand drückte. Er schob sie in die Brusttasche seines Jacketts, wobei ihm bewusst wurde, dass er noch immer das Blatt aus Galileos Diagramma bei sich trug. Nicht zu fassen, dass er vergessen hatte, es im Vatikanischen Geheimarchiv zurückzulassen! Er stellte sich vor, wie der Kurator sich in wütenden Zuckungen auf dem Boden wälzte bei dem Gedanken, dass dieses unbezahlbare Artefakt wie eine beliebige Touristenkarte durch Rom getragen wurde. Dann fiel ihm das Chaos aus zersplittertem Glas und auf dem Boden verstreuten Katalogen ein, das er im Archiv hinterlassen hatte. der Kurator würde ganz andere Probleme haben. Falls die Archive diese Nacht überhaupt überstehen...
Olivetti stieg aus dem Wagen und deutete die Straße entlang. »Die Piazza liegt in dieser Richtung. Halten Sie die Augen offen, und lassen Sie sich nicht sehen.« Er deutete auf das Telefon in seinem Gürtel. »Signorina Vetra, lassen Sie uns die automatische Wahl noch einmal testen.«
Vittoria zückte ihr Handy und tippte auf die Taste, unter der sie Olivettis Nummer beim Pantheon einprogrammiert hatte. Olivettis Mobiltelefon vibrierte lautlos.
Der Kommandant der Schweizergarde nickte. »Gut. Falls Sie etwas sehen, möchte ich es wissen.« Er entsicherte seine Pistole. »Ich werde in der Kirche warten. Dieser Heide gehört mir.«
In diesem Augenblick klingelte ganz in der Nähe ein weiteres Mobiltelefon.
Der Hashishin nahm den Anruf entgegen. »Ja?«
»Ich bin es«, sagte die Stimme. »Janus.«
Der Hashishin lächelte. »Hallo, Meister.«
»Ihre Position ist möglicherweise bekannt. Jemand ist unterwegs, um Sie aufzuhalten.«
»Wer es auch sein mag, er kommt zu spät. Sämtliche Arrangements sind getroffen.«
»Sehr gut. Stellen Sie sicher, dass Sie lebend entkommen. Es gibt noch Arbeit für Sie.«
»Wer mir im Weg steht, wird sterben.«
»Wer Ihnen im Weg steht, weiß Bescheid!«
»Sie meinen diesen amerikanischen Gelehrten?«
»Sie wissen von ihm?«
Der Hashishin kicherte. »Kühl, aber naiv. Er hat am Telefon zu mir gesprochen. Er gehört zu dieser Frau, die das genaue Gegenteil von ihm zu sein scheint.« Der Hashishin spürte aufsteigende Erregung beim Gedanken an das feurige Temperament, das er bei ihr gespürt hatte.
Auf der anderen Seite der Verbindung entstand eine Pause das erste Zögern, das der Hashishin je bei seinem Illuminati-Meister bemerkt hatte. Schließlich sprach Janus wieder. »Eliminieren Sie die beiden, falls es nötig werden sollte.«
Der Hashishin lächelte. »Betrachten Sie es als erledigt.« Er spürte, wie ihn ein Gefühl der Lust durchströmte. Obwohl ich die Frau vielleicht als Belohnung behalten werde.