Dreiundzwanzig Uhr zweiundvierzig.
Langdon hätte sich niemals vorgestellt, dass er vor einer aufgescheuchten Traube von Menschen hinter dem Camerlengo her in den Dom rennen würde. Langdon hatte der Tür am nächsten gestanden und instinkthaft reagiert.
Er will da, drinnen sterben, dachte Langdon, während er über die Schwelle in das dunkle Innere der gigantischen Kirche stürmte. »Monsignore! Bleiben Sie stehen!«
Die Wand aus Schwärze war vollkommen. Langdons Pupillen waren verengt vom grellen Licht der Scheinwerfer draußen auf dem Platz; seine Sicht reichte kaum weiter als zwei, drei Meter. Vor ihm, irgendwo in der Dunkelheit, hörte er den Camerlengo. Das Gewand des Priesters raschelte, während er blindlings in die Nacht rannte.
Vittoria und die Schweizergardisten waren Langdon auf dem Fuß gefolgt. Taschenlampen und Handscheinwerfer blitzten auf, doch die Batterien waren ohne Ausnahme zu schwach
geworden, um die Tiefen der gigantischen Basilika zu
durchdringen. Die Lichtkegel schwenkten hin und her und enthüllten nur mächtige Pfeiler und nackten Boden. Der Camerlengo war nirgends zu sehen.
»Monsignore!«, rief Chartrand mit Furcht in der Stimme. »Warten Sie, Monsignore!«
Eine Bewegung in der Tür hinter ihnen veranlasste alle, sich umzudrehen. Chinita Macris Gestalt schob sich in die Basilika. Sie hatte die Kamera auf der Schulter, und das leuchtend rote Kontrolllicht verriet, dass sie noch immer filmte. Glick rannte
mit einem Mikrofon in der Hand hinter ihr her und rief ihr
unablässig zu, endlich langsamer zu werden.
Langdon traute seinen Augen nicht.
»Hinaus!«, rief Chartrand. »Das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt!«
Macri und Glick achteten gar nicht auf ihn.
»Chinita!« Günther Glicks Stimme klang nun ängstlich. »Das ist Selbstmord! Ich gehe nicht weiter!«
Sie ignorierte seine Warnung und legte einen Schalter auf ihrer Kamera um. Der Scheinwerfer auf dem Gerät flammte auf und blendete alle.
Langdon schirmte seine Augen ab und drehte sich aus dem Licht. Verdammt! Als er wieder hinschaute, war die Kirche in einem Umkreis von dreißig Metern erleuchtet.
In diesem Augenblick hallte die Stimme des Camerlengos aus der Dunkelheit vor ihnen. »Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen!«
Chinita Macri richtete die Kamera auf die Stelle, von der die Stimme gekommen war. Weit voraus, im Halbdunkel jenseits des Kamerascheinwerfers, wallte schwarzer Stoff und enthüllte eine vertraute Gestalt, die durch den Mittelgang der Basilika nach vorn rannte.
Einen flüchtigen Augenblick zögerten alle, während sie das bizarre Bild in sich aufnahmen. Dann brach der Damm. Chartrand schob sich an Langdon vorbei und sprintete hinter dem Camerlengo her. Langdon folgte ihm; dann die anderen Wachen und Vittoria.
Macri bildete den Schluss. Sie erhellte den anderen den Weg, während ihre Kamera die Jagd hinaus in die Welt übertrug. Günther Glick fluchte und trottete hinterdrein, während er einen verängstigten Kommentar ins Mikrofon murmelte.
Der Mittelgang des Petersdoms, so hatte Leutnant Chartrand irgendwann einmal herausgefunden, war länger als ein Fußballfeld. Heute Nacht jedoch wirkte er zwei Mal so lang.
Während der Offizier der Schweizergarde hinter dem Camerlengo herrannte, fragte er sich, was der Geistliche vorhatte. Er stand eindeutig unter Schock und war durch das physische Trauma und den Anblick des grauenhaften Massakers im päpstlichen Amtszimmer in eine Art Delirium gefallen.
Irgendwo weit vorn, jenseits des Lichtkegels der BBC-Kamera, erklang die freudige Stimme des Camerlengos. »Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen!«
Chartrand wusste, dass es ein Zitat aus der Bibel war -Matthäus 16,18, wenn ihn sein Gedächtnis nicht täuschte. Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. Es war eine grausam unpassende Eingebung - die Kirche stand davor, zerstört zu werden. Zweifellos hatte der Camerlengo den Verstand verloren.
Oder doch nicht?
Einen winzigen Augenblick lang schwankte Chartrands Seele. Heilige Visionen und göttliche Botschaften waren ihm stets als Wunschdenken und Täuschung erschienen - das Produkt übereifriger Köpfe, die genau das hörten, was sie hören wollten. Gott mischte sich nicht direkt in die Belange der Menschen ein.
