Kapitel 105.

Der Nebel erschöpfter Emotionen lichtete sich langsam, als Langdon von dem Toten weg und in tieferes Wasser watete. Völlig verausgabt rechnete er beinahe damit, das Bewusstsein zu verlieren. Dann aber stieg neue Entschlossenheit in ihm auf. Unaufhaltsam. Er spürte, wie seine Muskeln sich verhärteten. Sein Verstand verdrängte den Schmerz n seinem Herzen und ließ ihn an die einzige Aufgabe denken, die jetzt noch zählte.

Finde das Nest der Illuminati. Rette Vittoria.

Er wandte sich zur gewaltigen Skulptur Berninis um und schöpfte neue Hoffnung, während er nach dem letzten Wegweiser suchte, v)n dem er wusste, dass er irgendwo unter dieser Masse ineinander verschlungener Figuren verborgen sein musste. Dann sank seine Hoffnung erneut. Die Worte von Miltons Poem klangen mit einem Mal wie Spott in seinen Ohren.

Let angels guide you on your lofty qiest. Langdon funkelte die Skulptur an. Der Brunnen ist heidnisch! Nirgendwo war ein einziger Engel zu sehen!

Nachdem er seine fruchtlose Suche vervollständigt hatte, schweiften seine Blicke instinktiv an der mächtigen Steinsäule des Obelisken empor. Vier Wegweiser, dachte er, verteilt über ganz Rom in der Form eines riesigen Kreuzes!

Vielleicht enthielt die ägyptische Symbolologie einen versteckten Hinweis. Er untersuchte die Hieroglyphen, die den Obelisken bedeckten, und verwarf den Gedanken wieder. Die Hieroglyphen waren Jahrhunderte älter als Bernini und vor der Entdeckung des Steins von Rosette nicht zu entziffern gewesen. Aber vielleicht hatte Bernini ja ein zusätzliches Symbol in den Obelisken gehauen? Ein Symbol, das unter all den Hieroglyphen

unbemerkt bleiben würde?

Langdon umrundete den Brunnen einmal mehr und studierte alle vier Seiten des Obelisken. Er benötigte zwei Minuten. Als er mit der letzten Seite fertig war, resignierte er. Keine nachträglich hinzugefügten Hieroglyphen. Und ganz gewiss keine Engel.

Er schaute auf die Uhr. Punkt elf. Er konnte nicht sagen, ob die Zeit verflog oder kroch. Bilder von Vittoria und dem Assassinen verfolgten ihn, während er den Brunnen umrundete. Langdon war geschlagen und zu Tode erschöpft. Er warf den Kopf in den Nacken, um sein Leid in die Nacht hinauszuschreien.

Der Schrei blieb ihm im Hals stecken.

Vor ihm ragte der Obelisk in die Nacht. Er hatte das Objekt auf der Spitze bereits früher gesehen, hatte ihm jedoch keine Aufmerksamkeit gewidmet. Jetzt stutzte Langdon. Es war kein Engel. Tatsächlich hatte Langdon es nicht einmal als Teil von Berninis Arbeit wahrgenommen. Er hatte es für ein lebendiges Wesen gehalten, einen der unzähligen Müllvertilger der Stadt, der auf seinem luftigen Aussichtsturm kauerte.

Eine Taube.

Langdon starrte zu ihr hinauf. Die von unten beleuchtete, aufspritzende Gischt des Brunnens behinderte seine Sicht. Es war doch eine Taube, oder nicht? Der Kopf und der Schnabel waren jedenfalls deutlich vor dem nächtlichen Sternenhimmel zu erkennen. Eigenartig nur, dass sich der Vogel seit Langdons Ankunft nicht bewegt zu haben schien, nicht einmal dann, als unter ihm im Wasser der Kampf getobt hatte. Der Vogel saß noch in genau der gleichen Haltung da wie zu dem Zeitpunkt, als Langdon bei der Piazza Navona angekommen war. Hoch oben auf dem Obelisken, den Blick genau nach Westen gerichtet.

Langdon starrte reglos zur Taube hinauf, dann steckte er den

Arm in den Brunnen und packte eine Hand voll Münzen. Er warf sie nach oben. Sie klapperte gegen den Obelisken. Die Taube rührte sich nicht. Langdon versuchte es erneut. Diesmal traf eine der Münzen. Ein schwach metallisches Geräusch hallte über den Platz.

Die Taube war aus Bronze.

