Kapitel 42.

Kardinal Mortati schwitzte in seiner schwarzen Robe. Nicht nur, weil es in der Sixtinischen Kapelle allmählich heiß wurde wie in einer Sauna, sondern auch, weil das Konklave in wenig mehr als zwanzig Minuten beginnen würde und es noch immer keine Nachricht von den vier fehlenden Kardinalen gab. Das ursprünglich leise Gemurmel unter den anderen Kardinalen wegen ihrer Abwesenheit hatte sich in offene Besorgnis verwandelt.

Mortati wusste nicht, wo sich die Pflichtvergessenen herumtrieben. Vielleicht sind sie noch beim Camerlengo? Er wusste, dass der Camerlengo die vier preferiti traditionsgemäß am Nachmittag zum Tee geladen hatte, doch das war Stunden her. Sind sie vielleicht krank geworden? Haben sie etwas Verdorbenes gegessen? Mortati bezweifelte es. Jeder der vier würde selbst todkrank noch zum Konklave erscheinen. Es geschah höchstens einmal im Leben, üblicherweise niemals, dass ein Kardinal eine Chance erhielt, zum Pontifex Maximus gewählt zu werden, und nach vatikanischem Gesetz musste der Kardinal anwesend sein, wenn die Wahl stattfand. Wer fehlte, war nicht wählbar.

Obwohl es vier preferiti gab, bestand unter den Kardinalen nur wenig Zweifel, was die Person des nächsten Papstes anging. Im Verlauf der letzten fünfzehn Tage hatte es eine wahre Flut von Faxen und Anrufen gegeben, in denen mögliche Kandidaten vorgeschlagen worden waren. Wie der Brauch es wollte, hatte man aus der Fülle der Vorschläge vier preferiti ausgewählt, von denen jeder die ungeschriebenen Erfordernisse für das Amt des Papstes erfüllte:

Multilingual in Italienisch, Spanisch und Englisch.

Keine Leichen im Keller.

Zwischen fünfundsechzig und achtzig Jahren alt.

Wie üblich hatte sich einer der vier über die anderen erhoben als derjenige, den das Kollegium zur Wahl vorschlagen würde. Heute Nacht war dieser Mann Kardinal Aldo Baggia aus Mailand. Baggias makellose Akte, verbunden mit unvergleichlichen Sprachkenntnissen und der Fähigkeit, das Wesen des Christentums zu vermitteln, hatten ihn zum eindeutigen Favoriten gemacht.

Aber wo steckt er?, fragte sich Mortati.

Das Fehlen der Kardinale war deswegen besonders entnervend, weil Mortati mit der Aufgabe betraut war, das Konklave zu leiten. Eine Woche zuvor war er einstimmig vom Kollegium für das Amt des Zeremonienmeisters bestimmt worden zum internen Leiter des Konklaves. Der Camerlengo mochte der offizielle Vertreter des Papstes während der Sedisvakanz sein, doch er war jung und wenig vertraut mit dem komplizierten Wahlvorgang. Die Universi Dominici Gregis schrieben vor, dass der Zeremonienmeister die Wahl in der Sixtinischen Kapelle zu leiten hatte.

Kardinale scherzten häufig, das Amt des Zeremonienmeisters sei die grausamste Ehre, die es im Christentum gebe. Der Zeremonienmeister konnte nicht als Kandidat zur Papstwahl benannt werden, und sein Amt erforderte darüber hinaus, dass er viele Tage vor dem Konklave über den Universi Dominici Gregis verbrachte, um sich mit den Einzelheiten der komplizierten Konklavenrituale vertraut zu machen und sicherzustellen, dass die Wahl ordnungsgemäß verlief.

Mortati war deswegen nicht böse. Er wusste, dass seine Benennung nur logisch war. Nicht nur, dass er der Älteste unter den Kardinalen war, er war auch ein Vertrauter des verstorbenen Papstes gewesen, eine Tatsache, die seine Wertschätzung bei den anderen erhöhte. Obwohl theoretisch noch wählbar, war er bereits ein wenig zu alt, um als ernsthafter Kandidat zu gelten.

Mit seinen neunundsiebzig Jahren hatte er längst die unausgesprochene Schwelle überschritten, ab der das Kollegium der Gesundheit des Kandidaten ncht mehr zutraute, mit dem engen Terminplan des Papstes zurechtzukommen. Ein Papst arbeitete üblicherweise vierzehn Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche, und starb nach durchschnittlich sechs Komma drei Jahren an Erschöpfung. Ein hsiderwitz besagte, dass die Annahme der Wahl zum Papst für einen Kardinal der schnellste Weg in den Himmel sei.

