Camerlengo Carlo Ventresca stand im Mittelgang der Sixtinischen Kapelle. Die Kardinale standen in den vordersten Reihen und starrten ihn an. Langdon stand oben beim Altar, neben ihm ein Fernsehgerät, auf dem eine Szene sich endlos wiederholte - eine Szene, an die sich der Camerlengo dunkel erinnerte, auch wenn er sich nicht erklären konnte, wie sie auf den Bildschirm kam. Vittoria Vetra stand neben Langdon und schaute unverwandt zu Boden.
Der Camerlengo schloss für einen Moment die Augen in der Hoffnung, dass er unter dem Einfluss des Morphiums halluzinierte und die Szene sich verändert hätte, wenn er die Augen wieder aufschlug. Doch so war es nicht.
Sie wussten Bescheid.
Merkwürdigerweise spürte der Camerlengo keine Furcht. Zeig mir den Weg, Vater. Gib mir die Worte, damit ich ihnen zeigen kann, was Du mir gezeigt hast.
Doch Gott antwortete nicht.
Vater, wir sind so weit gekommen, lass es nicht so enden!
Stille.
Sie verstehen nicht, was wir getan haben, Vater.
Der Camerlengo wusste nicht, welche Stimme nun in seinem Kopf erklang, doch die Botschaft war deutlich.
Die Wahrheit wird dich erlösen...
Und so geschah es, dass der Camerlengo Carlo Ventresca mit hoch erhobenem Haupt zum Altar der Sixtinischen Kapelle trat. Nicht einmal das Kerzenlicht konnte die steinernen Blicke erweichen, mit denen die Kardinale ihn musterten. Erkläre dich, sagten ihre Blicke. Bring einen Sinn in diesen Wahnsinn. Sag
uns, dass unsere Ängste unbegründet sind!
Die Wahrheit, sagte der Camerlengo zu sich selbst. Nichts als die Wahrheit. Diese Wände enthielten schon zu viele Geheimnisse. und eines davon war so dunkel, dass es ihn in den Wahnsinn getrieben hatte. Doch aus dem Wahnsinn kam das Licht!
»Wenn Sie Ihre Seele geben könnten, um Millionen zu retten«, begann der Camerlengo, während er zum Altar schritt, »würden Sie es tun?«
Die Gesichter in der Kapelle starrten ihn an. Niemand regte sich. Niemand sagte ein Wort. Draußen auf dem Platz war noch immer das freudige Singen der Menschen zu hören.
Der Camerlengo trat auf die Kardinale zu. »Welche Sünde ist größer? Den Feind zu töten oder untätig dabeizustehen, wenn die eine große Liebe erstickt wird.?« Sie singen auf dem Petersplatz! Der Camerlengo hielt inne und richtete den Blick nach oben, zur Decke der Sixtinischen Kapelle. Michelangelos Gott erwiderte seinen Blick aus dem dunklen Gewölbe - und es sah aus, als wäre Er zufrieden.
»Ich konnte nicht länger untätig dabeistehen«, sagte der Camerlengo. Er näherte sich noch weiter, sah jedoch keinen Funken von Verständnis in ihren Augen. Erkannten sie denn nicht die strahlende Reinheit seiner Taten? Erkannten sie denn nicht, wie notwendig sie gewesen waren?
Es war so einfach gewesen.
Die Illuminati. Wissenschaft und Satan in einer Person.
Erwecke die alte Furcht zu neuem Leben. Und dann vernichte sie.
Grauen und Hoffnung. Bring sie dazu, wieder zu glauben.
Heute Nacht hatten die Menschen die Macht der Illuminati zu spüren bekommen. und mit welch glorreicher Konsequenz! Die Apathie war wie weggewischt. Furcht hatte die Welt umrundet wie ein Blitz und die Menschen vereint. Und Gottes Herrlichkeit hatte die Dunkelheit ausgelöscht.
Ich konnte nicht untätig dabeistehen!
Die Inspiration war Gottes Werk gewesen - für den Camerlengo ein Leuchtfeuer in der Nacht des tiefsten Schmerzes. Oh, welch eine gottlose Welt! Jemand muss sie erlösen! Du. Wenn nicht du, wer dann? Du bist aus einem bestimmten Grund errettet worden. Zeig ihnen die alten Dämonen. Erinnere sie an ihre Furcht. Apathie bedeutet Tod. Ohne Dunkelheit gibt es kein Licht, und ohne das Böse nichts Gutes. Bring sie dazu, dass sie wählen. Licht oder Dunkel. Wo ist die Furcht, wo sind die Helden? Wenn nicht jetzt, wann denn?