Langdon sprang erneut in den Brunnen, um zu der Skulptur zu waten und an dem Gebirge aus Marmor hinaufzuklettern. Er zog sich über riesige Arme und Köpfe höher und höher, bis fast zur Basis des Obelisken. Erst hier hatte er den Dunst und die Gischt des Brunnens hinter sich gelassen und sah den Vogel in aller Deutlichkeit.

Kein Zweifel - es war eine weiße Taube. Die täuschende dunkle Farbe war das Resultat römischen Smogs. Dann traf ihn die Erkenntnis mit voller Wucht. Er hatte schon früher am Tag ein paar weiße Tauben gesehen, beim Pantheon. Ein Paar Tauben besaß keine höhere Bedeutung. Diese Taube hier war allein.

Eine einzelne weiße Taube ist das ursprünglich heidnische Symbol für den Friedensgott oder Friedensengel.

Die Erkenntnis verlieh ihm so viel neue Kraft, dass er den restlichen Weg bis zum Obelisken beinahe flog. Bernini hatte das heidnische Symbol der Taube gewählt, weil er den Engel auf diese Weise in seinem heidnischen Brunnen verbergen konnte. Let angels guide you on your lofty quest. Die Taube ist der Engel! Einen besseren luftigen Horst für den letzten Illuminati-Wegweiser konnte es überhaupt nicht geben!

Der Vogel schaute genau nach Westen. Langdon versuchte, seinem Blick zu folgen, doch die Häuser versperrten die Sicht. Er kletterte höher. Ein Zitat des heiligen Gregorius von Nyssa kam ihm unerwartet ins Gedächtnis: Sobald die Seele erleuchtet wird... nimmt sie die wunderbare Gestalt einer weißen Taube an.

Langdon kletterte himmelwärts, der weißen Taube entgegen. Er erreichte den Sockel, aus dem sich der Obelisk erhob. Höher ging es nicht. Mit einem Blick in die Runde wusste er, dass es auch nicht nötig war. Ganz Rom breitete sich vor ihm aus. Die Aussicht war atemberaubend.

Zu seiner Linken erstrahlte der Petersdom im Licht von Scheinwerfern. Zur Rechten lag die rauchende Kuppel von Santa Maria della Vittoria. Genau vor ihm, in der Ferne, die Piazza del Popolo. Und hinter ihm der vierte und letzte Wegweiser. Ein gigantisches Kreuz aus Obelisken.

Zitternd legte Langdon den Kopf in den Nacken und starrte zur Taube hinauf. Dann drehte er sich in die Richtung, in die das Tier schaute, und senkte die Augen hinunter zum Horizont.

Im gleichen Augenblick wusste er Bescheid.

So offensichtlich. So klar. So unglaublich einfach.

Langdon starrte das Gebäude an und konnte nicht glauben, dass die geheime Kirche der Illuminati so viele Jahre unentdeckt geblieben sein sollte. Die ganze Stadt schien rechts und links zu versinken, während er auf die monströse Steinburg auf der anderen Seite des Flusses starrte. Das Gebäude war eines der berühmtesten von ganz Rom. Es stand am Ufer des Tiber, schräg gegenüber vom Vatikan. Die Geometrie war augenfällig

- ein rundes Schloss in einer quadratischen Festung, und draußen, vor den Wällen, ein Park, der sich um die gesamte Struktur zog und die Form eines Pentagramms besaß.

Die antiken Wehrmauern wurden von Scheinwerfern angestrahlt. Hoch oben auf dem Schloss stand ein gewaltiger Bronzeengel mit einem Schwert, das nach unten zeigte, mitten ins Herz des Bauwerks. Und als wäre das noch nicht genug, führte nur ein einziger Weg direkt in die Festung hinein - die berühmte Ponte Sant’Angelo, die Engelsbrücke. ein dramatischer Annäherungsweg, gesäumt von zwölf hoch aufragenden Engeln, die niemand anders als Bernini persönlich geschaffen hatte. Mit einer letzten, atemberaubenden Einsicht erkannte Langdon, dass Berninis stadtweites Kreuz aus Obelisken die Festung in perfekter Illuminati-Manier markierte

- der Längsarm des Kreuzes ging mitten durch die Brücke hindurch und teilte sie in zwei gleiche Hälften.

Langdon kletterte wieder nach unten und rannte über die Piazza, um seine Jacke zu holen. Er hielt sie weit von sich, damit sie nicht nass wurde. Dann sprang er in den geraubten Wagen und jagte in die Nacht davon.

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