Dann war es, als wäre der Heilige Geist vom Himmel gestiegen, um Chartrand von seiner Macht zu überzeugen. Chartrand hatte eine Vision.
Fünfzig Meter vor ihm, mitten in der Kirche, erschien ein Geist. eine durchscheinende, leuchtende Gestalt. Es war die Silhouette des halb nackten Camerlengos - ein Gespenst, transparent, das von innen heraus zu leuchten schien. Chartrand hielt stolpernd inne, während sich in seiner Brust ein Knoten bildete. Der Camerlengo leuchtet! Sein Körper schien von Sekunde zu Sekunde heller zu werden. Dann begann er zu versinken. tiefer und tiefer, bis er wie durch Zauberei im Schwarz des Kathedralenbodens verschwunden war.
Langdon hatte das Phantom ebenfalls gesehen. Im ersten Augenblick war auch er überzeugt, dass er Zeuge einer
Erscheinung geworden war. Doch als er den wie betäubt dastehenden Chartrand passierte und weiter in Richtung der Stelle rannte, wo der Camerlengo verschwunden war, erkannte er, was sich gerade ereignet hatte. Der Camerlengo war vor der Grube mit dem goldenen Schrein angekommen, der eingelassenen Vertiefung, die von neunundneunzig Tag und Nacht brennenden Öllampen erhellt wurde. Die Lampen hatten ihn von unten herauf angestrahlt und wie einen Geist aussehen lassen. Dann war der Camerlengo die Treppe hinuntergestiegen und scheinbar im Boden verschwunden.
Atemlos erreichte Langdon das Geländer vor der Vertiefung und spähte die Stufen hinunter. Unten am Boden, im goldenen Schein der Öllampen, eilte der Camerlengo durch die ganz mit Marmor ausgekleidete Kammer auf die Glastür zu, hinter der die berühmte goldene Truhe aufbewahrt wurde.
Was hat er vor, fragte sich Langdon. Er ‘wird doch wohl nicht glauben, dass die goldene Truhe...?
Der Camerlengo riss die Tür auf und rannte hindurch. Eigenartigerweise ignorierte er die Truhe völlig und lief achtlos an ihr vorbei. Keine zwei Meter dahinter warf er sich auf die Knie und begann sich mit einem Eisengitter abzumühen, das in den Boden eingelassen war.
Langdon beobachtete ihn und erkannte mit Entsetzen, was der Camerlengo vorhatte. Gütiger Gott, nein! Er rannte die Stufen hinunter zu dem Geistlichen. »Vater, nein! Tun Sie das nicht!«
Als er unten angekommen war und die Glastür öffnen wollte, wuchtete der Camerlengo das Eisengitter hoch. Es quietschte laut in den Angeln; dann kippte es hintenüber und krachte mit ohrenbetäubendem Lärm auf den Boden. Darunter kam ein dunkler Schacht zum Vorschein, und eine steile Treppe führte in ein schwarzes Nichts. Der Camerlengo machte Anstalten, in den Schacht zu klettern, als Langdon heran war und ihn an den nackten Schultern packte. Die Haut des Mannes war nass vor
Schweiß, doch irgendwie gelang es Langdon, ihn festzuhalten.
Der Geistliche wirbelte herum. »Was tun Sie da?«
Langdon war überrascht, als er seinem Blick begegnete. Der Camerlengo besaß nicht mehr die glasigen Augen eines verstörten Mannes, stattdessen zeigten sie Entschlossenheit. Das Brandzeichen auf seiner Brust sah furchtbar aus.
»Vater!«, drängte Langdon so ruhig, wie es ihm nur möglich war. »Sie können nicht dort hinuntersteigen! Wir müssen den Vatikan räumen!«
»Mein Sohn«, entgegnete der Camerlengo mit einer Stimme, die so vernünftig klang, dass es unheimlich war. »Ich hatte. eine Vision. Ich weiß.«
»Camerlengo!«, riefen Chartrand und die anderen. Sie kamen die Treppe herunter.
Als Chartrand das offene Gitter im Boden erblickte, erschien Angst in seinen Augen. Er bekreuzigte sich und warf Langdon einen dankbaren Blick zu, weil es ihm offensichtlich gelungen war, den Camerlengo aufzuhalten. Langdon verstand; er hatte genug über die Architektur des Vatikans gelesen, um zu wissen, was unter diesem Gitter lag: der heiligste Ort der gesamten Christenheit. Terra Santa. Manche nannten es die Nekropole. Andere nannten es Katakomben. Nach den Berichten der wenigen auserwählten Geistlichen, denen im Lauf der Jahre der Zutritt gestattet worden war, bestand die Nekropole aus einem dunklen Labyrinth unterirdischer Krypten, die einen Besucher für immer verschlucken konnten, falls er sich verirrte. Es war ganz und gar nicht der Ort, durch den man einen anderen Menschen jagte.