Der Camerlengo ging auf die wartenden Kardinale zu. Er fühlte sich wie Moses, als das Meer roter Binden und Kappen sich vor ihm teilte. Oben beim Altar schaltete Robert Langdon den Fernseher aus, nahm Vittorias Hand und verließ den Altar. Dass Robert Langdon überlebt hatte, konnte nur Gottes Wille gewesen sein. Gott selbst hatte Langdon gerettet.
Aus welchem Grund, fragte sich der Camerlengo.
Die Stimme, die nun die Stille durchbrach, gehörte der einzigen Frau in der Sixtinischen Kapelle. »Sie haben meinen Vater ermordet?«, fragte sie und trat vor.
Der Camerlengo wandte sich zu Vittoria Vetra um. Er konnte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht recht deuten -Schmerz, ja, aber Wut? Sie musste doch verstehen, was ihn bewegt hatte. Das Genie ihres Vaters war tödlich. Er musste aufgehalten werden. Um der Menschheit willen.
»Er hat für Gott gearbeitet«, sagte Vittoria.
»Für Gott arbeitet man nicht in einem Labor, sondern mit dem Herzen.«
»Das Herz meines Vaters war rein! Und seine Forschungen
haben bewiesen.«
»Seine Forschungen haben wieder einmal bewiesen, dass das Wissen der Menschen schneller wächst, als ihre Seelen es verkraften!« Die Worte klangen schärfer, als der Camerlengo beabsichtigt hatte. Er senkte die Stimme. »Wenn ein Mann, der so gläubig war wie Ihr Vater, eine Waffe schaffen konnte, wie wir sie heute Nacht gesehen haben - was wird erst ein gewöhnlicher Mensch mit einer solchen Technologie anfangen?«
»Ein Mensch wie Sie?«
Der Camerlengo atmete tief durch. Verstand sie denn nicht? Die Moral der Menschen schritt längst nicht so rasch fort wie ihre Wissenschaft. Die Menschheit war geistig nicht reif genug, um die Macht zu beherrschen, über die sie schon heute verfügte. Wir haben noch nie eine Waffe erschaffen, die wir nicht auch benutzt hätten. Auch die Antimaterie war nur eine weitere Waffe in den bereits übervollen Arsenalen. Die Menschheit wusste längst, wie man zerstörte. Sie hatte das Töten vor langer, langer Zeit gelernt. Einmal mehr war der Camerlengo ein kleiner Junge, und das Blut seiner Mutter regnete auf ihn herab. Leonardo Vetras Genius war noch aus einem weiteren Grund gefährlich gewesen.
»Jahrhundertelang«, sagte der Camerlengo, »hat die Kirche zurückgesteckt, während die Wissenschaft Stück für Stück die Religion zerpflückte. Sie hat Wunder enträtselt und den Verstand dazu ausgebildet, das Herz zu überstimmen. Sie hat die Religion als Opium für das Volk verdammt und Gott als Halluzination - eine Krücke aus Illusionen für diejenigen, die zu schwach waren, um die Bedeutungslosigkeit des Lebens zu akzeptieren. Ich konnte nicht tatenlos mit ansehen, wie die Wissenschaft vorgab, die Macht Gottes zu zähmen! Beweise, sagen Sie? Ja, aber Beweise für die Ignoranz der Wissenschaft! Was ist falsch daran zuzugeben, dass etwas außerhalb unseres Verstandes existiert? Der Tag, an dem die Wissenschaft Gott in einem ihrer Laboratorien erstehen lässt, ist der Tag, an dem die Menschen keine Religion mehr brauchen!«
»Sie meinen, es ist der Tag, an dem sie keine Kirche mehr brauchen«, entgegnete Vittoria herausfordernd, während sie sich auf ihn zu bewegte. »Zweifel ist das letzte bisschen Kontrolle, das Sie über die Menschen haben. Der Zweifel ist es, der die Seelen zu Ihnen in die Kirche bringt. Unser Wunsch zu wissen, dass unser Leben eine Bedeutung hat. Die Unsicherheit der Menschen und ihre Sehnsucht nach jemandem, der ihnen versichert, dass alles rings um sie herum Teil eines großartigen Plans ist. Aber die Kirche ist nicht die einzige erleuchtete Macht auf diesem Planeten. Wir alle suchen nach Gott, wenn auch auf verschiedenen Wegen. Wovor fürchten Sie sich so sehr? Dass Gott sich an einem anderen Ort als hinter diesen Mauern hier zeigen könnte? Dass die Menschen ihn auf ihre Weise finden und Ihre antiquierten Rituale hinter sich lassen könnten? Religionen entwickeln sich. Der Verstand findet Antworten, und in den Herzen reifen neue Wahrheiten! Mein Vater hat in Ihre
