Langdon stapfte entschlossen über die verlassene Via della Fondamenta in Richtung der Geheimarchive auf der anderen Seite des Borgiahofs, in denen mehr als zwanzigtausend alte Bücher lagerten und den Gerüchten zufolge unbezahlbare Schätze wie die verlorenen Tagebücher Leonardo da Vincis und sogar unveröffentlichte Teile der Bibel enthielten. Sein Verstand hatte noch nicht verdaut, dass der Camerlengo ihm tatsächlich Zutritt gewährte.
Vittoria ging neben ihm. Sie hielt sein Tempo mühelos mit. Ihr Haar flatterte im Wind und roch nach Mandeln. Langdon spürte, wie seine Gedanken abzuschweifen drohten, und beschleunigte seine Schritte.
»Wollen Sie mir nicht verraten, wonach wir suchen?«, fragte Vittoria.
»Nach einem kleinen Buch, das ein gewisser Galileo geschrieben hat.«
»Sie geben sich nicht mit Kleinigkeiten zufrieden, wie? Was steht drin?«
»Angeblich etwas, das man Usegno nennt.«
»Das Zeichen?«
»Zeichen, Hinweis, Signal. kommt darauf an, wie man es übersetzt.«
»Hinweis worauf?«
Langdon ging noch schneller. »Auf einen geheimen Ort. Galileos Illuminati mussten sich vor den Häschern des Vatikans schützen, daher schufen sie einen geheimen Treffpunkt hier in Rom. Sie nannten ihn Kirche der Illumination.«
»Ziemlich vollmundig, einen satanistischen Unterschlupf
Kirche zu nennen.«
Langdon schüttelte den Kopf. »Galileos Illuminati wären mitnichten satanistisch. Sie waren Wissenschaftler, die nach Erleuchtung strebten. Dieser Treffpunkt war nicht mehr, als der Name sagt - ein Ort, an dem sie sich ungefährdet treffen und über Themen diskutieren konnten, die der Vatikan für tabu erklärt hatte. Wir wissen zwar, dass der geheime Treffpunkt existiert hat, doch bis zum heutigen Tag hat ihn niemand gefunden.«
»Also wussten die Illuminati, wie man ein Geheimnis bewahrt.«
»Absolut. Tatsächlich hat niemals jemand außerhalb ihrer
Bruderschaft erfahren, wo dieser Treffpunkt liegt. Die Geheimhaltung war ihr größter Schutz und zugleich ein ziemliches Problem, wenn es darum ging, neue Mitglieder anzuwerben.«
»Die Illuminati konnten nicht wachsen, wenn niemand zu ihnen fand.«
»Richtig. Die Neuigkeiten von Galileos geheimer Bruderschaft begannen sich um 1630 herum zu verbreiten, und Wissenschaftler aus der ganzen Welt brachen zu Wallfahrten nach Rom auf - in der heimlichen Hoffnung, die Illuminati zu finden und ihnen beizutreten. Jeder war begierig darauf, einen Blick durch Galileos Teleskop zu werfen und einen Vortrag des Meisters zu hören. Unglücklicherweise jedoch wussten die Wissenschaftler nicht, wohin sie gehen sollten, nachdem sie erst einmal in Rom waren. Sie kannten den Treffpunkt nicht und konnten niemanden gefahrlos danach fragen. Die Illuminati wollten neue Mitglieder, doch sie durften die Geheimhaltung nicht gefährden, indem sie ihren Aufenthaltsort verrieten.«
Vittoria runzelte die Stirn. »Klingt nach einer situazione senza soluzione.«
»Genau. Eine Zwickmühle.«
»Und was haben sie getan?«
»Sie waren Wissenschaftler. Sie analysierten das Problem und landen eine Lösung. Eine brillante Lösung. Die Illuminati schufen eine Art Karte, die Wissenschaftlern den Weg zu ihrem Treffpunkt verriet.«
Vittoria blickte Langdon skeptisch an und verlangsamte ihre Schritte. »Eine Karte? Das klingt aber ziemlich unvorsichtig. Wenn sie in die falschen Hände gefallen wäre.«
»Konnte sie nicht«, sagte Langdon. »Es gab keine Kopien davon. Es war nicht die Art von Karte, die man auf Papier zeichnet. Diese Karte war gigantisch. Eine leuchtende Spur hoch oben am Himmel, direkt über der Stadt.«