»Monsignore!«, flehte Chartrand. »Sie haben einen Schock erlitten! Wir müssen diesen Ort verlassen! Sie dürfen nicht dort hinunter! Es wäre Selbstmord!«
Der Camerlengo wirkte mit einem Mal vollkommen ruhig. Er streckte die Hand aus und legte sie auf Chartrands Schulter.
»Danke für Ihre Sorge und Ihre Dienste, mein Sohn. Ich kann Ihnen jetzt nicht mehr erzählen. Ich könnte nicht einmal behaupten, dass ich es selbst verstehe. Aber ich hatte eine Offenbarung. Ich weiß nun, wo die Antimaterie ist.«
Alle starrten ihn sprachlos an.
Der Camerlengo wandte sich an alle. »Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. Das war die Botschaft. Die Bedeutung ist klar.«
Langdon konnte immer noch nicht glauben, dass der Camerlengo überzeugt war, die Stimme Gottes gehört, geschweige denn, die Botschaft verstanden zu haben. Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen? Es waren die Worte, die Jesus zu Petrus gesprochen hatte, als er ihn zu seinem ersten Apostel ernannte. Was hatten sie mit dieser Sache zu tun?
Macri näherte sich, um eine weitere Großaufnahme zu machen. Glick war stumm, als hätte es ihm die Sprache verschlagen.
Der Camerlengo redete hastig weiter. »Die Illuminati haben ihr Zerstörungswerkzeug auf dem Grundstein dieser Kirche versteckt. Tief im Fundament.« Er deutete die steilen Stufen hinab. »Auf dem Felsen, auf dem diese Kirche erbaut wurde. Und ich weiß, wo dieser Felsen ist.«
Langdon war überzeugt, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, den Camerlengo zu überwältigen. So klar er auch wirkte -er redete Unsinn. Ein Felsen? Der Grundstein im Fundament? Die Treppe vor ihnen führte nicht hinunter zum Fundament der Peterskirche, sie führte in die Nekropole! »Dieser Ausspruch ist doch nur eine Metapher, Vater«, hörte er sich sagen. »Es gibt keinen richtigen Felsen!«
Der Camerlengo erwiderte seinen Blick. »O doch, mein Sohn, den gibt es.« Er deutete in den Schacht hinunter. »Pietro e la pietra.«
Langdon erstarrte. In einem einzigen Augenblick wurde alles
sonnenklar.
Die Einfachheit ließ ihm Schauer über den Rücken laufen.
Während Langdon mit den anderen dastand und in das Loch starrte, erkannte er, dass in der ewigen Dunkelheit unter der Peterskirche tatsächlich ein Fels begraben lag.
Pietro e lapietra. Petrus ist der Fels.
Das Vertrauen des heiligen Petrus in Jesus war so grenzenlos gewesen, dass Jesus ihn »seinen Felsen« genannt hatte den unerschütterlichen Apostel, auf dem Jesus seine Kirche errichten wollte. An genau diesem Ort, erkannte Langdon, auf dem vatikanischen Hügel, war Petrus gekreuzigt und begraben worden. Die frühen Christen hatten einen kleinen Schrein über seinem Grab errichtet. Als das Christentum sich ausgebreitet hatte, war der Schrein vergrößert worden, Schicht um Schicht, bis hin zu der gigantischen Basilika. Der gesamte katholische Glaube war wortwörtlich auf den heiligen Petrus gegründet. Den Felsen.
»Die Antimaterie ruht auf seinem Grab«, fuhr der Camerlengo fort. Seine Stimme klang kristallklar.
Trotz der scheinbar übernatürlichen Herkunft dieser Information spürte Langdon die nüchterne Logik darin. Die Antimaterie auf dem Grab des heiligen Petrus zu verstecken, war in diesem Licht betrachtet ein logischer Schachzug der Illuminati. In einem Akt symbolischen Trotzes hatten sie die Antimaterie ins Zentrum der Christenheit gebracht, buchstäblich wie metaphorisch. Die ultimative Infiltration.
»Wenn alles, was Sie brauchen, ein weltlicher Beweis ist«, fuhr der Camerlengo mit wachsender Ungeduld fort, »lassen Sie sich gesagt sein, dass ich dieses Gitter hier unverschlossen vorgefunden habe.« Er deutete auf den schweren runden Eisenrost. »Es ist niemals unverschlossen! Irgendjemand muss dort unten gewesen sein. in aller jüngster Zeit!«
Alle starrten in das Loch.
Einen Augenblick später wirbelte der Camerlengo mit unvermuteter Behändigkeit herum, packte eine Öllampe und stieg in die Dunkelheit hinunter.