Hände gearbeitet! Warum wollten Sie das nicht einsehen? Gott ist nicht irgendeine allmächtige Autorität, die uns Menschen von oben beobachtet und uns in ein feuriges Loch wirft, wenn wir ungehorsam sind. Gott ist die Energie, die durch die Synapsen unserer Nervensysteme und die Kammern unserer Herzen fließt! Gott ist alles rings um uns!«
»Bis auf die Wissenschaft«, entgegnete der Camerlengo, und in seinen Augen lag Mitleid. »Die Wissenschaft ist per Definition seelenlos. Ohne Verbindung zum Herzen. Intellektuelle Wunder wie die Antimaterie erscheinen auf dieser Welt ohne jegliche ethische Instruktionen zu dem Umgang mit ihnen. Das für sich allein genommen ist eine Sünde! Doch wenn die Wissenschaft ihre gottlosen Wege als den Pfad der Erleuchtung darstellt, was dann? Wenn sie Antworten auf Fragen verspricht, deren Schönheit gerade darin besteht, dass es keine Antworten gibt?« Er schüttelte den Kopf. »Nein.«
Einen Augenblick herrschte Stille. Der Camerlengo fühlte sich plötzlich müde, während er nach außen hin Vittorias unbeugsamen Blick erwiderte. Das war nicht so, wie es hätte sein sollen. Ist das Gottes letzte Prüfung?
Mortati war es schließlich, der den Bann brach. Il preferiti«, sagte er mit Entsetzen in der Stimme. »Baggia und die drei anderen. Bitte sagen Sie mir, dass nicht Sie es waren, der.«
Der Camerlengo wandte sich zu dem alten Kardinal, überrascht vom Schmerz n seiner Stimme. Mortati musste es doch verstehen. Die Schlagzeilen berichteten täglich von neuen Wundern der Wissenschaft. Wie lange war es her, dass es eine Schlagzeile über die Religion gegeben hatte? Jahrhunderte? Die Religion brauchte ein Wunder. Etwas, das geeignet war, die Welt aus ihrem Dornröschenschlaf zu reißen. Etwas, das die Menschen wieder auf den Pfad des Gottesglaubens zurückführte. Das den Glauben an Gott wieder erstarken ließ. Die preferiti waren keine Führer, sie waren Reformer. Liberale, die sich darauf eingelassen hätten, die neue Welt zu umarmen und die alte aufzugeben! Das war der einzig mögliche Weg. Ein neuer Mann an der Spitze, jung, machtvoll, lebendig, wunderbar. Die toten preferiti dienten der Kirche weit mehr, als es die lebenden jemals vermocht hätten. Grauen und Hoffnung. Opfere vier Seelen, um Millionen zu retten! Die Welt würde sie als Märtyrer in Erinnerung behalten. Die Kirche würde ihre Namen in ewigem Andenken bewahren. Wie viele Tausende sind zum Ruhme des Herrn gestorben* Die preferiti waren nur vier.
»Ilpreferiti«, wiederholte der alte Kardinal.
»Ich habe die gleichen Schmerzen erlitten wie sie«, verteidigte sich der Camerlengo und deutete auf seine Brust. »Und auch ich würde für Gott sterben, doch meine Arbeit hat gerade erst begonnen. Die Menschen auf dem Petersplatz singen!«
Der Camerlengo bemerkte das Entsetzen in den Augen Mortatis und spürte erneut Verwirrung. Lag es am Morphium? Mortati starrte ihn an, als hätte der Camerlengo die vier Kardinale mit bloßen Händen getötet. Selbst das hätte ich für Gott getan, dachte der Camerlengo, und doch war er es nicht gewesen. Die Taten waren vom Hashishin begangen worden, einer heidnischen Seele, die der Camerlengo mit List zu dem Irrglauben verleitet hatte, er arbeite für die Illuminati. Ich bin Janus, hatte der Camerlengo zu ihm gesagt. Ich werde meine Macht beweisen. Und das hatte er getan. Der Hass des Hashishin hatte ihn zu einem Bauern im göttlichen Schachspiel gemacht.