Vittoria wurde noch langsamer. »Was denn, vielleicht Markierungen auf dem Bürgersteig oder an Häusern?«
»In gewisser Hinsicht - ja. Aber sehr viel subtiler. Die Karte bestand aus einer Reihe sorgfältig getarnter symbolischer Markierungen, die überall in der Stadt auf öffentlichen Plätzen standen. Ein Hinweis führte zum nächsten. und wieder zum nächsten. Es war eine Spur, an deren Ende der Treffpunkt der Illuminati lag.«
Vittoria beäugte ihn misstrauisch. »Klingt nach einer Schnitzeljagd, wenn Sie mich fragen.«
Langdon kicherte. »In gewisser Hinsicht war es das auch. Die Illuminati nannten ihre Fährte den>Weg der Erleuchtungc. Jeder, der zur Bruderschaft wollte, musste diesem Weg bis zum Ende folgen. Es war zugleich eine Art Probe.«
»Aber wenn der Vatikan nach den Illuminati gesucht hat«, warf Vittoria ein, »warum ist er dann nicht einfach dieser Fährte gefolgt?«
»Weil es eine verborgene Fährte war. Ein Puzzle, auf eine Weise konstruiert, dass nur wenige Leute in der Lage waren, die Markierungen aufzuspüren und herauszufinden, wo sich die
Kirche der Illumination verbarg. Die Illuminati hatten es so geplant. Die Fährte war nicht nur eine Sicherheitsmaßnahme gegen den Vatikan, sondern auch ein Auswahlprozess, eine Art Initiierung, die sicherstellen sollte, dass nur die klügsten Köpfe vor ihrer Tür eintrafen.«
»Ich verstehe das nicht. Der Klerus des siebzehnten Jahrhunderts war die geistige Elite der damaligen Welt. Wenn diese Zeichen an öffentlichen Orten angebracht waren, hätte doch jemand im Vatikan sie entschlüsseln müssen, oder nicht?«
»Sicher«, erwiderte Langdon. »Wenn sie gewusst hätten, wonach sie suchen mussten. Doch das wussten sie nicht. Und die Zeichen fielen ihnen niemals auf, weil die Illuminati sie so erschaffen hatten, dass die Kleriker nicht im Traum auf den Gedanken gekommen wären, es könnte sich um getarnte Wegweiser handeln. Sie benutzten eine Methode, die in der Symbolologie als Dissimulation bekannt ist.«
»Camouflage.«
Langdon war beeindruckt. »Sie kennen den Ausdruck?«
»Dissimulazione«, sagte sie. »Die beste Verteidigungsmaßnahme in der Natur. Versuchen Sie einen Trompetenfisch zu sehen, der sich aufrecht schwimmend zwischen Seegras versteckt.«
»Ich verstehe«, sagte Langdon. »Die Illuminati jedenfalls benutzten das gleiche Konzept. Sie schufen Zeichen, die für unwissende Augen vor dem Hintergrund des alten Rom unsichtbar waren. Sie konnten keine Ambigramme und keine wissenschaftliche Symbolik benutzen, weil das viel zu verdächtig gewesen wäre. Also riefen sie einen begnadeten Künstler - den gleichen unbekannten Meister, der auch das Ambigramm des Namens>Illuminati »Illuminati- Skulpturen?« »Genau. Skulpturen, die zwei strengen Richtlinien entsprechen mussten. Erstens, sie mussten genauso aussehen wie die übrigen Kunstwerke im alten Rom. Kunstwerke, von denen der Vatikan niemals vermutet hätte, dass sie mit den Illuminati in Verbindung standen.« »Religiöse Kunstwerke.« Langdon nickte. Seine Erregung stieg, und er redete schneller. »Die zweite Richtlinie war, dass die vier Skulpturen sehr spezifische Themen darzustellen hatten. Jedes Stück musste ein subtiler Tribut an die vier Elemente der Wissenschaft sein.« »Vier Elemente?«, fragte Vittoria. »Aber es gibt über hundert!« »Nicht im siebzehnten Jahrhundert«, erinnerte Langdon. »Die frühen Alchimisten glaubten, dass das gesamte Universum aus nicht mehr als vier Substanzen bestehe: Erde, Feuer, Wasser, Luft.