Der Leichnam sah grauenhaft aus. Der tote Leonardo Vetra lag splitternackt auf dem Boden. Die Haut schimmerte blaugrau. Die Halswirbel traten dort hervor, wo sie gebrochen worden waren, und der Kopf war völlig nach hinten verdreht. Das Gesicht war nicht zu sehen; es zeigte nach unten. Der Mann lag in einer gefrorenen Lache seines eigenen Urins. Das Schamhaar um die geschrumpelten Genitalien war von Frost überzogen.
Langdon kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit, während er sich dem Toten näherte, um dessen Brust zu betrachten. Obwohl er die symmetrische Brandwunde Dutzende Male auf dem Fax angestarrt hatte, war sie in der Realität wesentlich eindrucksvoller. Das Symbol aus verbranntem Fleisch war vollendet geformt und besaß nicht den kleinsten Makel.
Langdon fragte sich, ob das Frösteln, das von ihm Besitz ergriff, von der Kälte herrührte oder von seiner ihn sprachlos machenden Bestürzung über die Bedeutung dessen, was sich seinen Blicken bot:
Langdon schlug das Herz bis zum Hals, während er um den Toten herumging und das Wort auf dem Kopf stehend las, um einmal mehr die beinahe unglaubliche Symmetrie zu bestaunen. Das Symbol schien jetzt, während er mit eigenen Augen darauf blickte, noch unvorstellbarer als zuvor.
»Mr. Langdon?«
Langdon hörte nichts. Er war in einer anderen Welt. seiner Welt, seinem Element, einer Realität, in der Geschichte, Mythen und Fakten aufeinander prallten und seine Sinne überfluteten. Sein Verstand arbeitete auf Hochtouren.
»Mr. Langdon?« Kohler starrte ihn erwartungsvoll an.
Langdons Blick haftete unverwandt auf dem Toten. Er wirkte vollkommen abwesend, vollkommen konzentriert. »Wie viel wissen Sie bereits?«
»Nur das Wenige, das ich auf Ihrer Webseite lesen konnte. Das Wort Illuminati bedeutet>die Erleuchtetem. Es ist der Name irgendeiner alten Bruderschaft.«
Langdon nickte. »Haben Sie den Namen früher schon einmal gehört?«
»Nicht, bevor ich ihn auf Mr. Vetras Brust eingebrannt sah.«
»Haben Sie eine Websuche durchgeführt?«
»Ja.«
»Und der Begriff hat Hunderte von Treffern ergeben, wie ich annehme?«
»Tausende«, sagte Kohler. »Ihr Name war jedoch mit Referenzen auf Harvard, Oxford, einen angesehenen Verleger und einer Liste weiterführender Publikationen verbunden. Als Wissenschaftler habe ich die Erfahrung gemacht, dass Informationen lediglich so viel wert sind wie ihre Quelle. Ihre Referenzen schienen authentisch.«
Langdons Blicke ruhten noch immer auf dem Toten.
Kohler verstummte. Er wartete offensichtlich darauf, dass Langdon ein wenig Licht auf die Szene vor ihm werfen würde.
Schließlich schaute Langdon auf, und sein Blick wanderte durch die tiefgekühlte Wohnung. »Vielleicht sollten wir an einem wärmeren Ort darüber diskutieren.«
»Dieser Raum ist so gut wie jeder andere.« Kohler schien die Kälte nicht zu spüren. »Wir reden hier.«
Langdon runzelte die Stirn. Die Geschichte der Illuminati war alles andere als schnell erzählt. Ich friere mich zu Tode bei dem Versuch, es zu erklären. Er starrte einmal mehr auf das Brandmal und spürte, wie erneut Ehrfurcht in ihm aufstieg.
