Die Steinstufen waren unglaublich steil.
Ich werde hier unten sterben, dachte Vittoria und klammerte sich an dem dicken Seil fest, das als Geländer diente, während sie hinter den anderen durch den engen Schacht nach unten stieg. Langdon hatte zwar trotz allem Anstalten gemacht, den Camerlengo von seinem Vorhaben abzuhalten, doch Chartrand war vorgetreten und hatte Langdon gestoppt. Offensichtlich war der junge Offizier der Schweizergarde überzeugt, dass der Camerlengo genau wusste, was er tat.
Nach einem kurzen Handgemenge hatte sich Langdon losgerissen und war dem Camerlengo mit Chartrand dicht auf den Fersen gefolgt. Vittoria war instinktiv hinter den beiden Männern hergerannt.
Jetzt kletterte sie Hals über Kopf eine atemberaubend steile Treppe hinunter, wo jeder falsche Schritt einen tödlichen Sturz nach sich ziehen konnte. Tief unter sich erkannte sie das goldene Leuchten der Öllampe in der Hand des Camerlengos. Hinter ihr eilten die beiden BBC-Reporter die Stufen hinab. Das Scheinwerferlicht der Kamera warf lange unstete Schatten an die Wände und beleuchtete Chartrand und Langdon. Es war kaum zu glauben, dass dieser Wahnsinn live übertragen wurde. Stellt die verdammte Kamera ab! Andererseits war das Licht des Scheinwerfers die einzige Möglichkeit, überhaupt zu sehen, wohin sie gingen.
Die bizarre Jagd dauerte an, und Vittorias Gedanken peitschten hin und her wie in einem Sturm. Was konnte der Camerlengo dort unten schon ausrichten? Selbst wenn er die Antimaterie fand - es war zu spät. Die Zeit war ihnen davongelaufen.
Zu ihrer Überraschung sagte ihre Intuition, dass der Camerlengo wahrscheinlich Recht hatte. Indem die Antimaterie drei Stockwerke tief unter der Erde versteckt war, hatten die Illuminati eine beinahe menschliche Wahl getroffen. So tief unter der Erde - fast so tief wie im Z-Labor - würde eine Annihilation nur einen Bruchteil der Schäden anrichten. Keine Schockwelle aus Hitze, keine umherfliegenden Trümmer, die unschuldige Zuschauer trafen, nichts weiter als ein biblisches Loch, das sich in der Erde auftat und die Basilika in einem großen Krater verschlang.
War das Kohlers letzte anständige Tat gewesen? Leben zu schonen? Vittoria konnte sich noch immer nicht recht vorstellen, dass der tote Generaldirektor in die Verschwörung der Illuminati verwickelt gewesen sein sollte. Sie verstand seinen Hass auf die Religion. doch diese unglaubliche Konspiration schien gar nicht zu ihm zu passen. War Kohlers Hass tatsächlich so tief gewesen, dass er die Zerstörung des Vatikans geplant hatte? Einen Assassinen beauftragt hatte? Ihren Vater, den Papst und vier Kardinale hatte ermorden lassen? Es schien undenkbar. Und wie hatte Kohler den Verrat in den Mauern des Vatikans begehen können? Rocher war Kohlers Mann im Vatikan, sagte sich Vittoria. Rocher war ein Illuminatus. Ohne Zweifel hatte Rocher Schlüssel für jeden Raum besessen - das päpstliche Schlafzimmer, Il Passetto, die Nekropole, das Grab des heiligen Petrus. Er hatte die Antimaterie auf das Grab des heiligen Petrus gestellt - einen Ort, den kaum jemals ein Mensch zu Gesicht bekam. Anschließend hatte er seine Leute dadurch abgelenkt, dass er sie lediglich in den öffentlich zugänglichen Bereichen hatte suchen lassen. Rocher hatte gewusst, dass niemand den Behälter finden würde.
Aber Rocher hat nicht damit gerechnet, dass der Camerlengo eine Botschaft von Gott erhält.
