Kapitel 27.

Vittoria, das lasse ich nicht zu!« Kohlers Atem ging mühsam, und sein Husten verschlimmerte sich, während der Lastenaufzug nach oben fuhr.

Vittoria hörte ihm gar nicht zu. Sie sehnte sich nach Geborgenheit, nach irgendetwas Vertrautem an diesem Ort, der ihr nicht länger ein Zuhause erschien. Sie wusste, dass ihre Sehnsucht unerfüllt bleiben würde. Im Augenblick blieb ihr nichts anderes übrig, als den Schmerz zu ertragen. Sie musste handeln. Ich muss zu einem Telefon.

Robert Langdon war neben ihr, schweigsam wie gewohnt. Vittoria fragte sich nicht mehr, wer der Mann war. Ein Spezialist? Konnte Kohler sich überhaupt noch undeutlicher ausdrücken? Mr. Langdon wird uns helfen, den Mörder Ihres Vaters zu finden. Langdon war überhaupt keine Hilfe. Seine Wärme und Freundlichkeit schienen echt, doch er verbarg offensichtlich etwas. Alle beide verbargen etwas vor ihr.

Kohler redete schon wieder auf sie ein. »Als Generaldirektor von CERN bin ich mitverantwortlich für die Zukunft der Forschung. Wenn Sie durch Ihre Voreiligkeit einen internationalen Zwischenfall heraufbeschwören und CERN darunter lei.«

»Zukunft der Forschung?« Vittoria wandte sich za ihm um. »Wollen Sie sich wirklich aus der Verantwortung stehlen, indem Sie verschweigen, dass die Antimaterie von CERN stammt? Wollen Sie ignorieren, dass wir Menschenleben gefährden?«

»Nicht wir«, konterte Kohler. »Sie. Sie und Ihr Vater, Miss Vetra.«

Vittoria blickte zur Seite.

»Was die Gefährdung von Menschenleben angeht«, sagte

Kohler, »genau darum geht es hier. Sie wissen, welche enormen Folgen Antimaterie für das Leben auf diesem Planeten hat. Falls CERN geschlossen wird, vernichtet durch einen Skandal, verlieren alle. Die Zukunft der Menschheit liegt in den Händen von Einrichtungen wie CERN. In den Händen von Wissenschaftlern wie Ihnen und Ihrem Vater, die an der Lösung von Problemen arbeiten, die sich erst morgen stellen.«

Vittoria hatte Kohlers Vorträge schon früher gehört, Wissenschaft als Ersatz für Gott, und sie hatte sie stets abgelehnt, Die Wissenschaft selbst hatte die Probleme verursacht, die sie nun zu lösen versuchte. »Fortschritt« war die ultimative Arglist von Mutter Natur.

»Wissenschaftlicher Fortschritt ist stets mit einem Risiko behaftet«, argumentierte Kohler. »So war es immer, und so wird es immer sein. Weltraumprogramme, genetische Forschung, Medizin - überall werden Fehler gemacht. Die Wissenschaft muss ihre eigenen Fehler überleben, koste es, was es wolle. Für das Wohl aller.«

Vittoria staunte über Kohlers Fähigkeit, moralische Probleme mit wissenschaftlicher Sachlichkeit abzuwägen. Sein Intellekt schien das Produkt einer völligen Trennung von jeglichen Gefühlen zu sein. »Wollen Sie etwa behaupten, CERN sei so wichtig für die Zukunft der Erde, dass wir frei sind von jeglicher moralischen Verantwortung?«

»Versuchen Sie bloß nicht, mir mit Moral zu kommen! Sie haben die Grenze überschritten, als Sie diese große Probe hergestellt haben, und Sie sind es, die damit CERN gefährden! Ich versuche nicht nur, die Arbeitsplätze von dreitausend Wissenschaftlern zu retten, sondern auch den Ruf Ihres Vaters. Denken Sie darüber nach! Ein Mann wie Leonardo Vetra verdient einfach nicht, als Schöpfer einer Massenvernichtungswaffe in die Geschichte einzugehen.«

Dieser Pfeil traf. Ich bin diejenige, die ihn überredet hat,

diese Probe herzustellen. Ich bin diejenige, die an allem die Schuld trägt!

Als die Türen aufglitten, redete Kohler noch immer. Vittoria trat aus dem Lift, zog ihr Mobiltelefon aus der Tasche und versuchte es erneut.

Noch immer kein Wählton. Verdammt! Sie marschierte in Richtung Tür.

»Vittoria! Warten Sie!« Der Direktor klang asthmatisch, während er ihr in seinem Rollstuhl folgte. »Warten Sie! Wir müssen reden!«

»Basta diparlare!«

»Denken Sie an Ihren Vater!«, drängte Kohler. »Was hätte er an Ihrer Stelle getan?«

Sie marschierte weiter.

»Vittoria, ich war nicht ganz ehrlich zu Ihnen.«

Vittoria ging langsamer.

»Ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe«, gestand Kohler. »Ich wollte Sie nur schützen. Sagen Sie mir einfach, was Sie vorhaben. Wir müssen zusammen an dieser Sache arbeiten.«

Vittoria blieb auf halbem Weg zum Labor stehen, doch sie wandte sich immer noch nicht um. »Ich will die Antimaterie finden. Und ich will wissen, wer meinen Vater ermordet hat.« Sie wartete.

Kohler seufzte. »Vittoria, wir wissen bereits, wer Ihren Vater getötet hat. Es. es tut mir Leid.«

Jetzt drehte sie sich zu ihm um. »Was?«

»Ich wusste nicht, wie ich es Ihnen sagen sollte. Es ist eine schwierige.«

»Sie wissen, wer meinen Vater umgebracht hat?«

»Wir haben einen begründeten Verdacht, ja. Der Mörder hat eine Art Visitenkarte hinterlassen. Das ist der Grund, warum ich Mr. Langdon hierher gebeten habe. Die Gruppierung, die hinter diesem Mord steckt, ist sozusagen sein Spezialgebiet.«

»Die Gruppierung? Eine terroristische Vereinigung?«

»Vittoria, ein viertel Gramm Antimaterie wurde gestohlen!«

Vittoria starrte Robert Langdon an, der sich bisher im Hintergrund gehalten hatte. Nach und nach ergab alles einen Sinn. Das erklärt die Heimlichtuerei. Sie war verblüfft, dass ihr der Gedanke nicht früher gekommen war. Kohler hatte den Vorfall gemeldet. Robert Langdon war Amerikaner, sportlich gebaut, konservativ gekleidet, offensichtlich äußerst scharfsinnig - wer sonst konnte er sein? Vittoria hätte es von Anfang an erraten müssen. Sie schöpfte neue Hoffnung, als sie sich an Langdon wandte.

»Mr. Langdon, ich möchte wissen, wer meinen Vater ermordet hat. Und bitte sagen Sie mir, ob Ihr Nachrichtendienst die Antimaterie bereits gefunden hat.«

Langdon war ehrlich verblüfft. »Mein Nachrichtendienst?«

»Ich nehme an, Sie sind von der CIA?«

»Offen gestanden, nein.«

»Mr. Langdon ist Professor für Kunstgeschichte an der Harvard-Universität«, warf Kohler ein.

Vittoria stand da wie ein begossener Pudel. »Ein Kunstprofessor?«

»Er ist Spezialist für Symbolologie.« Kohler seufzte. »Vittoria, wir glauben, Ihr Vater wurde von den Anhängern eines satanischen Kultes ermordet.«

Vittoria hörte die Worte, doch sie war außerstande, sie zu verarbeiten. Von einem Satanskult.

»Die Gruppe, die sich zu der Tat bekennt, nennt sich Illuminati.«

Vittoria starrte Kohler an, dann Langdon, und fragte sich, ob

das alles vielleicht nur ein perverser Witz sein sollte. »Die Illuminati?«, fragte sie. »Wie in Bayerische Illuminaten?«

Kohler schien verblüfft. »Sie haben von ihnen gehört?«

Vittoria spürte, wie Tränen in ihr aufstiegen. »Bavarian Illuminati: New World Order. Von Steve Jackson Computer Games. Die Hälfte der Techies hier spielt im Internet mit.« Ihre Stimme brach. »Aber ich verstehe nicht.«

Kohler warf Langdon einen verwirrten Blick zu.

Langdon nickte. »Ein beliebtes Spiel. Eine uralte Bruderschaft übernimmt die Weltherrschaft. Sernihistorisch. Ich wusste gar nicht, dass es in Europa auch gespielt wird.«

»Wovon reden Sie da? Von den Illuminati? Das ist doch nur ein Computerspiel!«, rief Vittoria.

»Die Illuminati«, sagte Kohler, »sind die Gruppierung, von der ich sprach. Sie haben die Verantwortung für den Tod Ihres Vaters übernommen.«

Vittoria nahm all ihre Kräfte zusammen, um die Tränen zu unterdrücken. Sie zwang sich durchzuhalten und die Situation logisch zu analysieren. Doch je mehr sie sich konzentrierte, desto weniger begriff sie. Ihr Vater war ermordet worden. Jemand war in CERN eingedrungen und hatte die Sicherheitsvorkehrungen überwunden. Irgendwo tickte eine Zeitbombe, für die sie verantwortlich war. Und der Direktor hatte einen Kunstprofessor engagiert, der ihnen bei der Suche nach einer geheimnisvollen Bruderschaft von Teufelsanbetern helfen sollte.

Mit einem Mal fühlte sie sich sehr allein. Sie wandte sich um und wollte gehen, doch Kohler schnitt ihr den Weg ab. Er griff in seine Tasche und brachte ein zerknittertes Blatt zum Vorschein, das er ihr hinhielt.

Vittoria wich entsetzt zurück, als ihr Blick auf das Foto fiel.

»Sie haben Leonardo gebrandmarkt«, sagte Kohler. »Die

llluminati haben ihr gottverdammtes Zeichen in Leonardos Brust gebrannt.«

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