« Das frühe Kreuz, so wusste Langdon, war das am meisten verbreitete Symbol der vier gegensätzlichen Elemente - vier Anne, die Erde, Luft, Feuer und Wasser repräsentierten. Im Lauf der Geschichte hatte es Hunderte weiterer Symbole für die vier Elemente gegeben - die pythagoreischen Lebenszyklen, das chinesische Hong-Fan, die männlichen und weiblichen Rudimente nach Jung, die Quadranten des Tierkreises; selbst die Moslems hatten die vier antiken Elemente verehrt, auch wenn sie im Islam als »Plätze, Wolken, Blitze und Wellen« bekannt waren. Für Langdon war es eher der modernere Gebrauch der Symbole, der ihm Schauer über den Rücken laufen ließ - die vier mystischen Zeichen der Absoluten Initiation der Freimaurer: Erde, Luft, Feuer, Wasser. Vittoria schien verwirrt. »Also hat dieser Illuminati-Künstler vier Werke erschaffen, die bei oberflächlicher Betrachtung religiös aussahen, aber in Wirklichkeit ein Tribut an Erde, Luft, Feuer und Wasser waren?« »Ganz recht«, sagte Langdon, während sie in die Via Sentinel einbogen, die zu den Archiven führte. »Die Skulpturen fielen in dem Meer religiöser Kunstwerke in Rom überhaupt nicht auf. Die Bruderschaft spendete die Werke anonym an vier ausgewählte Kirchen und benutzte ihren politischen Einfluss, um die Aufstellung zu überwachen. Jedes dieser Werke war ein Wegweiser, der unauffällig zur nächsten Kirche deutete, wo ein weiterer Wegweiser wartete. Eine Spur aus Hinweisen, getarnt als religiöse Kunst. Falls es einem Kandidaten gelang, die erste Kirche zu finden und mit ihr das Symbol für>Erde<, konnte er ihm zur>Luft Vittorias Verwirrung nahm immer weiter zu. »Und das alles soll uns zu dem Assassinen führen?« Langdon lächelte und spielte seinen Trumpf aus. »O ja. Die Illuminati hatten einen besonderen Namen für diese vier Kirchen. Sie nannten sie die>Altäre der Wissenschaft^ Vittoria runzelte die Stirn. »Es tut mir wirklich Leid, aber das sagt mir.« Sie stockte. »L’altare di Scienza!«, rief sie dann. »Der Assassine hat gesagt, die Kardinale würden als jungfräuliche Opfer auf den Altären der Wissenschaft sterben!« Langdon grinste. »Vier Kardinale. Vier Kirchen. Die vier Altäre der Wissenschaft.« Sie schaute ihn benommen an. »Sie glauben, die vier Kirchen, in denen die Kardinale geopfert werden sollen, sind die gleichen, die den alten Weg der Illumination beschreiben?« »Das glaube ich, ja.« »Aber warum hätte uns der Assassine diesen Hinweis geben sollen?« »Warum nicht?«, entgegnete Langdon. »Nur sehr wenige Historiker wissen von diesen Skulpturen, und noch weniger glauben, dass sie je existiert haben, ganz zu schweigen davon, dass die Orte, an denen sie stehen, vierhundert Jahre lang geheim geblieben sind. Zweifellos vertrauen die Illuminati darauf, dass dieses Geheimnis auch noch fünf weitere Stunden überdauert. Außerdem brauchen sie ihren Weg zur Erleuchtung nicht länger, und ihr geheimer Treffpunkt existiert bestimmt nicht mehr. Wir leben in einer modernen Welt. Heutzutage treffen sie sich in Vorstandszimmern und Konferenzräumen, gehen zusammen essen oder Golf spielen. Und heute Nacht wollen sie ihre Existenz der Weltöffentlichkeit enthüllen. Dies ist der Augenblick, auf den sie so lange gewartet haben. Ihr großer Auftritt.