-Langdon wusste nicht, wohin er flüchten sollte. Instinkt war sein einziger Kompass, und Instinkt trieb ihn von der Gefahr weg. Seine Ellbogen und Knie brannten wie Feuer, während er sich in panischer Flucht unter den Kirchenbänken hindurchwand. Eine Stimme riet ihm, nach links auszuweichen. Wenn du es bis in den Mittelgang schaffst, kannst du zum Ausgang rennen! Er wusste, dass es unmöglich war. Der Mittelgang ist von einer Wand aus Flammen versperrt! Während sein Verstand fieberhaft nach einem Ausweg suchte, wand er sich in blinder Panik weiter. Die Schritte zur Rechten näherten sich schneller und schneller.
Als es geschah, war Langdon völlig unvorbereitet. Er hatte geglaubt, dass noch wenigstens drei weitere Meter Kirchenbänke bis zum leeren Raum vor dem Altar vor ihm lagen, doch plötzlich war er draußen und ohne Deckung. Er erstarrte. Zu seiner Linken erhob sich in einer Nische die Skulptur, die ihn hierher geführt hatte. Sie sah riesig aus. Er hatte Berninis Verzückung der Heiligen Teresa völlig vergessen. Das Bildnis sah tatsächlich aus wie ein pornografisches Stillleben.die Heilige auf dem Rücken, den Mund zu einem verzückten Stöhnen aufgerissen, und über ihr der Engel mit seinem Feuerspeer.
In einer Kirchenbank direkt neben Langdons Kopf explodierte eine Kugel. Er spürte, wie sein Körper aufsprang wie der eines Sprinters von einem Startblock. Kaum zu einem klaren Gedanken fähig, rannte er geduckt, mit tief eingezogenem Kopf, nach rechts zum Seitenschiff. Schüsse jagten hinter ihm her, und er warf sich erneut hin und schlitterte über den glatten Marmorboden, bis er gegen die Balustrade vor einer Nische in der Wand krachte.
Er rappelte sich auf. und dann sah er sie. Ein regloses Bündel im hinteren Bereich der Kirche. Vittoria! Ihre nackten Beine lagen verdreht unter ihr, doch irgendwie spürte Langdon, dass sie noch atmete. Er hatte keine Zeit, ihr zu helfen.
Der Mörder umrundete die Kirchenbänke auf der anderen Seite und kam unaufhaltsam näher. Langdon wusste, dass es jeden Augenblick vorbei war. Der Mörder hob die Waffe. Langdon warf sich rücklings über die Balustrade und rollte in die Nische. Als er auf der anderen Seite landete, explodierten die dicken Säulen der Marmorbalustrade in einem Kugelhagel.
Langdon fühlte sich wie ein in die Enge getriebenes Tier, als er tiefer in die halbrunde Nische zurückwich. Vor ihm erhob sich der einzige Gegenstand des Raums: ein einzelner Sarkophag. Vielleicht wird das mein Grab, dachte Langdon. Der Behälter selbst schien merkwürdig passend - eine scatola, ein kleiner, schmuckloser Marmorkasten, direkt an der Rückwand der Nische. Ein Billigbegräbnis. Der Sarkophag ruhte auf zwei Marmorblöcken, und Langdon musterte den Zwischenraum, während er sich fragte, ob er groß genug sei, um hindurchzuschlüpfen.
Hinter ihm hallten Schritte.
Ohne erkennbare Alternative drückte sich Langdon an den Boden und kroch auf den Sarkophag zu. Er packte die beiden Marmorblöcke, einen mit jeder Hand, und zog sich wie ein Brustschwimmer in die Lücke unter dem steinernen Grab.
Ein weiterer Schuss fiel.
Langdon spürte, wie die Kugel haarscharf an ihm vorbeiging. Es gab ein lautes Geräusch wie von einem Peitschenschlag, als die Kugel in einer Staubwolke aus Marmor explodierte. Blut rauschte in Langdons Ohren, als er seinen Körper ganz in den Zwischenraum unter dem Sarkophag wuchtete und auf der anderen Seite herauskam.
Eine Sackgasse.
Langdon stand direkt vor der Rückwand der Nische. Er bezweifelte nicht, dass dieser winzige Zwischenraum zu seinem Grab wurde. Und zwar bald, erkannte er, als er den Pistolenlauf in der Öffnung unter dem Sarkophag auftauchen sah.
Der Mörder hielt die Waffe parallel zum Boden und zielte direkt auf Langdons Körpermitte.
Er konnte ihn unmöglich verfehlen.
Der Selbsterhaltungstrieb übernahm die Kontrolle über Langdons Bewusstsein. Er drehte sich auf den Bauch, parallel zum Sarkophag, und drückte sich mit Händen und Füßen vom Boden ab. Der Schnitt, den er sich im Geheimarchiv am geborstenen Glas zugezogen hatte, platzte wieder auf. Langdon ignorierte den Schmerz. Er drückte sich genau in dem Augenblick vom Boden hoch, als die Schüsse peitschten. Langdon spürte die Schockwellen heißer Gase aus dem Lauf der Waffe, als die Kugeln unter ihm hindurchgingen und in den porösen Travertin auf der Rückseite der Nische einschlugen. Er schloss die Augen und kämpfte gegen die Erschöpfung, während er betete, dass es endlich aufhören möge.