Mortati, so glaubten viele, hätte in seinen jüngeren Tagen Papst werden können, wäre er nicht so liberal gewesen. Wenn es um das Papsttum ging, galten noch immer die heiligen drei K’s: konservativ, konservativer, noch konservativer.

Mortati hatte sich insgeheim stets darüber amüsiert, dass der verstorbene Papst, Gott hab’ ihn selig, sich nach seinem Amtsantritt selbst als überraschend liberal erwiesen hatte. Vielleicht hatte er gespürt, dass sich die moderne Welt von der Kirche weg entwickelte. Der Papst hatte Annäherungsversuche unternommen, die Position der Kirche gegenüber den Wissenschaften aufgeweicht und bestimmten wissenschaftlichen Projekten sogar finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Leider war es politischem Selbstmord gleichgekommen. Konservative Katholiken hatten den Papst für »senil« erklärt, und wissenschaftliche Kreise hatten ihn beschuldigt, den Einfluss der Kirche auf Gebiete auszuweiten, wo er nichts zu suchen habe.

»Wo stecken sie nur?«

Mortati wandte sich um.

Einer der Kardinale hatte ihm nervös auf die Schulter getippt. »Sie wissen, wo sie stecken, nicht wahr?«

Mortati verbarg das wahre Ausmaß seiner Besorgnis. »Wahrscheinlich noch beim Camerlengo.«

»So spät? Das wäre höchst ungewöhnlich.« Der Kardinal runzelte misstrauisch die Stirn. »Vielleicht hat der Camerlenge die Zeit vergessen?«

Mortati bezweifelte es ernsthaft, doch er sagte nichts. Er war sich durchaus der Tatsache bewusst, dass die meisten Kardinäle den Camerlengo nicht besonders mochten. Ihrer Meinung nach war er viel zu jung, um so nah beim Papst zu dienen. Morati vermutete, dass ein Großteil ihrer Abneigung aus Eifersucht herrührte. Er persönlich bewunderte den jungen Mann, und er gratulierte dem verstorbenen Papst insgeheim zur Wahl seines Camerlengo. Mortati fand sich jedes Mal bestätigt, wenn er dem Camerlengo in die Augen sah, und im Gegensatz zu vielen Kardinälen stellte er die Kirche und den Glauben vor die Politik, der junge Camerlengo war ein wahrer Mann Gottes.

Die bedingungslose Hingabe des Camerlengos war in der Vatikanstadt legendär. Viele schrieben es dem wunderbaren Ereignis in seiner Kindheit zu. einem Ereignis, das im Herzen eines jeden Menschen bleibenden Eindruck hinterlassen hätte. Ein wirkliches Wunder, dachte Mortati und wünschte sich häufig, seine eigene Kindheit hätte ihm ein ähnliches Erlebnis beschert, dazu angetan, unerschütterlichen Glauben zu erwecken.

Unglücklicherweise und zum großen Pech der Kirche würde der junge Camerlengo, wie Mortati wusste, auch in späteren Jahren niemals Papst werden. Das Papsttum verlangte ein gewisses Maß an politischer Leidenschaft, etwas, das dem jungen Camerlengo offensichtlich vollkommen fehlte. Er hatte die Angebote »seines« Papstes, ihn in höhere Ämter zu befördern, viele Male abgelehnt - mit der Begründung, dass er es vorzöge, der Kirche als einfacher Mann zu dienen.

»Was nun?« Der Kardinal tippte Mortati erneut ungeduldig auf die Schulter.

Mortati sah auf. »Verzeihung?«

»Sie sind zu spät! Was machen wir nun?«

»Was können wir machen?«, entgegnete Mortati. »Wir warten. Haben Sie Vertrauen.«

Allem Anschein nach höchst unzufrieden über Mortatis Antwort zog sich der Kardinal zurück.

Mortati blieb noch einen Augenblick stehen, legte die Fingerspitzen an die Schläfen und versuchte zu klarem Verstand zu kommen. In der Tat, was können wir tun?, fragte er sich. Er schaute am Altar vorbei hinauf zu Michelangelos berühmtem Fresko »Das Jüngste Gericht«. Das Gemälde trug nicht dazu bei, seine Besorgnis zu mildern. Es war ein grässliches, fünfzehn Meter hohes Bild von Jesus, der die Menschen in Gut und Böse teilte und die Sünder in die Hölle verbannte, wo es geschundenes Fleisch und brennende Leiber gab. Michelangelo hatte sogar einen seiner Rivalen in der Hölle abgebildet. Guy de Maupassant hatte einst geschrieben, das Fresko sähe aus wie eine Karikatur, die ein unbegabter Kohlenträger gemalt hätte.

Kardinal Mortati stimmte Maupassant insgeheim zu.

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