« Langdon befürchtete, dass dieser Augenblick einer besonderen Symmetrie gehorchen könnte, von der er noch nichts erwähnt hatte. Die vier Brandzeichen. Der Mörder hatte gesagt, jeder der vier Kardinale würde mit einem anderen Symbol gebrandmarkt. »Beweis dafür, dass die alten Legenden wahr sind«, hatte er gesagt. Die Legende der vier ambigrammatischen Brandzeichen war so alt wie die Illuminati selbst: Erde, Luft, Feuer und Wasser - vier Worte, geschaffen in perfekter Symmetrie. Genau wie das Illuminati-Ambigramm. Jeder der Kardinale würde mit einem der antiken Elemente der Wissenschaft gebrandmarkt werden. Die Gerüchte, dass die vier Brandzeichen die englischen Worte zeigten, nicht die alten italienischen, wurden unter Historikern heftig diskutiert. Englisch erschien als eine willkürliche Abweichung von ihrer Muttersprache - und die Illuminati taten nichts Willkürliches. Langdon gelangte auf den gepflasterten Vorplatz vor dem Archivgebäude. Schaurige Bilder geisterten durch seinen Verstand. Die gewaltige Verschwörung der Illuminati begann endlich ihre Größe zu enthüllen. Die Bruderschaft hatte geschworen, im Untergrund zu bleiben und dort genügend Macht und Einfluss zu sammeln, bis sie ohne Furcht zurückkehren und im hellen Tageslicht ihren Feinden trotzen konnte. Die Illuminati versteckten sich nicht mehr. Sie stellten ihre Macht zur Schau und bestätigten die konspirativen Mythen als Tatsachen. Heute Nacht planten sie einen Auftritt, der ihnen das Interesse der Weltöffentlichkeit sichern sollte. »Dort kommt unsere Eskorte!«, sagte Vittoria. Langdon blickte auf und bemerkte einen Hellebardier, der über den Rasen in Richtung Eingang eilte. Als er Langdon und Vittoria bemerkte, blieb er wie angewurzelt stehen. Er starrte sie an, als wären sie Halluzinationen. Ohne ein Wort wandte er sich ab und zerrte sein Walkie-Talkie hervor. Offensichtlich konnte er nicht glauben, was er von seinem Vorgesetzten zu hören bekam, denn er redete aufgeregt auf die Person am anderen Ende ein. Das ärgerliche Bellen, das aus dem Lautsprecher des Geräts drang, war für Langdon und Vittoria unverständlich, doch an der Bedeutung gab es keinen Zweifel. Der Schweizergardist schien zu resignieren. Er steckte das Walkie-Talkie wieder ein und wandte sich mit einem Ausdruck der Missbilligung zu Langdon und Vittoria um. Er redete nicht ein Wort, während er die beiden in das Gebäude begleitete. Sie passierten vier Stahltüren und zwei weitere verschlossene Türen, dann stiegen sie eine Treppe hinunter und erreichten ein Foyer. Der Gardist tippte Kodes in zwei Tastenfelder, und sie gingen durch eine Reihe elektronischer Detektoren, bevor sie schließlich am Ende eines langen Korridors vor eine große Doppeltür aus Eiche gelangten. Der Schweizergardist blieb stehen, murmelte etwas Unverständliches und öffnete eine in die Wand neben der Tür eingelassene Metallklappe. Er tippte einen Kode auf die Tastatur dahinter, und an der Tür ertönte ein Summen. Der Gardist öffnete die Tür und wandte sich zu ihnen um. Zum ersten Mal sprach er direkt zu ihnen. »Die Archive befinden sich hinter dieser Tür. Man hat mich instruiert, Sie bis hierher zu geleiten und anschließend zurückzukehren.« »Sie gehen wieder?«, fragte Vittoria überrascht. »Die Schweizergarde hat keinen Zutritt zu den Geheimarchiven. Sie beide sind nur deswegen hier, weil mein Kommandant einem direkten Befehl des Camerlengo Folge leisten muss.« »Aber wie kommen wir wieder heraus?« »Die Sicherheitsmaßnahmen beschränken sich auf den Zutritt. Sie werden keine Probleme haben.« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte durch den langen Gang davon. Vittoria murmelte einen Kommentar, doch Langdon hörte nicht mehr zu. Seine Gedanken kreisten um das, was hinter den mächtigen Doppeltüren auf ihn wartete, auf die Geheimnisse, die dort verborgen schlummerten.