Und dann hörte es auf.
Dem Dröhnen der Pistolenschüsse folgte das kalte Klicken einer leeren Kammer.
Langsam öffnete Langdon die Augen, als könnten seine Lider ein Geräusch verursachen. Er kämpfte gegen das Zittern und den Schmerz, wagte kaum zu atmen. Seine Ohren waren taub von den Schüssen, trotzdem lauschte er auf ein Zeichen, dass der Mörder gegangen sein könnte. Stille. Vittoria fiel ihm ein, und alles in ihm drängte danach, ihr zu helfen.
Dann folgte ein neues Geräusch, nervenzerfetzend und beinahe übermenschlich. Ein gutturales Brüllen.
Der Sarkophag über Langdons Kopf schien sich unvermittelt zur Seite zu neigen. Langdon brach zusammen, als Zentnerlasten auf ihn drückten. Der Deckel des Sarkophags geriet ins Rutschen und krachte dicht neben Langdon zu Boden. Als Nächstes kam der Behälter selbst; er kippte von seinen beiden Sockeln und stürzte kopfüber auf Langdon hinunter.
Langdon wusste, dass er entweder lebendig in dem Hohlraum darunter begraben oder von einer der Seitenwände zerquetscht werden würde. Er zog die Beine und den Kopf an und drückte die Arme an den Leib, um sich so klein wie möglich zu machen. Dann schloss er die Augen und wartete auf das Ende.
Es gab einen gewaltigen Schlag, und der Boden unter ihm erzitterte. Der obere Rand des Sarkophags landete nur Millimeter über Langdons Kopf. Sein rechter Arm, den er bereits zerschmettert gesehen hatte, war auf wundersame Weise unverletzt. Langdon öffnete die Augen und sah einen schmalen hellen Spalt. Der Sarkophag war nicht glatt auf dem Boden zur Ruhe gekommen; der Rand hing noch zum Teil auf den Stützen!
Doch Langdon starrte dem Tod buchstäblich ins Gesicht.
Der Tote, der in diesem Sarkophag seine letzte Ruhe gefunden hatte, klebte am Boden seines Steingrabs, gehalten von zerfallenden Proteinen und Körperflüssigkeiten, wie es häufig bei sich zersetzenden Körpern der Fall ist, und starrte Langdon aus leeren Augenhöhlen an.
Das Skelett verharrte einen Moment in seiner Lage, wie ein vorsichtiger Liebhaber, dann ergab es sich der Gravitation und löste sich vom Boden des Sarkophags. Faulige Knochen und Staub regneten auf Langdon herab.
Bevor er reagieren konnte, tastete eine Hand unter dem Rand des Sarkophags hindurch nach ihm wie ein hungriger Python. Sie fand seinen Hals und drückte zu. Langdon versuchte, gegen die eiserne Faust anzukämpfen, die seinen Kehlkopf zu zerquetschen drohte, doch sein Ärmel war auf der anderen Seite unter dem Rand des Sarkophags eingeklemmt. Er hatte nur eine Hand frei, und eine Hand war zu schwach, um sich dem erstickenden Griff zu entwinden.
Langdon zappelte hilflos in dem kleinen Raum, der ihm zur Verfügung stand, und seine tastenden Füße fanden den unteren Rand des Sarkophags. Er stemmte sich mit letzter Kraft dagegen, während ihm die Sinne zu schwinden drohten. Der Sarkophag bewegte sich nur um Bruchteile eines Millimeters, doch es reichte.
Knirschend rutschte er vollends von den beiden Stützen und landete glatt auf dem Boden. Der Rand krachte auf den Unterarm des Mörders, und Langdon hörte einen unterdrückten Schmerzensschrei. Die Hand löste sich von seinem Hals, zuckte und wand sich in der Dunkelheit. Als der Mörder seinen Arm schließlich ganz unter dem Rand hervorgezogen hatte, fiel der Sarkophag mit einem dumpfen Schlag auf den flachen Marmorboden.
Vollkommene Dunkelheit. Wieder einmal.
Und Stille.
Kein Hämmern gegen den umgekippten Sarkophag. Kein Versuch, ihn umzudrehen und an den eingeschlossenen Langdon zu kommen. Nichts. Langdon lag in der Dunkelheit inmitten modernder Knochen und kämpfte gegen die Dunkelheit an. Seine Gedanken galten Vittoria.
Lebst du noch?
Hätte er gewusst, welches Entsetzen sie erwartete, nachdem sie aus ihrer Bewusstlosigkeit erwacht war, hätte er um ihretwillen gebetet, sie möge tot sein.