Die Botschaft. Das war der große Sprung in der Logik, das Wunder, das zu glauben Vittorias Verstand sich immer noch weigerte. Hatte Gott tatsächlich mit dem Camerlengo gesprochen? Vittorias Instinkte sagten Nein, obwohl ihr Fachgebiet die Physik der Abhängigkeiten war. Das Studium der Verkettungen. Sie beobachtete jeden Tag Formen von Kommunikation, die an das Wunderbare grenzten -Zwillingseier von Seeschildkröten, die getrennt und in Labors ausgebrütet wurden, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt lagen und trotzdem in genau der gleichen Sekunde schlüpften. Quadratkilometer voller Quallen, die wie eine einzige in perfektem Rhythmus pulsierten. Es gibt unsichtbare Formen von Kommunikation, überall um uns herum, dachte sie.
Doch zwischen Gott und den Menschen?
Vittoria sehnte sich nach ihrem Vater. Er hätte sie in ihrem Glauben stärken können. Einmal hatte er ihr in wissenschaftlichen Begriffen erklärt, wie man sich göttliche Kommunikation vorzustellen hatte - und sie hatte ihm geglaubt. Sie erinnerte sich noch immer an den Tag, als sie ihn beim Beten gesehen und gefragt hatte: »Vater, warum machst du dir die Mühe zu beten? Gott kann dir nicht antworten.«
Leonardo Vetra hatte mit väterlichem Lächeln zu ihr aufgeblickt. »Meine Tochter, die Skeptikerin. Also glaubst du nicht, dass Gott zu den Menschen spricht? Lass es mich mit deinen Worten erklären.« Er hatte das Modell eines menschlichen Gehirns aus dem Regal genommen und es vor Vittoria hingestellt. »Wie du wahrscheinlich sehr gut weißt, benutzen menschliche Wesen nur einen sehr kleinen Teil ihres Verstandes. Wenn man sie jedoch in emotional angespannte Situationen versetzt - beispielsweise ein Verletzungstrauma, extreme Angst oder Freude oder tiefe Meditation - fangen die Neuronen unvermittelt an, wie verrückt zu feuern, was in einer massiven Erweiterung des Bewusstseins resultiert.«
»Na und?«, hatte Vittoria geantwortet. »Nur weil man klarer denkt, heißt das noch lange nicht, dass man mit Gott spricht!«
»Aha!«, hatte Leonardo Vetra ausgerufen. »Und doch fallen dem Menschen nicht selten in genau diesen Momenten bemerkenswerte Lösungen zu scheinbar unmöglichen Problemen ein. Das ist es, was Gurus>höhere Bewusstseinsebenecnennen. Biologen sagen angeregter Zustand
Jetzt, als sie die steile Treppe hinunter ins Ungewisse hinabstieg, spürte Vittoria, dass ihr Vater vielleicht Recht gehabt hatte. War es so schwer zu glauben, dass das Trauma des Camerlengos sein Bewusstsein in einen Zustand versetzt hatte, in dem er das Versteck der Antimaterie einfach »erkannt« hatte?
Jeder von uns ist ein Gott, hatte Buddha gesagt. Jeder von uns ist allwissend. Wir müssen lediglich unser Bewusstsein öffnen, um unserer eigenen Weisheit zu lauschen.
In jenem Augenblick der Klarheit, während sie tiefer und tiefer in die Erde hinunterstieg, spürte Vittoria, wie sich ihr eigenes Bewusstsein weitete. wie ihre eigene Weisheit ans Licht kam. Sie wusste nun, welche Absicht der Camerlengo hegte. Es gab nicht den geringsten Zweifel. Und mit dieser Erkenntnis stieg eine Angst in ihr auf, die größer war als alles, was sie bisher erfahren hatte.
»Monsignore, nein!«, rief sie nach unten. »Sie verstehen nicht!« Vittoria stellte sich die unzähligen Menschen vor, die sich auf dem Petersplatz versammelt hatten, die Menschen, die rings um die Vatikanstadt lebten. Das Blut schien ihr in den Adern zu gefrieren. »Wenn Sie die Antimaterie nach oben bringen, werden alle sterben!«
Langdon nahm drei Stufen auf einmal und kam langsam näher. Der Gang war eng und niedrig, doch er spürte keinerlei
Klaustrophobie. Seine Angst wurde von einer viel schlimmeren Bedrohung überschattet.
