Dreiundzwanzig Uhr einundfünfzig.
Nekropole bedeutet dem Sinn des Wortes nach Stadt der Toten.
Nichts von alledem, was Langdon über die Nekropole inter dem Petersdom gelesen hatte, hätte ihn auf den tatsächlichen Anblick vorbereiten können.
Die kolossale unterirdische Kaverne war angefüllt mit bröckelnden Mausoleen, die wie kleine Häuser am Boden einer Höhle standen. Die Luft roch muffig. Ein Gewirr schmaler Wege führte zwischen den verfallenden Grabstätten hindurch, die meisten davon gepflastert mit geborstenen Marmorplatten. Zahllose Säulen aus stehen gebliebenem Fels und Gestein stützten einen irdenen Himmel, der tief über der in ewiger Dunkelheit liegenden Nekropole hing.
Stadt der Toten, dachte Langdon einmal mehr und fühlte sich gefangen zwischen Staunen und Angst. Sie rannten tiefer hinein in die gewaltige Kaverne. Habe ich mich falsch entschieden?
Chartrand war als Erster in den Bann des Camerlengos geraten. Er hatte das Gitter aufgerissen und sein Vertrauen in den Camerlengo erklärt. Glick und Macri hatten sich auf die Bitte des Camerlengos hin bereiterklärt, mit dem Kamerascheinwerfer auszuhelfen, obwohl ihre Motive im Hinblick auf die Auszeichnungen und den Ruhm, der sie erwartete, falls sie diese Geschichte lebend überstanden, mehr als zweifelhaft waren. Vittoria hatte sich am längsten gesträubt, und Langdon hatte in ihren Augen ein Misstrauen erkannt, das auf sehr beunruhigende Art nach weiblicher Intuition aussah.
Jetzt ist es zu spät, dachte er, während er zusammen mit Vittoria hinter den anderen herlief. Wir haben unsere
Entscheidung getroffen.
Vittoria war schweigsam, doch Langdon wusste, dass sie das Gleiche dachte wie er. Neun Minuten reichen im leben nicht, um aus der Vatikanstadt zu fliehen, falls sich der Camerlengo geirrt hat.
Sie rannten zwischen Mausoleen hindurch, und Langdon spürte, wie seine Beine allmählich müde wurden. Zu seiner Überraschung stellte er fest, dass sie eine Steigung hinaufliefen. Als ihm schließlich die Erklärung dämmerte, liefen ihm weitere Schauer über den Rücken. Unter seinen Füßen war der gleiche Boden wie zu Zeiten Jesu Christi. Er rannte über den ursprünglichen vatikanischen Hügel! Langdon kannte die Behauptung zahlreicher Gelehrter, dass sich das Grab des heiligen Petrus weit oben auf dem Hügel befunden hätte, und er hatte sich stets gefragt, woher sie das wissen konnten. Jetzt begriff er.
Der Hügel ist immer noch da!
Langdon fühlte sich, als liefe er durch die Geschichte. Irgendwo weiter oben war das Grab des Petrus - die heiligste Reliquie der Christenheit. Schwer vorstellbar, dass das ursprüngliche Grab nur ein bescheidener Schrein gewesen sein sollte. Doch das hatte sich geändert. Mit dem wachsenden Einfluss des Christentums waren neue, größere Schreine über dem alten errichtet worden, und heute ragte die Hommage einhundertdreißig Meter hoch in den Himmel, bis zur Kuppel Michelangelos, deren Zentrum sich bis auf wenige Zentimeter genau über dem einstigen Grab befand.
Sie rannten weiter über die gewundenen Pfade. Es ging unablässig bergauf. Langdon warf einen Blick auf die Uhr. Noch acht Minuten. Allmählich fragte er sich ernsthaft, ob er, Vittoria und die anderen für alle Zeiten hier unten bei den Verstorbenen bleiben würden.
»Passen Sie auf!«, rief Günther Glick aufgeschreckt hinter
ihnen. »Schlangenlöcher!«
Langdon hatte sie rechtzeitig bemerkt. Der Weg vor ihnen war von einer Reihe kleiner Löcher übersät. Er sprang mit einem Satz darüber hinweg.
Vittoria folgte ihm und wäre fast zu kurz gesprungen. Sie blickte Langdon beunruhigt an, während sie weiterrannten. » Schlangenlöcher?«
»Glauben Sie mir«, entgegnete Langdon, »das wollen Sie nicht wissen.« Es waren Libationslöcher, erkannte er. Die frühen Christen hatten an die Wiederauferstehung des Fleisches geglaubt und hatten die Löcher benutzt, um die Toten buchstäblich zu füttern, indem sie Milch und Honig durch die Löcher in die Krypten unter der Erde gegossen hatten.