»Lauschen Sie den Gesängen«, sagte der Camerlengo lächelnd, während sein Herz frohlockte. »Nichts vereint die Menschen mehr als die Gegenwart des Bösen. Verbrennen Sie eine Kirche, und die Gemeinde erhebt sich, hält sich bei den Händen und singt Hymnen des Trotzes, während sie die Ruinen räumt und die Kirche wieder aufbaut. Sehen Sie nur, wie die Menschen sich heute Nacht zusammenscharen! Die Furcht hat sie zurück in den Schoß der Kirche getrieben. Moderne Dämonen für moderne Menschen, das ist das ganze Geheimnis. Die Apathie ist fort! Zeigen Sie den Menschen das Gesicht des Bösen, die Satansanbeter, die überall unter uns lauern, die unsere Regierungen, unsere Schulen, unsere Banken leiten und mit ihrer fehlgeleiteten Wissenschaft selbst vor dem Haus Gottes nicht Halt machen! Die Verderbtheit reicht tief. Die Menschen müssen auf der Hut sein. Sie müssen das Gute suchen und zum Guten werden!«
Der Camerlengo hoffte, dass sie nun endlich verstehen würden. Die Illuminati waren nicht wieder aufgetaucht. Nur ihr Mythos war noch lebendig. Der Camerlengo hatte die Illuminati als Mahnung ausgewählt und sie wiederauferstehen lassen. Wer ihre Geschichte kannte, durchlebte das Übel der geheimen Bruderschaft noch einmal. Wer sie nicht kannte, hatte davon erfahren und war erstaunt, wie blind sie gewesen waren. Die alten Dämonen waren nur aus einem Grund zurückgekehrt - um eine gleichgültige Welt wachzurütteln.
»Aber. die Brandzeichen?« Mortatis Stimme klang mühsam beherrscht vor Zorn.
Der Camerlengo antwortete nicht. Mortati konnte es nicht wissen, doch die Brandzeichen waren vor mehr als einem Jahrhundert vom Vatikan konfisziert worden. Sie waren weggesperrt, vergessen und staubbedeckt, im päpstlichen Gewölbe dem privaten Reliquienschrein des Papstes, tief unter dem Borgiapalast. Das päpstliche Gewölbe enthielt all jene Dinge, von denen die Kirche meinte, sie wären zu gefährlich für jedermann außer dem Papst.
Warum haben sie versteckt, was die Menschen mit Furcht erfüllte? Furcht brachte die Menschen schon immer zu Gott.
Der Schlüssel zum Gewölbe wurde von Papst zu Papst weitergegeben. Camerlengo Carlo Ventresca hatte sich den Schlüssel angeeignet und war in das Gewölbe geschlichen; der Mythos über die Dinge, die darin aufbewahrt wurden, war unwiderstehlich gewesen: Das ursprüngliche Manuskript der vierzehn unveröffentlichten Bücher der Bibel, die als die Apokryphen bekannt waren, die dritte Prophezeiung der Fatima die beiden ersten waren Wirklichkeit geworden, und die dritte war so furchtbar, dass die Kirche sie niemals veröffentlichen würde. Außerdem hatte der Camerlengo die Illuminati-Sammlung entdeckt, all die Geheimnisse, die die Kirche nach der Verbannung der Illuminati aus Rom entdeckt hatte. ihren niederträchtigen Pfad der Erleuchtung. die kühne Täuschung, mit der sie den führenden vatikanischen Künstler, Bernini, dazu gebracht hatten, ihnen in die Hände zu arbeiten. die führenden europäischen Wissenschaftler, die sich über die Religion lustig gemacht hatten, indem sie ausgerechnet das Castel Sant’ Angelo als Versammlungsort für ihre Geheimtreffen auswählten. Die Sammlung enthielt überdies eine fünfeckige Schatulle mit eisernen Brandzeichen, eines davon der geheimnisumwitterte Diamant der Illuminati. Dies war ein Teil der vatikanischen Geschichte, von dem die Alten meinten, dass er besser in Vergessenheit geriete. Der Camerlengo jedoch war anderer Meinung gewesen.
»Die Antimaterie.«, sagte Vittoria. »Sie haben die Zerstörung des Vatikans riskiert!«
»Es gibt kein Risiko, wenn Gott an Ihrer Seite steht«, entgegnete der Camerlengo. »Dies war sein Kampf.«
»Sie sind verrückt!«, rief Vittoria.