»Monsignore!« Der Vorsprung des Geistlichen wurde rasch kleiner; vor sich sah Langdon bereits das Leuchten der Öllampe. »Monsignore, Sie müssen die Antimaterie lassen, wo sie ist! Es gibt keine andere Möglichkeit!«
Langdon rief die Worte und traute seinen eigenen Ohren nicht. Nicht nur, dass er die göttliche Botschaft an Camerlengo Carlo Ventresca als Tatsache akzeptiert hatte, durch die der Geistliche erfahren hatte, wo die Antimaterie versteckt war er, Langdon, sprach sich auch für die Zerstörung des Petersdoms aus, eine der größten architektonischen Leistungen in der Geschichte der Menschheit, und mit ihr für die Zerstörung unwiederbringlicher Kunstwerke.
Aber die Menschen draußen.es ist die einzige Möglichkeit.
Es erschien ihm nun als grausame Ironie, dass der einzige Weg, die Menschen zu retten, in der Zerstörung der Kirche bestand. Wahrscheinlich empfanden die Illuminati diesen Symbolismus als amüsant.
Die Luft, die Langdon aus dem Tunnel entgegenschlug, war feucht und kühl. Irgendwo dort unten befand sich die heilige Nekropole. die Begräbnisstätte des heiligen Petrus und zahlloser anderer früher Christen. Langdon erschauerte.
Unvermittelt schien der Camerlengo stehen zu bleiben. Langdon überwand rasch die letzten Meter.
Unter sich sah er das Ende der Treppe. Ein schmiedeeisernes Gitter mit drei Schädelreliefs versperrte den weiteren Weg. Der Camerlengo stand dort und zog das Gitter auf. Langdon sprang hinzu, drückte dagegen und blockierte den Zugang. Die anderen kamen die Treppe herunter, geisterhaft weiß im Scheinwerferlicht der BBC-Kamera. insbesondere Günther Glick, der mit jedem Schritt bleicher zu werden schien.
Chartrand zog Langdon vom Gitter weg. »Lassen Sie den
Monsignore durch!«
»Nein!«, rief Vittoria atemlos von oben. »Wir müssen den Vatikan verlassen, auf der Stelle! Sie dürfen die Antimaterie nicht von hier wegbringen! Wenn Sie den Behälter an die Oberfläche schaffen, wird jeder draußen auf dem Platz sterben!«
Die Stimme des Camerlengos blieb bemerkenswert ruhig. »Sie alle. wir müssen Vertrauen haben. Uns bleibt nur wenig Zeit.«
»Sie verstehen das nicht!«, rief Vittoria. »Eine Explosion an der Oberfläche wird viel verheerender ausfallen als hier unten!«
Der Camerlengo schaute sie an, und seine grünen Augen wirkten vollkommen ruhig. »Wer hat denn etwas von einer Explosion an der Oberfläche gesagt?«
Vittoria starrte ihn an. »Sie wollen ihn hier unten lassen?«
Die Selbstsicherheit des Camerlengos war hypnotisch. »Es wird keine weiteren Toten geben heute Nacht.«
»Aber Vater.«
»Bitte haben Sie Vertrauen.« Die Stimme des Camerlengos klang beschwörend. »Ich bitte Sie ja nicht, mit mir zu kommen. Sie alle können jederzeit gehen. Ich bitte lediglich darum, sich nicht in Seinen Auftrag einzumischen. Lassen Sie mich tun, was Er mir aufgetragen hat.« Der Blick des Camerlengos wurde noch intensiver. »Ich soll diese Kirche retten, und ich kann es schaffen, das schwöre ich.«
Die Stille, die seinen Worten folgte, war so eindrucksvoll wie ein gewaltiger Donnerschlag.