Obwohl in der modernen Symbolologie zahllose Berichte über das Wappen der Illuminati existierten, hatte noch kein Forscher es tatsächlich zu Gesicht bekommen. Einige Dokumente beschrieben das Symbol als ein »Ambigramm« -ambi bedeutete allseitig und hieß, dass man es in beide Richtungen lesen konnte. Ambigramme waren in der Symbolologie weit verbreitet, Swastikas, Yin Yang, jüdische Sterne, symmetrische Kreuze - die Vorstellung allerdings, dass ein Wort in einem Ambigramm dargestellt werden konnte, erschien völlig absurd. Moderne Symbolologen hatten jahrelang versucht, das Wort »Illuminati« als Ambigramm darzustellen und waren kläglich gescheitert. Die meisten Akademiker waren zu dem Schluss gelangt, dass die Existenz des Symbols nur ein Mythos war.
»Wer sind nun diese Illuminati?«, wollte Kohler wissen.
Ja, dachte Langdon. Wer sind sie? Er begann seine Geschichte zu erzählen.
»Seit Anbeginn der Zeit«, erklärte Langdon, »hat es eine tiefe Kluft gegeben zwischen Wissenschaft und Religion. Namhafte Forscher wie Kopernikus.«
». wurden ermordet!«, rief Kohler dazwischen. »Ermordet von der Kirche, weil sie wissenschaftliche Wahrheiten enthüllt hatten. Schon immer hat die Religion die Wissenschaft verfolgt!«
»Ja. Doch um das Jahr 1500 herum gab es in Rom eine Gruppe von Männern, die sich gegen die Kirche wehrten. Einige von Italiens klügsten Köpfen - Physiker, Mathematiker und Astronomen - trafen sich heimlich, um sich wegen der unrichtigen Lehren der Kirche auszutauschen. Sie fürchteten, dass das kirchliche Monopol auf die>Wahrheit
»Die Illuminati.«
»Ganz recht«, erwiderte Langdon. »Die gebildetsten Köpfe Europas, die sich der Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit verschrieben hatten.«
Kohler sagte nichts.
»Selbstverständlich wurden die Illuminati erbarmungslos von der katholischen Kirche verfolgt. Nur durch extreme Sicherheitsvorkehrungen konnten sich die Wissenschaftler schützen. Die Nachricht verbreitete sich im akademischen Untergrund, und die Bruderschaft der Illuminati wuchs, bis Gelehrte aus ganz Europa zu ihr gehörten. Sie trafen sich regelmäßig in einem geheimen Unterschlupf in Rom, den sie Kirche der Erleuchtung nannten.«
Kohler hüstelte und verlagerte sein Gewicht im Rollstuhl.
»Viele der Illuminati wollten der Tyrannei der Kirche mit Gewalt begegnen«, fuhr Langdon fort, »doch das geachtetste Mitglied von allen überzeugte sie davon, dass das falsch sei. Er war Pazifist und einer der berühmtesten Wissenschaftler der Geschichte.«
Langdon war sicher, dass Kohler den Namen kannte. Selbst Laien hatten von dem unglückseligen Astronomen gehört, der verhaftet und beinahe hingerichtet worden wäre, weil er behauptet hatte, dass die Sonne und nicht die Erde der Mittelpunkt des Sonnensystems sei. Obwohl seine Beweise unumstößlich waren, wurde er hart dafür bestraft, dass er mit seinen Behauptungen angedeutet hatte, Gott könnte die Menschen woanders als im Zentrum Seines Universums erschaffen haben, »Sein Name war Galileo Galilei«, schloss Langdon.
Kohler blickte auf. »Galileo?«
»Ja. Galileo war ein Illuminatus. Und er wir ein gläubiger Katholik. Er versuchte die Position der Kirche aufzuweichen, indem er behauptete, Wissenschaft würde die Existenz Gottes nicht unterminieren, sondern vielmehr zementieren. Er schrieb, dass er beim Blick durch das Teleskop auf die sich drehenden Planeten Gottes Stimme in der Musik der Sphären hören könne. Er war überzeugt, dass Wissenschaft und Religion Alliierte statt Feinde sein sollten - zwei verschiedene Sprachen, die die gleiche Geschichte erzählten, eine Geschichte von Symmetrie und Ausgewogenheit. Himmel und Holle, Tag und Nacht, heiß und kalt, Gott und Satan. Wissenschaft und Religion vereinigt in göttlicher Symmetrie. dem endlosen Widerstreit von Gut und Böse.« Langdon zögerte. Er stampfte mit den Füßen auf, um warm zu bleiben.