»Ich habe Millionen gerettet!«
»Menschen wurden getötet!«
»Seelen wurden gerettet.«
»Sagen Sie das meinem Vater und Maximilian Kohler!«
»Die Arroganz von CERN musste der Öffentlichkeit vor Augen geführt werden. Ein Tropfen von einer Flüssigkeit, der einen halben Quadratkilometer verdampfen kann? Und Sie nennen mich verrückt?« Der Camerlengo spürte, wie Zorn in ihm aufstieg. Glaubten sie vielleicht, das hier sei eine schlichte Anklage? »Wer glaubt, unterzieht sich einer großen Prüfung für Gott! Gott hat von Abraham verlangt, seinen Sohn zu opfern! Gott hat von Jesus verlangt, die Kreuzigung zu ertragen! Das ist der Grund, weshalb das Kruzifix vor unser aller Augen hängt, blutig und mahnend - um uns an die Macht des Bösen zu erinnern! Damit unsere Herzen wachsam bleiben!
Die Narben auf dem Leichnam Jesu sind eine lebendige Erinnerung an die Mächte der Dunkelheit. Auch meine Narben sind eine lebendige Erinnerung! Das Böse lebt, doch Gottes Macht wird es besiegen!«
Seine Schreie hallten von den Wänden der Sixtinischen Kapelle wider; dann trat erneut tiefe Stille ein. Die Zeit schien stehen zu bleiben. Hinter ihnen war Michelangelos Jüngstes
Gericht mit Jesus, der die Sünder in die Hölle verbannte. In Mortatis Augen brannten Tränen.
»Was haben Sie getan, Carlo?«, fragte er so leise, dass es kaum zu hören war. Er schloss die Augen, und eine Träne rollte über seine Wange. »Seine Heiligkeit?«
Ein Seufzer ging durch das Kollegium. Jeder im Raum hatte es bis zu diesem Augenblick vergessen. Der Papst. Vergiftet.
»Ein schändlicher Lügner!«, sagte der Camerlengo.
Mortati schaute ihn an, als wäre seine Welt in Trümmer gefallen. »Was meinen Sie damit? Er war ehrenhaft! Er. er hat Sie geliebt!«
»Und ich ihn.« Oh, und wie ich ihn geliebt habe! Aber dieser schändliche Verrat! Die gebrochenen Eide gegenüber Gott!
Der Camerlengo wusste, dass sie ihn jetzt noch nicht verstehen konnten, doch das würde noch kommen. Wenn er es ihnen erzählt hatte, würden sie es sehen! Seine Heiligkeit war der niederträchtigste Lügner, den die Kirche je erlebt hatte! Der Camerlengo erinnerte sich noch immer an jene schreckliche Nacht. Er war von seiner Reise in die Schweiz zurückgekommen, mit der Nachricht von Leonardo Vetras Genesis und der grauenhaften Macht der Antimaterie. Der Camerlengo war sicher, der Papst würde die Gefahren erkennen, doch er hatte nur Hoffnung in Vetras Durchbruch gesehen. Er hatte sogar vorgeschlagen, dass der Vatikan die Arbeiten Vetras finanziell unterstützen sollte - als Geste des guten Willens gegenüber der wissenschaftlichen Forschung.
Wahnsinn! Die Kirche investierte in eine Forschung, die möglicherweise dazu führte, dass die Kirche selbst obsolet wurde? In eine Arbeit, die Massenvernichtungswaffen hervorbrachte? Die Bombe, die Carlos Mutter getötet hatte...
»Aber. das können Sie nicht!«, hatte der Camerlengo gerufen.
»Ich bin der Wissenschaft etwas schuldig«, hatte der Papst geantwortet. »Etwas, das ich mein Leben lang verschwiegen habe. Die Wissenschaft hat mir ein Geschenk gemacht, als ich ein junger Mann war. Ein Geschenk, das ich niemals vergessen habe.«
»Ich verstehe nicht. Was hat die Wissenschaft einem Mann Gottes zu bieten?«
»Es ist eine komplizierte Geschichte«, hatte der Papst geantwortet. »Es braucht Zeit, sie zu erklären. Aber zuerst musst du etwas über mich wissen, das ich dir all die Jahre verschwiegen habe. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass du es erfährst.«
Und dann hatte der Papst dem Camerlengo die unfassbare Wahrheit erzählt.