Kohler saß in seinem Rollstuhl und starrte ihn abwartend an
»Unglücklicherweise«, fuhr Langdon fort, »war die Vereinigung von Wissenschaft und Religion nicht das, was die Kirche wollte.«
»Natürlich nicht!«, rief Kohler. »Die Vereinigung hätte den Anspruch der Kirche, einzige Quelle zum Verständnis Gottes zu sein, zerstört. Also klagte die Kirche Galileo wegen Gotteslästerung an, befand ihn für schuldig und stellte ihn unter Hausarrest. Ich bin mir der Geschichte der Wissenschaft durchaus bewusst, Mr. Langdon. Doch das alles liegt Jahrhunderte zurück. Was hat es mit Leonardo Vetra zu tun?«
Die Millionen-Dollar-Frage. Langdon machte es kurz. »Galileos Verhaftung löste bei den Illuminati einen Aufruhr aus. Man beging Fehler, und die Kirche kam hinter die Identität von vier Mitgliedern. Sie wurden festgenommen und verhört. Doch die vier Wissenschaftler schwiegen. selbst unter der Folter.«
»Folter?«
Langdon nickte »Sie wurden bei lebendigem Leib
gebrandmarkt. Auf der Brust. Mit einem Kreuz.«
Kohlers Augen weiteten sich, und er warf einen beunruhigten Blick auf Vetras Leichnam.
»Anschließend wurden die Wissenschaftler brutal ermordet und die Leichen in die Straßen Roms geworfen, als Warnung für andere, die mit den Illuminati sympathisierten. Nachdem die Kirche den Illuminati so nahe gekommen war, flohen die Überlebenden aus Italien.«
Langdon hielt inne, um seinen nächsten Worten den nötigen Nachdruck zu verleihen. Er sah Kohler direkt in die toten grauen Augen. »Die Illuminati gingen noch tiefer in den Untergrund, wo sie sich mit anderen Gruppierungen vermischten, die allesamt von der katholischen Kirche verfolgt wurden -Mystikern, Alchimisten, Okkultisten, Muslimen, Juden. Im Verlauf der Jahre gewannen die Illuminati neue Mitglieder hinzu. Eine neue Bruderschaft entstand. Eine dunklere Bruderschaft. Eine tief antichristliche Bruderschaft von Illuminati. Eine sehr mächtige, sehr geheime Sekte mit mysteriösen Riten, die sich geschworen hatte, eines Tages aus der Versenkung zurückzukehren und Rache an der katholischen Kirche zu nehmen. Ihre Macht wuchs bis zu einem Punkt, an dem die Kirche sie als die gefährlichste antichristliche Macht auf Erden betrachtete. Der Vatikan erklärte die Bruderschaft zu Shaitan.«
»Shaitan?«
»Ein islamisches Wort. Es bedeutet>Todfeinde<... Gottes Todfeinde. Die Kirche wählte einen islamischen Namen, weil es eine Sprache war, die als schmutzig galt.« Langdon zögerte. »Shaitan ist die Wurzel eines Wortes, das auch heute noch verwendet wird - Satan.«
Auf Kohlers Gesicht zeigte sich Beunruhigung.
Mit grimmiger Stimme fuhr Langdon fort: »Mr. Kohler, ich weiß nicht, wie oder warum dieses Zeichen auf die Brust des
Toten gekommen ist, aber Sie sehen hier das Symbol des ältesten und mächtigsten satanischen Kultes auf Erden.«